LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25.06.2015 - 9/14
Fundstelle
openJur 2015, 10991
  • Rkr:
Tenor

Es wird festgestellt, dass der gegenüber dem Antragsteller in der Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 (72. Sitzung der 6. Wahlperiode) zu dem Tagesordnungspunkt 18 erfolgte erste Ordnungsruf gegen Art. 22 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes MecklenburgVorpommern verstoßen hat.

Die Entscheidung ergeht kostenfrei. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu erstatten.

Gründe

A.

Der Antragsteller gehört in der laufenden 6. Wahlperiode als Abgeordneter dem Landtag Mecklenburg-Vorpommern an und ist Mitglied der Fraktion der NPD. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der Antragsteller durch den ihm gegenüber erfolgten ersten Ordnungsruf in der 72. Sitzung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 in seinen verfassungsrechtlichen Rechten als Abgeordneter verletzt wurde.

I.

Zu dem Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE: „100 Prozent Gleichstellung jetzt! Hissen der Regenbogenfahne als Zeichen für Toleranz, Akzeptanz und Solidarität auf öffentlichen Gebäuden generell erlauben!" als Tagesordnungspunkt 18 der betreffenden Sitzung hielt der Antragsteller eine Diskussionsrede unmittelbar im Anschluss an eine solche seines Fraktionskollegen Michael Andrejewski. Der Sitzungsverlauf ab dem Zeitpunkt, zu dem die Antragsgegnerin letzterem das Wort erteilte, ist wie folgt protokolliert:

„(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Michael Andrejewski, NPD: Ja, genau. Neu ernannt.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Schwerin hat der Zufall für eine interessante Symbolik gesorgt. Während die linke Oberbürgermeisterin Gramkow einerseits die Regenbogenflagge - nicht Fahne - hisste,

(Udo Pastörs, NPD: Richtig.)

die angeblich für Toleranz steht, hat sie sich gleichzeitig mit aller Kraft für einen Meister der Intoleranz eingesetzt. Sie konnte es nicht ertragen, dass ein Bürgerrechtler das Antlitz der Lenin-Statue auf dem Großen Dreesch am 17. Juni für ganze vier Stunden verhüllen wollte. Das war gerade ein paar Tage vor Beginn,

(Beifall Udo Pastörs, NPD - Heiterkeit bei Dr. Norbert Nieszery, SPD: Sind Sie jetzt der Verteidiger von Lenin, oder was?)

das war gerade ein paar Tage vor Beginn der schwullesbischen Kulturwoche. Da warf sie sich für diesen Massenmörder in die Bresche, der in Europa schon 1918 Konzentrationslager einführte,

(Silke Gajek, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber wir reden hier schon über die Regenbogenfahne?!)

Giftgas gegen aufständische Bauern einsetzte,

(Peter Ritter, DIE LINKE: Können wir mal zum Thema reden?)

Millionen Menschen umbringen ließ,

(Beifall Udo Pastörs, NPD - Heinz Müller, SPD: Zur Sache!) und - ich komme wieder zur Sache -, ...

(Heinz Müller, SPD: Zur Sache!)

Dass Sie so eine kleine Abschweifung nicht geistig nachvollziehen können, tut mir leid.

(Beifall Udo Pastörs, NPD)

Ich komme wieder zur Sache.

(Heinz Müller, SPD: Ich kann das ganz gut geistig nachvollziehen. Ich bin ja nicht auf Ihrem Niveau.)

... und in dessen Staat unter seinem Nachfolger Stalin ab 1933 Homosexualität unter Strafe stand, womit wir wieder beim Thema wären. Es gab für homosexuelle Handlungen bis zu fünf Jahre Gulag oder später unter Breschnew Unterbringung in psychiatrischen Anstalten auf unbestimmte Zeit, während DIE LINKE, damals SED, noch jubelte, von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Wann ist der 175 abgeschafft worden in der DDR? Das müssten Sie als Anwalt wissen.)

