VG Kassel, Beschluss vom 07.08.2015 - 3 L 1303/15.KS.A
Fundstelle
openJur 2015, 14310
  • Rkr:

1. Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse über massive Kapazitätsprobleme bei der Unterbringung von Asylsuchenden in Ungarn sowie über eine Verschärfung des ungarischen Asylrechts zum 01.08.2015 bestehen erhebliche Zweifel daran, ob Ungarn noch ein Asylverfahren und Aufnahmebedingungen aufweist, die keine systemischen Schwachstellen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen, offenbaren.

2. Erweisen sich die Erfolgsaussichten einer Klage als offen, geht die Interessenabwägung in vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen eine Abschiebungsanordnung des Bundesamtes regelmäßig zugunsten der Antragstellerseite aus.

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20.07.2015 (Aktenzeichen: 3 K 1304/15.KS.A) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.07.2015 (Aktenzeichen: ... - ...) wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich mit seinem Eilrechtsschutzantrag gegen seine Abschiebung nach Ungarn.

Der zur Person nicht ausgewiesene Antragsteller stellte am 19.02.2015 einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Er gibt an, die iranische Staatsangehörigkeit zu besitzen und am ... in Rodsar/Iran geboren zu sein.

Bei seinem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zur Durchführung des Asylverfahrens und bei der anschließender Befragung zur Vorbereitung einer Anhörung am 19.02.2015 vor dem Bundesamt gab er an, sein Heimatland im November 2014 verlassen zu haben und über die Türkei, weitere unbekannte Länder, Ungarn und Österreich nach Deutschland eingereist zu sein.

Am 16.04.2015 ersuchte das Bundesamt unter Bezugnahme auf eine EURODAC- Treffermeldung vom 16.03.2015, wonach der Antragsteller bereits am 26.12.2014 in Ungarn Asyl beantragt hatte, die zuständigen ungarischen Behörden um Wiederaufnahme des Antragstellers. In der Übernahmezusage vom 22.04.2015, dem Bundesamt am 29.04.2015 übersandt, begründete Ungarn seine Übernahmebereitschaft mit der Vorschrift des Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO) und bestätigte, dass der Antragsteller in Ungarn am 26.12.2014 einen Asylantrag gestellt, aber kurz darauf verschwunden sei, weshalb das Verfahren am 10.04.2015 beendet worden sei.

Mit Bescheid vom 10.07.2015, dem Antragsteller am 14.07.2015 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, Ungarn sei aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b)

Dublin III-VO zuständig. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin dazu veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Auch weise Ungarn keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen auf.

