OLG Hamburg, Beschluss vom 21.11.2005 - 1 Ws 212/05
Fundstelle
openJur 2011, 14117
  • Rkr:

Ein Unionsbürger, der vor Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU bestandskräftig gemäß den §§ 45, 46 AuslG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden war, macht sich im Falle seiner erneuten Einreise in das Bundesgebiet weder nach § 95 Abs. 2 Nr. 1a, 1b AufenthG noch nach § 9 FreizügG/EU strafbar. Die insoweit bestehende Strafbarkeitslücke kann durch eine analoge Anwendung einer der beiden Vorschriften nicht geschlossen werden.

Tenor

Die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 16, vom 19. Oktober 2005, mit welchem der Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 13. September 2005 (Gesch.-Nr.: 160 Gs 968/05) aufgehoben worden ist - wird verworfen.

Gründe

I. Die Staatsanwaltschaft Hamburg wendet sich mit ihrer weiteren Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 19. Oktober 2005, mit welchem dieses auf eine Beschwerde des Beschuldigten hin den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 13. September 2005 aufgehoben hat. Dieser Haftbefehl war gegen den Beschuldigten wegen des dringenden Tatverdachts der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet und des unerlaubten Aufenthalts darin gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 1a, 1b AufenthG ergangen, nachdem der Beschuldigte Anfang September 2005 in das Bundesgebiet eingereist war und sich hierin aufgehalten hatte.

Der Beschuldigte ist niederländischer Staatsbürger. Durch Bescheid der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7. Oktober 2003 war er wegen begangener Straftaten - insbesondere eines gemeinschaftlichen Raubes - gemäß § 45 Abs. 1 i.V.m. § 46 Nr. 2 AuslG aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Dieser Bescheid ist seit dem 12. Januar 2004 bestandskräftig.

II. Die zulässige Beschwerde vom 21. Oktober 2005 ist unbegründet.

Das Landgericht hat zu Recht den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 13. September 2005 aufgehoben.

Gegen den Beschuldigten ist weder der Verdacht einer Straftat nach § 95 Abs. 2 Nr. 1a und 1b des AufenthG noch einer Straftat nach § 9 FreizügG/EU gegeben. Es besteht eine Strafbarkeitslücke, die auch durch eine analoge Anwendung einer der beiden Vorschriften nicht geschlossen werden kann.

1. Es besteht kein Tatverdacht gegen den Beschuldigten wegen der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 2 Nr. 1a und 1b AufenthG. Wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt hat, ist die Strafvorschrift des § 95 AufenthG auf den Beschuldigten nicht anwendbar. Denn der Beschuldigte ist als niederländischer Staatsangehöriger Bürger eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes finden aber auf Unionsbürger gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG nur Anwendung, soweit dies durch Gesetz bestimmt ist. In dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Freizügigkeitsgesetz, welches die Rechtsstellung der Unionsbürger in der Bundesrepublik Deutschland regelt, findet sich keine Norm, die auf die Anwendbarkeit des § 95 Abs. 2 AufenthG auf Unionsbürger verweist.

Entgegen der vom Amtsgericht vertretenen Auffassung gilt das Freizügigkeitsgesetz gemäß seines § 1 für alle Unionsbürger, unabhängig davon, ob sie die Voraussetzungen für die Freizügigkeitsberechtigung nach den §§ 2 bis 4 FreizügG/EU erfüllen oder nicht (so auch Hess. Verwaltungsgerichtshof, NVwZ 2005, 837). Dies ergibt sich schon aus der eindeutigen Regelung in § 1 FreizügG/EU. Dies folgt des weiteren daraus, dass das Gesetz in seiner Terminologie zwischen den Begriffen "Unionsbürger" und "freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger" unterscheidet (vgl. einerseits §§ 1, 7 FreizügG/Eu und andererseits §§ 2, 5 Abs. 1 FreizügG/EU). Dies ergibt aber auch der Umkehrschluss aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU. Danach findet das Aufenthaltsgesetz über die in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU ausdrücklich normierten Fälle hinaus nur dann auf Unionsbürger Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Freizügigkeitsrechtes festgestellt hat und das Freizügigkeitsgesetz keine besonderen Regelungen trifft.