Für all das steht Lenin. Wie glaubwürdig kann eine Verehrerin dieses Tyrannen für Toleranz eintreten mit der Regenbogenflagge?

Das Verbot der Verhüllungsaktion hat sie übrigens unter anderem damit begründet, dass sie verhindern würde, dass jemand von der Leiter fiele, während er da hochkletterte zur Lenin-Statue - geheuchelte Fürsorge und geheuchelte Toleranz. In Wirklichkeit geht es darum, Unzufriedene einzusammeln. Mit der Regenbogenflagge schmeißt DIE LINKE sich an die Schwulen und Lesben ran.

(Dr. Mignon Schwenke, DIE LINKE: Oh!)

Zu den Theaterleuten schickt man IM Martin als großen Kulturkämpfer, der angesichts seiner Stasivergangenheit hier die Stirn hatte,

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Ei, jei, jei, jei!)

gestern im Landtag mehr Herzensbildung zu fordern.

(Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Legen Sie doch mal eine neue Schallplatte auf! Die kennen wir schon.)

Auch Kleingärtnern, Vermietern von Ferienwohnungen, allen dient man sich an nach alter kommunistischer Art. Ziel: Die Herrschaft der Partei möglichst wiederherzustellen. Und wie das aussieht, um zum Thema zurückzukommen,

(Zuruf von Heinz Müller, SPD)

kann man an der absoluten Rechtsverachtung der Frau Gramkow ablesen. Die Partei steht über dem Gesetz - das war in der DDR auch schon so -, die Beflaggungsordnung des Landes ist egal. Heute pfeifen wir auf die Beflaggungsordnung und morgen auf das Grundgesetz.

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Gucken Sie mal, auf was Sie alles pfeifen in diesem Haus!)

Das ist eine Haltung der totalen Rechtsverachtung. Und Schwulen und Lesben werden auf einmal hoheitliche, ...

(Peter Ritter, DIE LINKE: Ist das Ihre Rede von morgen? - Zuruf von Dr. Hikmat Al-Sabty, DIE LINKE)

Auf die können Sie sich auch noch freuen.

... Schwulen und Lesben werden auf einmal hoheitliche Rechte zugestanden: Sie dürfen ihre Fahne an öffentlichen Gebäuden anbringen. Das hat nämlich in der Tat etwas mit Hoheitlichkeit zu tun. Sie können sonst wo ihre Fahne hissen, in ihrem Schrebergarten oder wo auch immer, aber eben nicht hoheitlich an öffentlichen Gebäuden. Und warum nur sie? Sind sie irgendwas Besonderes? Es heißt, sie sind bunt und weltoffen. Was sind die anderen dann? Alle graue Mäuse, um die man sich nicht weiter kümmern muss?

(Barbara Borchardt, DIE LINKE: Na Sie auf keinen Fall. - Peter Ritter, DIE LINKE: Sie sind braun und eingeschränkt.)

Was ist zum Beispiel mit den Vertriebenen? Sie stehen auch für Vielfalt, denn als Deutschland noch zum Beispiel Schlesien und Ostpreußen umfasste ...

(Das Mikrofon wird abgeschaltet.)

Präsidentin Sylvia Bretschneider: Herr Abgeordneter Andrejewski, jetzt entziehe ich Ihnen erst mal das Wort,

(Gelächter bei Udo Pastörs, NPD: Hoh!)

weil ich es nicht ertragen kann - und ich glaube, den Kolleginnen und Kollegen aus den demokratischen Fraktionen geht es so wie mir -, dass Sie hier in einer Art und Weise menschenverachtend

(Zuruf von David Petereit, NPD)

eine große Gruppe von Menschen diskreditieren durch die Art und Weise, wie Sie hier vortragen,

(David Petereit, NPD: Das ist eine Frechheit.)

eine Rede, die mit abwertenden Begriffen gespickt ist. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf, Herr Petereit.