Mit Schriftsatz vom 20.07.2015, bei Gericht am selben Tag eingegangen, suchte der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nach. Zugleich erhob er Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 10.07.2015. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, es sei aufgrund der aktuellen Erkenntnislage davon auszugehen, dass derzeit beim ungarischen Asylsystem systemische Mängel i. S. v. Art. 3 Abs. 2 und 3 Dublin III-VO vorlägen und ihm deshalb dort eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe. Nach dem aktuellen Bericht des EOS vom 18.05.2015 gebe es in ganz Ungarn sowohl in offenen als auch in geschlossenen Lagern etwa nur 2.500 Aufnahmeplätze. Seit Oktober 2014 seien aber mehr als 60.000 Personen in Ungarn als Asylsuchende registriert worden, so dass die Unterbringungssituation in keiner Weise als gesichert zu betrachten sei. Insbesondere für Personen, die im Rahmen einer Dublin III-Rückführung nach Ungarn zurück gelangten, bestehe keine Möglichkeit, einen „Integration Contract" zu erhalten. Für den Antragsteller habe sich bereits bei seiner ersten Einreise der Aufenthalt in Ungarn so gestaltet, dass er von der Polizei mit einem Kleinbus in eine Art Gefängnis gebracht worden sei. Dort hätten sich bereits 150-200 Menschen befunden, die alle in einem Raum untergebracht gewesen seien, in dem es nur eine Toilette und ein Waschbecken für alle dort untergebrachten Personen gegeben habe. Das Waschbecken habe dazu benutzt werden müssen, sich zu waschen, aber auch den Trinkwasserbedarf zu decken. Zur Ernährung habe es ein Stückchen Brot und Käse gegeben. Die dargereichten Rationen hätten jedoch nicht für alle ausgereicht, weshalb nur die ersten Personen im Raum überhaupt Nahrungsmittel bekommen hätten. In dem Haftraum habe es zudem keine Möblierung gegeben, so dass die untergebrachten Personen auf dem kalten Steinboden hätten schlafen müssen. Es habe auch keine Decken und Kissen gegeben, die Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit hätten bieten können. Am nächsten Tag sei der Antragsteller von der Polizei weiter transportiert worden. Es seien ihm dann mit Gewalt und unter Schlägen ins Gesicht und in die Rippen Fingerabdrücke abgenommen und Fotos gefertigt worden. Da er aufgrund der vielen in Englisch geschriebenen Schilder in Budapest, die sich gegen Einwanderer richteten, fürchtete, verfolgt zu werden, habe er sich bis nach Deutschland durchgeschlagen. Soweit sich die Antragsgegnerin auf das Urteil des EGMR vom 03.07.2014 berufe, sei dieses angesichts aktueller Berichte über die Situation in Ungarn überholt. Ungarn habe zwischenzeitlich die Rücknahme von Dublin-Fällen eingestellt, weil es nicht mehr in der Lage gewesen sei, mit den großen Asylbewerberzahlen umzugehen. Dadurch komme zum Ausdruck, dass die ungarischen Behörden überlastet seien und nicht mehr in der Lage, die Situation in angemessener Weise zu meistern. Unter Berufung auf einen Beschluss des VG Münster vom 10.07.2015 (2 L 880/15.A) führt der Antragsteller weiter aus, der großen Anzahl von Asylbewerbern - bis zu 72.000 seien nach Angaben der ungarischen Regierung allein in diesem Jahr in das Land gelangt - stünde nur eine geringe Anzahl von Aufnahmeplätzen, laut aktueller Berichte weniger als 2.500, gegenüber. Zudem habe die ungarische Regierung ihre Politik gegenüber Einwanderung, insbesondere durch das neue Gesetz vom 06.06.2015, weiter verschärft.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20.07.2015 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.07.2015 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Eilantrag abzulehnen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung. Gemäß der Dublin-VO sei nicht Deutschland, sondern ein anderer Mitgliedstaat (hier: Ungarn) zuständig. Dieser Mitgliedstaat habe sich nach Stellung des Übernahmegesuchs gemäß § 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO auch für zuständig erklärt. Gründe für einen humanitären Selbsteintritt seien vorliegend nicht ersichtlich und systemische Mängel im Mitgliedstaat lägen nicht vor, weshalb die streitbefangene Entscheidung konform i. S. d. Dublin-VO ergangen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang (ein Hefter) Bezug genommen.

II.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin. Die Voraussetzungen für eine Übertragung auf die Kammer nach Satz 2 dieser Vorschrift liegen nicht vor.

Der zulässige - insbesondere gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 75 Abs. 1, 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG statthafte und unter Beachtung der einwöchigen Antragsfrist des § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG fristgerecht gestellte Antrag - ist auch begründet.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers am vorläufigen Nichtvollzug das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids überwiegt. Die vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung hat sich an den voraussichtlichen Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu orientieren. Erweist sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung der Bescheid als offensichtlich rechtswidrig, besteht ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung nicht. Erweist sich der Bescheid demgegenüber bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, überwiegt das öffentliche Interesse an der Vollziehung das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, ohne dass es einer weiteren Interessenabwägung bedarf. Erweisen sich die Erfolgsaussichten der Klage als offen, folgt grundsätzlich aus der im gesetzlichen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung zum Ausdruck kommenden Wertung des Gesetzgebers ebenfalls ein überwiegendes öffentliches Interesse am Sofortvollzug des Verwaltungsaktes. Dagegen ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen eine Abschiebungsanordnung des Bundesamtes zu beachten, dass die dem Betroffenen drohenden und im Falle einer Aufenthaltsbeendigung möglicherweise auch tatsächlich eintretenden Folgen unter Umständen nur schwer oder überhaupt nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Vor diesem Hintergrund geht die Interessenabwägung regelmäßig zugunsten der Antragstellerseite aus (vgl. BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, juris, Rdnr. 6 zu § 32 BVerfGG; VG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 24.06.2015 - 12 B 2278/15 -, juris, Rdnr. 4; Kluth/Heusch, Beck'scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand: 01.01.2015, § 34 a Rdnr. 32.1 unter Verweis auf Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, § 34 a Rdnr. 105 f.).