Die Entscheidung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. März 2005 (Az. 3 Bf 294/04), derzufolge die Sperrwirkungen einer vor dem 1. Januar 2005 bestandskräftig gewordenen Ausweisung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG auch gegenüber denjenigen Ausländern fortgelten, die sich auf das europäische Freizügigkeitsrecht berufen, vermag hieran nichts zu ändern. Selbst wenn verwaltungsrechtlich für Unionsbürger, die bis zum 31. Dezember 2004 bestandskräftig aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden sind, ein Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG bestehen sollte, führt dies nicht zur Strafbarkeit eines solchen bestandskräftig ausgewiesenen Unionsbürgers im Falle seiner erneuten Einreise in das Bundesgebiet nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Denn es fehlt in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU ein Verweis auf § 102 i.V.m § 11 Abs. 1 AufenthG sowie auf die Strafvorschrift des § 95 Abs. 2 AufenthG für bestandskräftig ausgewiesene Unionsbürger. Vielmehr hat der Gesetzgeber für Unionsbürger den Straftatbestand des § 9 FreizügG/EU bei Einreise entgegen einem Einreiseverbot geschaffen. Dieses Gesetz geht als spezielles Gesetz dem § 95 Abs. 2 AufenthG vor (Renner, Ausländerrecht Kommentar, 8. Auflage, § 95 AufenthG, Rz. 2). Die Spezialität dieser Norm ergibt sich auch daraus, dass § 9 FreizügG/EU einen milderen Strafrahmen vorsieht als § 95 Abs. 2 AufenthG. In der amtlichen Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes/EU (BT-Drucks. 15/420, S.105) heißt es zu § 9 FreizügG/EU, die zunehmende Gleichstellung von Unionsbürgern mit Inländern rechtfertige es, eine unerlaubte Einreise bei Unionsbürgern milder zu bestrafen als bei sonstigen Drittausländern. Die von den Mitgliedsstaaten festgelegten Sanktionen müssen danach den Sanktionen entsprechen, die die Mitgliedsstaaten bei geringfügigen Vergehen gegen ihre eigenen Staatsangehörigen verhängen. Der Bundesgesetzgeber hat sich deshalb an der Vorschrift des § 24 Passgesetz orientiert, welcher für Deutsche, die gegen ein Ausreiseverbot verstoßen und sich damit strafbar gemacht haben, einen Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vorsieht. Dieser Strafrahmen entspricht dem des § 9 FreizügG/EU. Schon unter Berücksichtigung dieses gesetzgeberischen Willens verbietet sich die unter Umständen härtere Bestrafung eines Unionsbürgers, der trotz einer bis Ende 2004 bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung im Jahre 2005 in die Bundesrepublik einreist nach § 95 Abs. 2 AufenthG. Eine entsprechende Anwendung des § 95 Abs. 2 AufenthG scheitert auch - wie das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat - an dem im Strafrecht geltenden Analogieverbot. Obwohl eine Strafbarkeitslücke nach Ansicht des Senates zu bejahen ist, steht es dem Analogieverbot entgegen, einen Rechtssatz auf einen von ihm aufgrund einer planwidrigen Gesetzeslücke nicht erfaßten Sachverhalt, der dem geregelten rechtsähnlich ist, zu Ungunsten des Beschuldigten anzuwenden.

2. Gegen den Beschuldigten besteht aber auch kein Verdacht, eine Straftat nach § 9 FreizügG/EU begangen zu haben. Der Tatbestand des § 9 FreizügG/EU ist nicht erfüllt, da der Beschuldigte nicht entgegen § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU in das Bundesgebiet eingereist ist oder sich darin aufgehalten hat. Denn der Beschuldigte hat nicht sein Freizügigkeitsrecht nach § 6 Abs. 1 oder Abs. 3 FreizügG/EU verloren. An einer entsprechenden Feststellung der Ausländerbehörde, dass der Beschuldigte sein gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU bestehendes Freizügigkeitsrecht verloren hat, fehlt es.