(Zuruf von David Petereit, NPD)

Herr Petereit, ich erteile Ihnen den zweiten Ordnungsruf.

(Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Der hatte doch heute schon zwei. - Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon.)

Das ist interessant, dann ist das der dritte Ordnungsruf.

Herr Petereit, ich teile Ihnen mit, dass Sie damit für heute keine Möglichkeit mehr haben, an der Debatte teilzunehmen. Ich entziehe Ihnen das Wort und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass, wenn Sie sich jetzt hier nicht an die Gepflogenheiten des Hohen Hauses halten, weitere Ordnungsmaßnahmen nicht auszuschließen sind.

Und ich war ja noch nicht ganz fertig mit Ihnen, Herr Andrejewski.

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon. – Heiterkeit vonseiten der Fraktion der NPD)

Herr Andrejewski, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf und mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie in keinster Weise hier das Recht haben, meine Bemerkungen zu kommentieren, zu bewerten oder irgendwas anderes, auch nicht durch Gestik und Mimik.

(Heiterkeit bei Tino Müller, NPD)

Auch wenn ich Ihnen nicht ins Gesicht gucken kann, darauf, muss ich ganz ehrlich sagen, lege ich auch keinen großen Wert. Gut.

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht bei abgeschaltetem Mikrofon.)

Jetzt zu Ihnen noch mal: Sie haben kein Recht, hier Menschen auf irgendeine Art und Weise zu diskreditieren. Es gilt das Grundgesetz Artikel 1 und es gilt das Grundgesetz Artikel 3. Und ob Ihnen das Grundgesetz nun gefällt oder nicht, das steht hier nicht zur Debatte. Ihre Einstellung kennen wir dazu. Aber wenn Sie es wagen, im Landtag Mecklenburg-Vorpommern Menschen verächtlich zu machen, Menschen zu diskriminieren, nur weil sie eine bestimmte sexuelle Orientierung haben, dann werden wir das hier nicht hinnehmen. Das sage ich Ihnen hier zum letzten Mal und sehr deutlich.

(Zuruf von David Petereit, NPD)

Herr Petereit, bitte packen Sie Ihre Siebensachen zusammen und verlassen Sie den Saal! Ich schließe Sie von der heutigen Sitzung aus.

(Zuruf von Tino Müller, NPD)

Und, Herr Müller, Sie erhalten den ersten Ordnungsruf.

(Tino Müller, NPD: Ja, danke.)

Sie erhalten den zweiten Ordnungsruf und ich mache Sie darauf aufmerksam,

(Julian Barlen, SPD: Ja, bis alle raus sind.)

wenn Sie sich jetzt nicht zusammenreißen, gehen auch Sie aus diesem Saal.

Herr Andrejewski, Sie können dann Platz nehmen.

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski wendet sich vom Rednerpult ab und spricht die Präsidentin an.)

Ich entziehe Ihnen jetzt das Wort, ja,

(Der Abgeordnete Michael Andrejewski spricht erneut die Präsidentin an.)

für diesen Tagesordnungspunkt, und ich behalte mir weitere Ordnungsmaßnahmen vor.

(Die Abgeordneten Stefan Köster und Udo Pastörs treten an das Präsidium heran.)

Auszeit können Sie beantragen, ich werde das beraten und entscheiden.

Stefan Köster, NPD: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es noch mal kurz zusammenzufassen: Die Oberbürgermeisterin Gramkow, Partei DIE LINKE,

(Helmut Holter, DIE LINKE: Ist eine gute Oberbürgermeisterin.) hat rechtswidrig gehandelt.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Und jetzt muss sie ins Gefängnis, oder was?)