Da sich vorliegend die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung als jedenfalls offen erweisen, überwiegt derzeit (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. HS AsylVfG) unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe das Interesse des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an einer umgehenden Rücküberstellung.

Rechtsgrundlage des Bescheids vom 10.07.2015 ist §§ 27 a, 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Dublin III-VO. Hier ist für den Antragsteller ein EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Ungarn - HU1330009157651 - ermittelt worden. Er hat nach seiner Einreise nach Ungarn dort am 26.12.2014 einen Asylantrag gestellt. Nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland hat er hier am 19.02.2015 Asyl beantragt. Dem anschließenden Übernahmeersuchen hat die zuständige ungarische Behörde mit Schreiben vom 22.04.2015 zugestimmt. Ungarn ist daher nach Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO grundsätzlich zuständig.

Allerdings bestimmt Art. 3 Abs. 2 Satz 2, 3 Dublin III-VO in Umsetzung des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2011 (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C- 411/10, C-493/10 -, juris), dass dann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, und der Betroffene folglich im zuständigen Mitgliedstaat den vorgenannten Gefahren ausgesetzt ist, der Mitgliedstaat zur Prüfung verpflichtet ist, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann oder, soweit dies nicht möglich ist, er selbst die Zuständigkeit zu übernehmen hat.

Das BVerwG hat die Anforderungen an den Begriff „systemische Schwachstellen“ i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Satz 2, 3 Dublin III-VO sowie an den zugrunde zu legenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab in seinem Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdnr. 5 ff., unter Würdigung der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR wie folgt zusammengefasst:

"(...) Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden (EuGH - Große Kammer, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C- 493/10, N.S. u.a. - Slg. 2011, I-13905 Rn. 78 f. = NVwZ 2012, 417). Daraus hat der Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta (GR-Charta) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH a.a.O. Rn. 80).

Dabei hat der Gerichtshof nicht verkannt, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoßen kann, so dass die ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung an den nach Unionsrecht zuständigen Mitgliedstaat auf unmenschliche oder erniedrigende Weise behandelt werden. Deshalb geht er davon aus, dass die Vermutung, die Rechte der Asylbewerber aus der Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention würden in jedem Mitgliedstaat beachtet, widerlegt werden kann (EuGH a.a.O. Rn. 104). Eine Widerlegung der Vermutung hat er aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (EuGH a.a.O. Rn. 81 ff.). Ist hingegen ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GR-Charta zur Folge haben, ist eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (EuGH a.a.O. Rn. 86 und 94).

Der Gerichtshof hat seine Überlegungen dahingehend zusammengefasst, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den "zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Dublin-II-Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden (EuGH a.a.O. Rn. 106 und LS 2; ebenso Urteil der Großen Kammer vom 14. November 2013 - Rs. C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 129 Rn. 30). (...)

Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22 m.w.N. = Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 39) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C-493/10 - a.a.O. Rn. 88 bis 94), Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht." (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 06.06.2014 - 10 B 35/14 -, juris, Rdnr. 5).

Wann von einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta zu sprechen ist, deren Gefahr nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 drohen muss, ist gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 EU-Grundrechtecharta an Art. 3 EMRK auszurichten. Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, EuGRZ 2011, S. 243 ff.) ist eine Behandlung allgemein dann unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.

