OLG Hamburg, Beschluss vom 16.02.2016 - 3 Ws 11 - 12/16
Fundstelle
openJur 2016, 9466
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Beschwerden der Staatsanwaltschaft Hamburg werden die Beschlüsse des Vorsitzenden der Großen Strafkammer 8 des Landgerichts Hamburg vom 1. Februar 2016 – in der Fassung des Beschlusses vom 2. Februar 2016 – und vom 4. Februar 2016 aufgehoben.

2. Die aufgrund der Beschlüsse des Vorsitzenden vom 1. und 4. Februar 2016 an die Verteidiger der Angeklagten O. und K. herausgegebenen DVDs sind an die Große Strafkammer 8 des Landgerichts Hamburg zurückzugeben.

Gründe

I.

1. Gegen die Angeklagten O., K., B. R, und M. R. findet aufgrund der zugelassenen Anklagen vom 27. März 2015 und 24. Mai 2015 seit dem 13. Juli 2015 die Hauptverhandlung vor der Großen Strafkammer 8 des Landgerichts Hamburg statt. Den Angeklagten wird vorgeworfen, sich in mehreren Fällen der Steuerhinterziehung im besonders schweren Fall bzw. der Beihilfe dazu strafbar gemacht zu haben.

2. In dem zugrundeliegenden Ermittlungsverfahren waren zwischen dem 30. Juli 2014 und dem 29. Oktober 2014 umfangreiche Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen diverserer Anschlüsse durchgeführt worden. Lediglich die aus Sicht der Steuerfahndung beweisrelevanten Telefonate pp. wurden – ggf. nach Übersetzung – verschriftet bzw. ausgedruckt und in 14 Sonderbände übernommen.

3. Mit der Anklageerhebung vom 27. März 2015 wurden die Akten, einschließlich aller verschrifteten aufgezeichneten Telefongespräche, an das Gericht übersandt. Die (damaligen) Verteidiger wurden mit jeweiliger Anklageerhebung gesondert darauf hingewiesen, dass das Recht auf Akteneinsicht nunmehr unbeschränkt besteht. Am 12. Mai 2015 stellte die Steuerfahndung dem Landgericht sämtliche aufgezeichneten Telefonate auf einem Datenträger zur Verfügung.

4. Im Rahmen der Hauptverhandlung wurde wiederholt die Problematik einer Aushändigung von Datenträgern mit aufgezeichneten Telefonaten thematisiert.

Am 1. Februar 2016 beantragte Rechtanwalt ..., der Verteidigung des Angeklagten O. sämtliche in diesem Verfahren mitgeschnittenen Telefonate in Form von Audiodateien zur Verfügung zu stellen. Mit Beschluss vom selben Tag gewährte der Kammervorsitzende der Verteidigung des Angeklagten O. ergänzende Akteneinsicht bezüglich aller mitgeschnittenen Audiodateien durch Herausgabe einer entsprechenden anzufertigenden DVD. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft am 1. Februar 2016 Beschwerde eingelegt. Der Kammervorsitzende hat daraufhin seinen Beschluss dahingehend geändert, dass die Verteidigung vor der Herausgabe der DVD eine im Einzelnen ausformulierte „Verpflichtungserklärung“ zu unterzeichnen habe. Im Übrigen hat der Vorsitzende der Beschwerde nicht abgeholfen.

Am 4. Februar 2016 (49. Hauptverhandlungstag) beantragten die Verteidiger des Angeklagten K., der Verteidigung des Angeklagten K. sämtliche in diesem Verfahren mitgeschnittenen Telefonate in Form von Audiodateien zur Verfügung zu stellen. Dies bewilligte der Vorsitzende mit Beschluss vom 4. Februar 2016 wiederum durch Herausgabe einer DVD nach Unterzeichnung einer entsprechenden „Verpflichtungserklärung“ Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 4. Februar 2016, der der Kammervorsitzende nicht abgeholfen hat.

In Vollziehung der Beschlüsse des Kammervorsitzenden haben einige Verteidiger der Angeklagten O. und K. entsprechende DVD erhalten, anderen ist eine entsprechende DVD angeboten worden.

Die Generalstaatsanwaltschaft ist den Beschwerden der Staatsanwaltschaft beigetreten. Der Verteidiger des Angeklagten O. hat zu den Beschwerden der Staatsanwaltschaften mit Schriftsatz vom 15. Februar 2016 Stellung genommen. Die übrigen Verteidiger hatten Gelegenheit dazu.

II.

Die zulässigen (vgl. dazu OLG Celle, Beschl. v. 24.07.2015, 2 Ws 116/15 – zitiert nach „juris“; OLG Nürnberg, wistra 2015, 246) Beschwerden der Staatsanwaltschaft sind begründet.