Der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat die Oberbürgermeisterin dieser Landeshauptstadt auf die Rechtslage hingewiesen. Sie hat die Rechtslage außer Acht gelassen und hat sich wider dem geltenden Recht verhalten. Darum geht es hier im Landtag. Es geht gar nicht darum, eine verschwindend kleine Minderheit hier in irgendeiner Weise zu diskreditieren oder Ähnliches, sondern diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit wird als Gegenstand dafür genommen, Rechtsbruch in Deutschland zu begehen.

(Beifall vonseiten der Fraktion der NPD)

Präsidentin Sylvia Bretschneider: Herr Köster, ich mache Sie erneut darauf aufmerksam, dass auch diese Äußerung eine Diskreditierung der Menschen mit bestimmten sexuellen Orientierungen beinhaltet, und ich habe das ausdrücklich eben ausgeschlossen, dass Sie dazu das Recht haben, sich in diesem Haus in der Art und Weise zu äußern. Dazu sind Sie nicht berechtigt. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.“

Gegen diesen Ordnungsruf legte der Antragsteller am 07. Juli 2014 Einspruch ein.

Mit Schreiben vom 18. August 2014 begründete die Antragsgegnerin die Ordnungsmaßnahme ihm gegenüber daraufhin unter anderem wie folgt:

„(…)Im Rahmen der Debatte zum Antrag der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE: '100 Prozent Gleichstellung jetzt! Hissen der Regenbogenfahne als Zeichen für Toleranz, Akzeptanz und Solidarität auf öffentlichen Gebäuden generell erlauben!' habe ich bereits Ihren Vorredner, Abg. Michael Andrejewski, Fraktion der NPD, darauf aufmerksam gemacht, dass seine Äußerungen die Würde der homo,- bi-, trans- oder intersexuellen Menschen in unserem Land verletzen. Diesen Hinweis missachtend haben Sie diese Äußerungen wiederholt und insbesondere darauf abgestellt, dass es sich bei homo,- bi-, trans- oder intersexuellen Menschen 'zum Glück' um eine 'verschwindend kleine Minderheit' handelt.

Durch Ihr gesamtes Verhalten während der Rede und die entsprechenden Reaktionen und Verhaltensweisen Ihrer Fraktionskollegen ist die Verachtung für diese Personengruppe überdeutlich geworden. In diesem Kontext konnten Ihre Äußerungen - wie dies auch die Reaktionen aus anderen Fraktionen während der Debatte gezeigt haben - vom übrigen Plenum nur als Geringschätzung und Diskriminierung dieser Minderheit aufgefasst werden. Damit ist die Würde dieser Menschen erheblich verletzt worden.

Artikel 5 Abs. 2 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern stellt fest, dass 'das Land Mecklenburg-Vorpommern ... um des Menschen willen da' ist und es 'die Würde aller in diesem Land lebenden oder sich hier aufhaltenden Menschen zu achten und zu schützen' hat.

Da Sie mit Ihrer Rede gegen diesen Verfassungsgrundsatz verstoßen haben, war die Ordnung und Würde des Hohen Hauses erheblich verletzt. Vor diesem Hintergrund war ich als amtierende Präsidentin gehalten, Ihnen einen Ordnungsruf auszusprechen.(…)“

Den Einspruch des Antragstellers wies der Landtag mit Beschluss vom 17. September 2014 zurück.

II.

Am 29. September 2014 hat der Antragsteller ein Organstreitverfahren nach Art. 53 Nr. 1 LV anhängig gemacht mit dem Antrag,

festzustellen, dass die Antragsgegnerin die Rechte des Antragstellers aus Art. 22 Abs.1, Abs. 2 Satz 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern dadurch verletzt hat, dass sie ihm in der 72. Plenarsitzung am 03. Juli 2014 unter Tagesordnungspunkt 18 wegen der Formulierung „diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit“ einen Ordnungsruf erteilt hat.

Der Antragsteller ist der Auffassung, die Voraussetzungen eines Ordnungsrufes hätten auch unter Berücksichtigung eines weiten Beurteilungsspielraumes der Antragsgegnerin nicht mehr vorgelegen, weshalb sich die Maßnahme als objektiv willkürlich darstelle.