Im Hinblick konkret auf Asylsuchende hat der EGMR allerdings ausgeführt, dass Art. 3 EMRK zwar nicht in dem Sinne auszulegen sei, dass er die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, Rdnr. 249). Jedoch hat er gleichzeitig klargestellt, dass die Verpflichtung, bedürftigen Asylbewerbern Unterkunft und angemessene materielle Bedingungen zu gewähren, nunmehr positiv-rechtlich, insbesondere durch Richtlinie 2003/09/EG vom 27.01.2003 - nunmehr Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie) - normiert sei, die Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden festlege. Dabei misst der EGMR der Tatsache besondere Bedeutung bei, dass es sich bei Asylsuchenden um Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe handele und hat daher geurteilt, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung auch aufgrund der Verhältnisse der Unterbringung, der hygienischen Verhältnisse und der Versorgung mit ausreichender Nahrung gegeben sein kann (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, Rdnr. 222, 249 ff.).

Somit sind auch die in der Aufnahmerichtlinie genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten im Rahmen von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta zu berücksichtigen. Dabei kann bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Asylsuchenden dann vorliegen, wenn ihnen in einem Mitgliedstaat der EU nicht die Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen (OVG NRW, Urteil vom 07. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rdnr. 120 m. w. N.; VG Oldenburg, Beschluss vom 24.06.2015 - 12 B 2278/15 -, juris, Rdnr. 13 ff.). Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung. Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta) - zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit - für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.

Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta liegt mithin vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin III-VO überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylver- fahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann (OVG NRW, Urteil vom 07. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, Rdnr. 112 ff. m. w. N. u. a. auf EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 -, Rdnr. 253, 263).

Gemessen daran kann unter Berücksichtigung des neueren Erkenntnismaterials über die aktuellen Umstände in Ungarn und der Änderung des ungarischen Asylrechts vom 06.07.2015, in Kraft getreten am 01.08.2015, nach Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin zum Zeitpunkt der hiesigen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die aktuelle Entwicklung in Ungarn bei summarischer Prüfung Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte auf das Bestehen systemischer Mängel hindeuten, die es i. S. d. oben angeführten Rechtsprechung als jedenfalls offen erscheinen lassen, ob dem Antragsteller unter den aktuellen (tatsächlichen und rechtlichen) Verhältnissen in Ungarn bei einer Rückführung die oben genannten Gefahren i. S. v. Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK drohen. Ob dies tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Fall ist, bleibt der eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Anlass für die Vermutung, dass das ungarische Asylsystem derartige systemische Schwachstellen aufweist, die den Antragsteller in schwerwiegender Weise um die Mindeststandards der Aufnahmerichtlinie bringen könnten, sind zum einen ernstzunehmende Berichte über massive Kapazitätsprobleme in Verbindung mit einer offen ausländerfeindlichen Haltung der ungarischen Regierung, zum anderen die Verabschiedung eines neuen Asylgesetzes zum 06.07.2015, das am 01.08.2015 in Kraft getreten ist (https://www.amnesty.de/2015/7/30/fluechtlinge-ungarn-verschaerft- asylrecht, zuletzt abgerufen am 04.08.2015).

Das VG Münster hat mit Beschluss vom 07.07.2015, - 2 L 858/15.A -, beckonline, BeckRS 2015, 48126, ausgeführt:

„Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.

Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press- info-4March2015.pdf.

Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.

Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter:http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme- von-flüchtlingen.

Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,a. a. O.

Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,

http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian- asylum-system-18-May-final.pdf;

gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).

Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.

Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.

S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.

Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte DublinKonzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.

Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, a. a. O.; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter:http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.

Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.

Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.

Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschenwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn

sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.

Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657."

(vgl. auch VG Münster, Beschluss vom 10.07.2015, - 2 L 880/15.A -, beckonline, BeckRS 2015, 449022; VG B-Stadt, Beschluss vom 24.07.2015, - 6 L 1147/15.KS.A; VG B-Stadt, Beschluss vom 03.08.2015, - 6 L 1098/15.KS.A).

Dieser Einschätzung schließt sich die erkennende Einzelrichterin ausdrücklich an.