Die Verfügung der Behörde für Inneres der Freien und Hansestadt Hamburg vom 22. April 2005, mit welcher ihm gemäß § 58 Abs. 2 AufenthG die Abschiebung aus dem Bundesgebiet angedroht und ihm eine Ausreisefrist gesetzt worden ist, enthält diese Feststellung nicht. In der Begründung dieser Verfügung heißt es lediglich, der Beschuldigte könne sich auf die Freizügigkeit nach dem FreizügG/EU nicht berufen, denn er habe die Freizügigkeitsrechte zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht. Die Behörde verkennt hierbei, dass nach der Systematik des FreizügG/EU das Freizügigkeitsrecht vom Betroffenen nicht dargetan zu werden braucht (vgl. hierzu Hess. VGH a.a.O.).

Der Tatbestand des § 9 FreizügG/EU ist auch nicht dadurch erfüllt, dass der Beschuldigte rechtskräftig durch Bescheid der Freie und Hansestadt Hamburg vom 7. Oktober 2003 aus der Bundesrepublik ausgewiesen worden ist. Denn dieser Bescheid ist auf der Rechtsgrundlage der damals geltenden §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG ergangen, wobei die Modifizierungen, die sich aus § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 AufenthaltsG/EWG ergeben haben, bei der Entscheidung berücksichtigt worden sind.

Wie oben dargestellt, setzt § 9 FreizügG/EU tatbestandlich ein Einreiseverbot nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU voraus, der wiederum an einen Verlust des Freizügigkeitsrechtes nach § 6 FreizügG/EU anknüpft.

Die Vorschrift des § 9 FreizügG/EU entspricht damit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 G.

Die Besonderheit des § 9 FreizügG/Eu ist nämlich wie im übrigen Ausländerstrafrecht darin zu sehen, dass die Strafbarkeit an einen verwaltungsrechtlichen Sachverhalt anknüpft, sog. Verwaltungsakzessorietät. Art. 103 GG enthält die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen, BVerfGE 78, 374,381 ff.. Diese Verpflichtung dient dem Zweck, den Normadressaten rechtsstaatlich zu schützen. Er soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Daneben soll der Bestimmtheitsgrundsatz sicherstellen, dass der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet.

Die Strafvorschrift regelt nicht ausdrücklich die Strafbarkeit des EU-Bürgers, der vor dem 1. Januar 2005 auf der Rechtsgrundlage der §§ 45, 46 AuslG seine Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet verloren hat und für den - nach der Rechtsprechung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts - ein Einreiseverbot gemäß § 11 AufenthG besteht. Die Ausweisung eines Unionsbürgers aufgrund der §§ 45, 46 AuslG, 12 AufenthaltsG/EWG steht einer Aberkennung des Freizügigkeitsrechts nach § 6 FreizügigG/Eu auch nicht gleich. Die gesetzlichen Regelungen, die bis Ende 2004 gegolten haben, unterscheiden sich nach dem Wortlaut von den gesetzlichen Anforderungen, die § 6 FreizügG/EU an den Verlust des Freizügigkeitsrechtes stellt. Nach der früheren Rechtslage verwies § 12 Abs. 1 Satz 1 AufenthaltsG/EWG auf die aufenthaltsbeschränkende Maßnahme der Ausweisung nach dem Ausländergesetz.

Nach § 45 AuslG konnte ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigte. Vorliegend wurde dies bejaht, da der Beschuldigte einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hatte, § 46 Nr. 2 AuslG.

Der Verlust des Freizügigkeitsrechtes eines Unionsbürgers ist hingegen - beruhend auf der Rechtsprechung des EuGH - gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU nur unter der strengeren Voraussetzung möglich, dass durch die Anwesenheit des Unionsbürgers im Bundesgebiet eine gegenwärtige hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dies im konkreten Fall festzustellen, wäre Sache der Ausländerbehörde. Eine bis Ende 2004 bestandskräftig gewordene Ausweisung eines Unionsbürgers nach §§ 45, 46 AuslG, 12 AufenthaltsG/EWG ist damit einer Aberkennung der Freizügigkeit gemäß § 6 FreizügigkeitsG/EU nicht gleichzusetzen.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich insoweit um einen ähnlich gelagerten Sachverhalt handelt, verbietet - wie oben dargelegt - das im Strafrecht geltende Analogieverbot dem Gericht auch hier, diesen Sachverhalt unter § 9 FreizügG/EU zu subsumieren, auch wenn er ihm ähnlich ist und in seinem Unrechtsgehalt entsprechen mag.