Die Vorgaben der Landesverfassung und der Geschäftsordnung seien bereits im Lichte von Art. 10 EMRK dahingehend auszulegen, dass im Hinblick auf die Bedeutung der Redefreiheit von parlamentarischen Abgeordneten die Verhängung von Ordnungsmitteln an besonders strengen Maßstäben gemessen werden müsse; der Parlamentsabgeordnete genieße danach mindestens so viel Redefreiheit wie ein normaler Bürger. Der Antragsteller habe dann allein kritisiert, dass die Schweriner Oberbürgermeisterin unter Verletzung geltenden Rechts die Regenbogenflagge am Schweriner Rathaus habe hissen lassen, und dabei ausdrücklich klargestellt, dass es ihm nicht darum gehe, die Minderheit homo,- bi-, trans- oder intersexueller Menschen zu diskreditieren. Wenn er dabei geäußert habe, dass es sich bei letzteren „zum Glück“ um eine „verschwindend kleine“ Minderheit handele, sei deren Menschenwürde damit nicht verletzt gewesen Dies sei nur dort der Fall, wo einer Person jener Wert- und Achtungsanspruch abgesprochen werde, der dem Menschen kraft seines Menschseins zukomme, unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder seinem sozialen Status. Diese Grenze werde aber offensichtlich dort nicht überschritten, wo es jemand lediglich begrüße, dass eine Minderheit eine Minderheit und nicht die Mehrheit sei. Die homosexuelle Minderheit sei ebenso wenig sakrosankt wie andere Minderheiten und müsse daher auch akzeptieren, dass nicht alle Menschen homosexuelle Lebensweisen als nachahmenswert erachteten.

Soweit die Antragsgegnerin in ihrer schriftlichen Begründung des Ordnungsrufes vom 18. August 2014 auch auf das Verhalten der Fraktionskollegen des Antragstellers abstelle, könne dies schwerlich geeignet sein, Ordnungsmaßnahmen gegen ihn selbst zu begründen; er sei nicht der Hüter der übrigen Mitglieder seiner Fraktion und könne folglich auch nicht für deren Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Unterstellung, der Duktus des Antragstellers sei von „Aggressivität“ und „Feindseligkeit“ geprägt gewesen, müsse zudem als absurd angesehen werden.

III.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die vorliegend angegriffene Ordnungsmaßnahme gegenüber dem Antragsteller könne nicht isoliert, sondern nur mit Rücksicht auf den Vorlauf in dem diesbezüglichen Abschnitt der Debatte zutreffend eingeschätzt werden. Der Wortbeitrag des unmittelbaren Vorredners des Antragstellers habe sich insoweit von dem Verlauf der Debatte bis dahin, der trotz erkennbar kontroverser Einzelpositionen in der Gleichstellungspolitik und in der Beurteilung der rechtlichen Bedingungen für das Aufziehen von hoheitlichen und anderen Flaggen auf oder an öffentlichen Gebäuden im Ton sachlich gewesen sei, massiv unterschieden; die Oberbürgermeisterin von Schwerin sei als Verehrerin von Verbrechern und Massenmördern wie Lenin und Stalin, für welche sie sich „in die Bresche werfe“, verunglimpft und darauf eine pauschale Diskriminierung von „Schwulen und Lesben“ aufgebaut worden, mit der diese zu Nutznießern und Verbündeten einer totalitär motivierten linken Gleichstellungspolitik gestempelt worden seien.