Zum einen verursachen die aktuellen Flüchtlingszahlen ein so erhebliches Unterbringungsproblem, dass derzeit erhebliche Zweifel daran bestehen, ob Ungarn eine den Anforderungen des EU-Rechts bzw. der EMRK genügende (Mindest-) Versorgung der Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, insbesondere hinsichtlich der vom EGMR unter Bezugnahme auf die Aufnahmerichtlinie im Lichte von Art. 3 EMRK eingeforderte Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse), gewährleisten kann. Aktuell ist die Zahl der illegalen Migranten, die nach Angaben der ungarischen Regierung allein in diesem Jahr nach Ungarn gekommen seien, und auf die zur Verfügung stehenden 2.500 Aufnahmeplätze kommen, weiter auf über 81.000 angestiegen (vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-strafgefangene-bei-bau-des- grenzzauns-eingesetzt-a-1044034.html, zuletzt abgerufen am 04.08.2015). Wie bei einem derart erheblichen Auseinanderfallen der Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze einerseits und der Zahl der Asylsuchenden andererseits eine menschenwürdige Unterbringung und Verpflegung gewährleistet werden soll, ohne dass die Asylsuchenden entweder in überfüllten Unterkünften ohne ausreichende Nahrungsversorgung und unter defizitären hygienischen Verhältnissen, wie sie auch der Antragsteller beschreibt, oder aber auf der Straße leben müssen, erscheint mehr als zweifelhaft (so auch VG Köln, Urteil vom 30.07.2015 - 3 K 2005/15.A). Ob die Verlagerung der Asylunterkünfte von den Städten in Zeltlager an der ungarisch-serbischen Grenze (http://www.dw.com/de/ungarn-drängt-flüchtlinge-ins-abseits/a-18591458, zuletzt abgerufen am 07.08.2015) auch zu weiteren (ausreichenden) Unterkunftsplätzen führen wird oder nur zu einer Verlagerung der bestehenden 2.500 Plätze, ist für das Gericht derzeit nicht ersichtlich und angesichts des erheblichen Übersteigens der Anzahl der Asylsuchenden um die Anzahl der Unterbringungsplätze wenig wahrscheinlich. Dass eine sehr große Anzahl der Asylbewerber ihre Anträge zurückzieht oder in andere Mitgliedstaaten weiterwandert und deshalb nicht allein auf die Anzahl der in hoher Anzahl nach Ungarn einreisenden Antragsteller abgestellt werden könne, wie das VG Potsdam angeführt hat (VG Potsdam, Beschluss vom 20.07.2015 - VG 6 L 915/15.A -, beckonline, BeckRS 2015, 49092), teilt das Gericht nicht. Denn auch hinsichtlich der weiterreisenden Antragsteller gilt, dass auch diese angesichts der Regelungen der Dublin III-VO grundsätzlich nach Ungarn zurückzuführen sind. Selbst wenn von diesen einige untertauchen oder aus anderen Gründen nicht zurückgeführt werden, sind angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, die Aufnahmekapazitäten nach derzeitigem Erkenntnisstand und der im Eilver- fahren gebotenen summarischen Prüfung dennoch völlig unzureichend (so auch VG Köln, a. a. O.).