Die Beschwerden der Staatsanwaltschaft richten sich allein gegen die vom Vorsitzenden angeordnete Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts. Dass die Verteidigung ein umfassendes Akteneinsichtsrecht hat und dies ihr umfassend – und zwar auch hinsichtlich der bei den Akten befindlichen gesamten Telekommunikationsdaten – zu gewähren ist, wird von der Staatsanwaltschaft nicht in Zweifel gezogen. Es geht allein um die Frage, an welchem Ort und in welcher Art die Akteneinsicht bzw. die Besichtigung von Beweismitteln zu gewähren ist.

Dies vorausgeschickt hat der Kammervorsitzende hier zu Unrecht die Herausgabe von DVDs mit sämtlichen Audiodateien an die Verteidiger der Angeklagten O. und K. angeordnet. Die Verteidiger haben keinen diesbezüglichen Anspruch. Nach § 147 StPO ist ihnen – grundsätzlich – nur die Möglichkeit einzuräumen, sämtliche Audiodateien aus Telefonüberwachung auf der Geschäftsstelle des Landgerichts – ggf. in einem gesonderten Raum – oder auch beim Finanzamt für Prüfungsdienste und Strafsachen in Hamburg anzuhören (vgl. dazu BGH NStZ 2014, 347; HansOLG Hamburg, Beschl. v. 22.12.2015 – 1 Ws 175/15; OLG Celle, Beschl. v. 24.07.2015 – 2 Ws 116/15, zitiert nach „juris“; OLG Nürnberg, wistra 2015, 246; OLG Frankfurt, Beschl. v. 13.09.2013 – 3 Ws 897/13 – zitiert nach „juris“; OLG Karlsruhe, NStZ 2012, 590). Besondere Gründe, die ausnahmsweise die Überlassung sämtlicher Audiodateien rechtfertigen können, sind vorliegend nicht gegeben.

1. Der Senat kann offenlassen, ob es sich bei Datenträgern mit aufgezeichneten Telefonaten um Augenscheinsobjekte – die als Beweisstücke nach § 147 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 147 Abs. 1 StPO grundsätzlich nur am Ort ihrer amtlichen Verwahrung besichtigt bzw. bei Tonaufzeichnungen angehört werden können - oder um Aktenbestandteile handelt, für die nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO der Verteidiger einen Antrag auf Mitnahme in seine Geschäftsräume oder in seine Wohnung stellen kann. Denn unabhängig von der rechtlichen Einordnung stehen einer solchen Überlassung grundsätzlich die Persönlichkeits- und Datenschutzrechte der von der überwachten und aufgezeichneten Kommunikation betroffenen unbeteiligten Gesprächsteilnehmer entgegen. Die Grundrechte der Drittbetroffenen auf vertrauliche Information und auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 10 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sind gewichtige Gründe im Sinne des § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO, die grundsätzlich dem Interesse eines Verteidigers an der Herausgabe der gesamten aufgezeichneten Telefonate vorgehen. Dies gilt auch für die Überlassung von entsprechenden Kopien.

Bei der Telekommunikationsüberwachung werden sämtliche Gespräche ohne Differenzierung nach den Gesprächspartnern oder den Inhalten der Gespräche aufgezeichnet und anschließend ausgewertet. Damit werden in aller Regel von der Telefonüberwachung auch Gespräche mit oder zwischen Personen erfasst, die offensichtlich in keiner Weise mit der aufzuklärenden Tat in Verbindung stehen. Da bei der Telekommunikationsüberwachung keine mit vertretbarem Aufwand realisierbare Möglichkeit besteht, den erforderlichen Grundrechtsschutz für von der Maßnahme betroffene Dritte schon im Rahmen der Aufzeichnungen der Gespräche zu wahren, und da der Grundrechtseingriff nicht nur in der Aufzeichnung und dem anschließenden Abhören der Gespräche besteht, sondern sich durch die Speicherung, Verwendung und Weitergabe der gewonnenen Informationen fortsetzt und vertieft (BVerfG NJW 2004, 999, 1005), muss im Verlauf des weiteren Verfahrens darauf geachtet werden, dass der bestehende Grundrechtseingriff nicht weiter als unbedingt erforderlich vertieft wird (OLG Karlsruhe NStZ 2012, 590; OLG Celle a.a.O.). Durch die Fertigung und Aushändigung von Kopien der vollständigen Telekommunikationsaufzeichnungen an den jeweiligen Verteidiger wird nicht nur der Eingriff in Persönlichkeits- und Datenschutzinteressen unbeteiligter Dritter vertieft, sondern auch die Einhaltung der die Sicherung der Angemessenheit des Grundrechtseingriffs dienenden Vorschriften, insbesondere hinsichtlich der Löschung der aufgezeichneten Gespräche (vgl. § 101 Abs. 8 StPO) erschwert (OLG Karlsruhe a.a.O.).