Obwohl die Antragsgegnerin dem Vorredner des Antragstellers daraufhin das Wort entzogen habe, sei letzterer sogleich auf die Schweriner Oberbürgermeisterin zurückgekommen, habe deren Handeln als rechtswidrig bezeichnet und daraus abgeleitet, dass „diese verschwindend, zum Glück verschwindend kleine Minderheit als Gegenstand dafür genommen werde, Rechtsbruch zu begehen". Schon die Eingangsworte des Antragstellers in seiner Rede hätten in der Gesamtschau als Fortsetzung der mit seinem Vorredner geführten Auseinandersetzung erscheinen müssen, was dadurch bestätigt werde, dass er gleich anschließend von einer „zum Glück verschwindend kleinen Minderheit" gesprochen habe. Für sie, die Antragsgegnerin, habe damit in der nicht wiederholbaren entscheidungserheblichen Situation zu befürchten gestanden, dass die unzulässige Form von Angriffen gegen die Oberbürgermeisterin von Schwerin und deren Zweck einer Diskriminierung der betroffenen Minderheit fortgesetzt oder bekräftigt, ihre diesbezügliche Intervention missachtet und die Debatte erneut aus dem Ruder laufen werde. Der Gehalt der Formulierung des Antragstellers einer „zum Glück kleinen Minderheit" habe in der konkreten Situation darin bestanden, dass sie mit abwegigen Verunglimpfungen und daraus abgeleiteten Diskreditierungen aufgeladen gewesen sei, gegen welche sie unmittelbar zuvor eingeschritten war; der Antragsteller habe das bereits sanktionierte Verhalten seines Vorredners gerechtfertigt und damit die gegen ihn gerichtete Intervention provoziert.

Die spätere Ablehnung des Einspruches durch das Plenum spreche im Übrigen als Indiz dafür, dass die Antragsgegnerin den von dem Antragsteller praktizierten Umgang mit dem aktuellen Gegenstand als ordnungswidrig im Sinne ihrer früheren Intervention habe bewerten können und dürfen.

Jedenfalls eine relevante Beeinträchtigung des Antragstellers in seinem Rederecht liege letztlich nicht vor, weil er auch nach dem Ordnungsruf seine Rede habe beenden können. Die Antragsgegnerin habe mit lediglich einem Ordnungsruf dem verbalen Unterschied der Ausführungen des Antragstellers zu dessen Vorredner schon Rechnung getragen und sich damit auf die mildeste der ihr zur Verfügung stehenden Sanktionen beschränkt; es gebe demgegenüber kein verfassungsrechtliches Gebot, unterhalb der Schwelle der formellen Ordnungsmittel zunächst eine formlose Rüge auszusprechen.

IV.

Der Landesregierung wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

B.

Der Antrag ist zulässig.

I.

Der Rechtsweg zum Landesverfassungsgericht ist gemäß Art. 53 Nr. 1 LV, § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern - LVerfGG - gegeben. Danach entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Auslegung der Verfassung aus Anlass einer Streitigkeit über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans oder anderer Beteiligter, die durch die Verfassung oder in der Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Organstreitverfahren).

Antragsteller und Antragsgegnerin sind im Sinne dieser Vorschriften beteiligungsfähig, weil sie durch die Verfassung und die Geschäftsordnung des Landtages mit eigenen Rechten ausgestattet werden. Sie stehen auch in einem verfassungsrechtlich geprägten Rechtsverhältnis zueinander, denn zwischen ihnen besteht Streit über den Umfang der Rechte und Pflichten aus dem Abgeordnetenstatus einerseits und aus der parlamentarischen Ordnungs- oder Disziplinargewalt der Präsidentin andererseits. Diese übt kraft Übertragung durch das Parlament dessen Ordnungsgewalt gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1, §§ 97 ff. GO LT in eigener Verantwortung und unabhängig aus, weshalb sie im Verfassungsrechtsstreit über eine insoweit mögliche Verletzung von Abgeordnetenrechten unmittelbar in Anspruch genommen werden kann.

Die Frage, ob ein Abgeordneter wegen einer Äußerung in einer Plenardebatte mit einer Ordnungsmaßnahme belegt werden darf, berührt die zu seinem verfassungsrechtlichen Status aus Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV gehörende Befugnis zur Rede, deren Verletzung er im Organstreitverfahren geltend machen kann (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, LVerfGE 20, 255, 262 f. m.w.N.).