Zum anderen ergeben sich weitere erhebliche Bedenken des Gerichts hinsichtlich des Bestehens systemischer Mängel im ungarischen Asylsystem daraus, dass Ungarn seit dem 06.07.2015 eine Änderung des Asylrechts beschlossen hat, die am 01.08.2015 in Kraft getreten ist. Dieses soll nicht nur eine erhebliche Verfahrensverkürzung auf wenige Tage unter Wegfall bzw. massiver Einschränkung der gebotenen Rechtschutzmöglichkeiten sowie eine Verlängerung der Inhaftierung aller Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, die in das Land illegal eingereist sind, einschließlich Frauen, Kinder und besonders Schutzbedürftiger, vorsehen. Sondern Asylsuchenden kann nach den gegenwärtigen Erkenntnissen des Gerichts infolge der Gesetzesänderung der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt werden, sollten sie durch eines der Länder eingereist sein, dass die ungarische Behörden nun als "sicher" eingestuft haben. Jeder, der auf dem Weg nach Ungarn durch eines dieser Länder gereist ist, könnte ungeachtet des jeweiligen Herkunftslandes abgewiesen werden. Zu einer ganzen Reihe neuer Ablehnungsgründe zählt daher offenbar auch die Möglichkeit, die Anträge von Asyl- und Flüchtlingsschutzsuchenden, die durch "sichere Drittländer" gekommen sind, für unzulässig zu erklären und diese in „sichere Drittstaaten" zurückzuführen. Auf der von der ungarischen Regierung erstellten Liste soll unter den Begriff „sichere Drittstaaten" neben Albanien, Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Kosovo auch Serbien fallen (vgl. https://www.amnesty.de/2015/7/30/fluechtlinge-ungarn-verschaerft-asylrecht, zuletzt abgerufen am 07.08.2015; ai, „Europe's Borderlands" vom 07.07.2015, S. 61, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to- asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk, zuletzt abgerufen am 07.08.2015; UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, http://www.ecoi.net/local_link/307005/444377_de.html, zuletzt abgerufen am 07.08.2015). Vor diesem Hintergrund hat sich nicht nur der UNHCR in der angegebenen Stellungnahme zutiefst besorgt darüber gezeigt, dass die vorgeschlagene Änderung des Asylrechts die Rücksendung von Asylbewerbern in potentiell unsichere Drittstaaten ermögliche. Sondern auch der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung i. R. v. Art. 3 EMRK darauf hingewiesen, dass bei der Anwendung der jeweils geltenden Dublin-Verordnung hinsichtlich des Aufnahmestaates - hier Ungarn - garantiert sein muss (und der ausweisende Staat in einer entsprechenden Verantwortung bleibt), dass das betreffende Asylsystem von der direkten oder indirekten Ausweisung ins Herkunftsland absieht, solange die Risiken, denen die betroffene Person ausgesetzt sein könnte, nicht überprüft worden sind (EGMR, Urteil vom 03.07.2014 - 71932/12 -, hudoc, Rdnr. 60 m. w. N.; deutsche Zusammenfassung: NLMR 04/2014, S. 282 ff., 283).

Auch wenn der Antragsteller bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens am 19.02.2015 vor dem Bundesamt angegeben hat, er sei vom Iran kommend über die Türkei und weitere unbekannte Länder nach Ungarn gelangt, ist angesichts dessen, dass von den laut Angaben der ungarischen Regierung über 81.000 Asylsuchenden (Stand Juli 2015) mehr als 80.000 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-strafgefangene- bei-bau-des-grenzzauns-eingesetzt-a-1044034.html, zuletzt abgerufen am 04.08.2015) bzw. 99 % der gesamten Asylantragsteller (https://www.amnesty.de/2015/7/30/fluechtlinge-ungarn-verschaerft-asylrecht, zuletzt abgerufen am 07.08.2015) über Serbien eingereist seien, die Wahrscheinlichkeit ebenfalls hoch, dass dies auch auf den Antragsteller zutrifft. Serbien wiederum soll laut einer Mitteilung des UNHCR vom Oktober 2012 bislang nahezu sämtliche Asylanträge ohne Anhörung der Asylgründe mit der Begründung zurückgewiesen haben, dass der Antragsteller aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei, wobei die Liste der „sicheren Drittstaaten“ äußerst umfangreich sei und sämtliche Nachbarländer Serbiens umfasse. Wegen der damaligen Praxis Ungarns, Antragsteller ohne Prüfung der Asylgründe nach Serbien zurückzuführen, hat der UNHCR deshalb bereits 2012 empfohlen, keine Rückführung nach Ungarn unter der damaligen Dublin II-VO in Fällen durchzuführen, in denen Asylsuchende vor ihrer Einreise nach Ungarn in Serbien waren oder gewesen sein könnten (UNHCR Note on Dublin transfers to Hungary of people who have transited through Serbia, Oktober 2012, juris). Auch wenn es zwischenzeitlich eine Verbesserung dahingehend gegeben zu haben scheint, dass Ungarn nicht mehr an dem „Sicheren-Drittstaaten-Konzept" festgehalten und eine Prüfung der Begründetheit selbst durchgeführt haben soll (EGMR, Urteil vom 03.07.2014 - 71932/12 -, Rdnr. 73), scheint mit dem zum 01.08.2015 in Kraft getretenen Gesetz davon wieder Abstand genommen worden und eine Rückführung nach Serbien ohne eigene Prüfung gerade wesentlicher Bestandteil des Gesetzes zu sein. Serbien weist auch aktuell ein signifikantes Risiko des Refoulements nach Mazedonien und weiter nach Griechenland auf. Die Liste der sicheren Drittstaaten beinhalte u.a. sämtliche Nachbarländer Serbiens sowie Griechenland und die Türkei (ai, „Europe's Borderlands" vom 07.07.2015, a. a. O., S. 35-45).