Die von dem Kammervorsitzenden in seinem Ergänzungsbeschluss vom 2. Februar 2016 und im Beschluss vom 4. Februar 2016 geforderte „Verpflichtungserklärung“ ist – auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Verteidiger Organe der Rechtspflege sind – nicht hinreichend geeignet, eine Vertiefung der Eingriffe in die Persönlichkeit- und Datenschutzinteressen der unbeteiligten Dritten gänzlich auszuschließen und die staatliche Löschungspflicht gemäß § 101 Abs. 8 StPO genügend abzusichern (vgl. OLG Celle; OLG Nürnberg; OLG Karlsruhe jeweils a.a.O.).

2. Besondere Umstände, nach denen eine Besichtigung der Telekommunikationsdaten nicht ausreichend und den Verteidigern aus Gründen des fairen Verfahrens, der Verfahrensbeschleunigung oder Verfahrensvereinfachung ausnahmsweise eine Kopie der Audioaufzeichnungen zu erstellen und mitzugeben ist, liegen hier nach der insoweit gebotene Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen nicht vor.

Es ist nicht erkennbar, dass die Verteidigung der Angeklagten O. und K. nicht in zumutbarer Weise in der Lage gewesen wären, die Gesprächsaufzeichnungen bereits anzuhören. Die Verteidigung hat nach Aktenlage aufgrund von ihr zu vertretender Umstände die Möglichkeiten zur Besichtigung der Telekommunikationsdaten nicht ausreichend ausgeschöpft. Es gehört zu den prozessuale Obliegenheiten eines Verteidigers, sich um die Erlangung der benötigten Informationen innerhalb einer angemessenen Frist zu bemühen (BGH, NStZ 2014, 347 m.w.N., vgl. auch OLG Celle und OLG Karlsruhe a.a.O.). Insofern ist die Verteidigung gehalten, „durchgehend“ von den ihr eröffneten Möglichkeiten zur Akteneinsicht bzw. zur Besichtigung von Beweismitteln Gebrauch zu machen (BGH a.a.O.). Diese Obliegenheit haben die Verteidiger der Angeklagten O. und K. nicht vollständig erfüllt.

Aus der der Verteidigung jeweils seit Anklageerhebung uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Verfahrensakte ergibt sich vorliegend, dass von der Steuerfahndung aus den umfangreichen TKÜ-Maßnahmen, wie üblich, nur die – aus Sicht der Steuerfahndung und der Staatsanwaltschaft – beweisrelevanten Gespräche verschriftet und in die Sonderbände TKÜ aufgenommen wurden. Gleichwohl haben die Verteidiger der Angeklagten O. und K. – auch noch nach Beginn der Hauptverhandlung – über Monate keinen Versuch unternommen, die nicht protokollierten Gespräche, die sich seit dem 12. Mai 2015 auf einem Datenträger beim Landgericht befinden, ggf. mit Hilfe eines Dolmetschers anzuhören. Dies hätte sich hier umso mehr aufgedrängt, da – nach dem unstreitigen Vortrag der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung – die Problematik einer Einsichtnahme im Rahmen der seit dem 13. Juli 2015 andauernden Hauptverhandlung mehrfach thematisiert wurde.

Der Senat geht ferner davon aus, dass den jeweiligen Verteidigern die Möglichkeit eröffnet wird, die Audiodateien in einem separaten Raum allein in Gegenwart eines Dolmetschers und des von ihnen verteidigten Angeklagten (vgl. dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl., § 147 Rn. 19a, m.w.N.) abzuhören, um so direkt im Zusammenhang mit dem Abspielen von Dateien Fragen der Verteidigungsstrategie erörtern zu können.

Dass ein derartig zu gewährleistendes Besichtigungsrecht nicht ausreichend ist und die Verteidigungsinteressen nur durch die Überlassung von Datenträgern gewahrt wären, vermag der Senat im Ergebnis nicht zu erkennen. Der zusätzliche Zeitaufwand, der dadurch entsteht, dass die Verteidiger ggf. mit einem Dolmetscher und dem jeweiligen Angeklagten für eine Inaugenscheinnahme der abgehörten und mitgeschnittenen Telefongespräche auf die Geschäftsstelle der Kammer gehen müssen, stellt sich nicht als unzumutbar dar und ist angesichts der Bedeutung der Sache und der Beachtung der zu schützenden Grundrechte der abgehörten Drittbetroffenen nicht unverhältnismäßig.

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.