II.

Der Antragsteller hat seinen Antrag gemäß § 37 Abs. 2 und 3 LVerfGG form- und fristgemäß gestellt und ordnungsgemäß begründet sowie zum Nachweis der nach § 37 Abs. 1 LVerfGG erforderlichen Antragsbefugnis hinreichend Tatsachen vorgetragen, die eine Rechts- oder Pflichtverletzung bzw. eine unmittelbare Rechts- oder Pflichtengefährdung durch ein Verhalten der Antragsgegnerin möglich erscheinen lassen (vgl. LVerfG, Urt. v. 14.12.2000 - LVerfG 4/99 -, LVerfGE 11, 306, 314 m.w.N.).

Eine Rechtsverletzung erscheint insofern möglich, als der Ordnungsruf - im Gegensatz zu einer nicht förmlich geregelten parlamentarischen Rüge oder gar einer bloßen Unterbrechung der Rede durch Bemerkungen des amtierenden Präsidenten (BVerfGE 60, 374, 380 ff.; BbgVerfG, Beschl. v. 28.03.2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12, 92, 100) - regelmäßig einen Eingriff in das Rederecht des Abgeordneten darstellt.

III.

Im Rahmen der vorliegenden Antragsbefugnis ist das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine verfassungsgerichtliche Klärung indiziert (LVerfG, Urt. v. 27.05.2003 - LVerfG 10/02 -, DÖV 2003, 765 = LKV 2003, 516 = NordÖR 2003, 359). Alternative und in ihrer Effektivität der Beschreitung des Verfassungsgerichtsweges gleichwertige parlamentarische Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen für den Antragsteller nicht; das Einspruchsverfahren gemäß § 100 GO LT hat er erfolglos durchgeführt (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O., S. 264).

Zwar kann der Ordnungsruf nicht wieder rückgängig gemacht werden. Indes begründet er - seine Unzulässigkeit unterstellt - eine auch heute noch im Organstreitverfahren feststellungsfähige Rechtsbeeinträchtigung des Antragstellers (BVerfGE 10, 4, 11).

C.

Der Antrag ist auch begründet.

Der gegenüber dem Antragsteller in der 72. Sitzung der 6. Wahlperiode des Landtages Mecklenburg-Vorpommern am 03. Juli 2014 erfolgte erste Ordnungsruf hat diesen in seinen durch Art. 22 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 LV gesicherten Abgeordnetenrechten verletzt.

I.

Gemäß Art. 22 Abs. 1 LV sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 1 LV haben sie das Recht, im Landtag und in seinen Ausschüssen das Wort zu ergreifen sowie Fragen und Anträge zu stellen.

1. Nach Art. 22 Abs. 2 Satz 3 LV regelt das Nähere die Geschäftsordnung, so dass die parlamentarische Redefreiheit zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Landtages und der sachgerechten Erfüllung seiner Aufgaben in die dem Parlamentarismus innewohnenden Struktur einer parlamentarische Binnenorganisation eingebunden und durch diese eingeschränkt werden kann (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O. S. 265).

Die parlamentarische Ordnungsgewalt dient dabei neben der Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs und des äußeren Ablaufes der Plenarsitzung auch dem Schutz und der Wahrung der Werte und Verhaltensweisen, die sich in der demokratischen und vom Repräsentationsgedanken getragenen parlamentarischen Praxis entwickelt haben und die durch die historische und politische Entwicklung geformt worden sind (vgl. LVerfG, Urt. v. 29.01.2009 - LVerfG 5/08 -, a.a.O. ).