Es kann daher derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass auch der Antragsteller bei einer Rückführung nach Ungarn von dem Risiko der Abschiebung nach Serbien bedroht ist, das wiederum seine Rückführung in die Türkei oder nach Griechenland oder in sein Herkunftsland betreiben könnte, ohne dass eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit erfolgen würde. Dies würde eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeuten (so auch https://www.amnesty.de/2015/7/30/fluechtlinge-ungarn-verschaerft-asylrecht, zuletzt abgerufen am 07.08.2015; VG B-Stadt, Beschluss vom 03.08.2015 - 6 L 1098/15.KS.A).

Den erheblichen Zweifeln, ob Ungarn noch eine Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK entsprechende Gewährleistung der Mindeststandards für Asylsuchende bietet, steht, entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin, auch nicht der Umstand entgegen, dass der EGMR mit Urteil vom 03.07.2014, 71932/12, entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn dieses Urteil berücksichtigt nicht die aktuellen Entwicklungen, wie sie sich insbesondere in den erheblichen Kapazitätsproblemen und der Verschärfung des Asylrechts zum 01.08.2015 zeigen. Der EGMR hat in seinem Urteil vom 03.07.2014 im Hinblick auf die Frage einer Rückführung nach Serbien und dem dadurch unter Art. 3 EMRK zu beachtenden Gebots des NonRefoulements darauf hingewiesen, dass der UNHCR und das Hungarian Helsinki Committee (zum damaligen Zeitpunkt) bestätigt hätten, dass Ungarn nicht länger an seinem „Sichere-Drittstaaten-Konzept" festhalte und insbesondere die Asylanträge von Dublin-Rückkehrern hinsichtlich ihrer Begründetheit untersuchen würde, wenn der jeweilige Fall noch nicht entschieden worden sei (EGMR, Urteil vom 03.07.2014 - 71932/12 -, Rdnr. 73). Diese Grundlage, aufgrund derer der EGMR hinsichtlich der Frage einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Hinblick auf ein Refoulement nach Serbien zu keiner Verletzung kam, ist so nach den gegenwärtigen Erkenntnissen des Gerichts hinsichtlich des neuen, zum 01.08.2015 in Kraft getretenen Asylgesetzes voraussichtlich nicht mehr gegeben. Die Erwartung des EGMR, auf der seine Entscheidung beruht, nämlich dass die zum damaligen Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden, scheinen sich danach nicht bewahrheitet zu haben (vgl. auch VG Köln, a. a. O.).

Angesichts der Erkenntnisse über die jüngsten Entwicklungen sieht sich die Einzelrichterin veranlasst, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Ob sich das Risiko einer Kettenabschiebung aus Ungarn unter Verletzung des Non-Refoulement-Gebots bei Anwendung des neuen ungarischen Asylgesetzes tatsächlich realisiert und damit das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet und ob es den ungarischen Behörden gelingt, die gestiegene Anzahl von Asylsuchenden ausreichend zu versorgen, so dass sie während der Dauer des Asylverfahrens ihre elementaren Grundbedürfnisse in einer noch zumutbarer Weise befriedigen können, ist aus heutiger Sicht offen und bedarf weiterer Beobachtung und ggf. Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes überwiegt jedoch bei der gegebenen Auskunftslage das Aussetzungsinteresse des Antragstellers.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.

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