Soweit es „Wesen und grundsätzliche Aufgabe des Parlaments ist, Forum für Rede und Gegenrede zu sein“ (so schon BVerfGE 10, 4, 13), hat es in diesem Rahmen selbst die Gesamtheit von Normen und Werten zu fördern und zu erhalten, wobei das Parlament über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügt; dabei wirkt die parlamentarische Disziplinargewalt als notwendiges innerparlamentarisches Korrektiv zu dem besonderen Schutz der parlamentarischen Redefreiheit durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Indemnität (Art. 24 Abs. 1 LV).

2. Andererseits stellt die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament eine in der Demokratie unverzichtbare Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben dar, die den Status als Abgeordneter wesentlich mitbestimmt; Parlamentsdebatten sind dabei nicht selten durch heftige Auseinandersetzungen gekennzeichnet, wozu auch überspitzte und polemische Formulierungen gehören können (vgl. LVerfG, Urt. v. 23.01.2014 - LVerfG 4/13 -, S. 11 f. m.w.N.).

Wenn Anlass für eine Ordnungsmaßnahme der Inhalt der Rede eines Abgeordneten ist, ist weiterhin zu berücksichtigen, dass der amtierende Präsident einer strikt zu beachtenden parteipolitischen Neutralitätspflicht unterliegt; gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 GO LT leitet er die Verhandlungen des Landtages gerecht und unparteiisch. Als fehlerhaft und verfassungswidrig einzustufen wäre daher insbesondere ein als Zensur wirkender Versuch, den Vortrag bestimmter Sachverhalte oder Bewertungen zu unterbinden, die der Auseinandersetzung in der Sache aus der Sicht des Redners dienen sollen, ohne dass die Art des Vortrages allgemein oder überwiegend akzeptierten Rede- oder Verhaltensformen zuwiderläuft (vgl. (Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die parlamentarische Praxis, vor § 36 GO BT Anm. 3). Wird dennoch wegen des Inhaltes einer Rede eine Maßnahme verhängt, kann sich dies in der Folge als eine sachfremde Erwägung für die Ausübung des Ordnungsrechtes darstellen (vgl. LVerfG, Beschl. v. 25.03.2010 - LVerfG 3/09 -, LVerfGE 21, 199, 208).

3. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist vor diesem Hintergrund umso intensiver, je deutlicher eine Ordnungsmaßnahme auf den Inhalt der Äußerung und nicht auf das Verhalten des Abgeordneten reagiert. In diesen Fällen muss eine Verletzung oder doch Gefährdung konkurrierender Rechtsgüter vorliegen, die auch Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle ist (vgl. VerfGH Sachsen, Urt. v. 03.12.2010 - Vf. 17-I-10 -, NVwZ- RR 2011, 129, 132).

II.

Im Ergebnis der unter Beachtung dieser Grundsätze vorzunehmenden Abwägung lässt sich der gegenüber dem Antragsteller erfolgte erste Ordnungsruf in keiner Weise als von der Ordnungs- und Disziplinargewalt der Antragsgegnerin gedeckt rechtfertigen.

Anlass für die Maßnahme war der bis dahin vorgetragene Redeinhalt des Antragstellers.

Aus diesem ergeben sich jedoch auch im Lichte der Ausführungen seines Vorredners keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er den Rahmen dessen überschritten hätte, was sowohl in der Auseinandersetzung mit einem politischen Gegner als auch in der Sache an überspitzten und polemischen Formulierungen in einer Parlamentsdebatte schlichtweg hinzunehmen ist; ebenso wenig wurde die Grenze eines Angriffes auf die Menschenwürde erreicht, der (erst) im Falle der Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder sonstiger Verhaltensweisen anzunehmen ist, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen (vgl. LVerfG, Urt. v. 23.01.2014 - LVerfG 4/13 -, S. 14 m.w.N.). Statt dessen hat die Antragsgegnerin ausweislich ihres Schreibens vom 18. August 2014 und des Vorbringens in dem vorliegenden Verfahren vorrangig eine Interpretation der Rede des Antragstellers ausgehend von seiner unterstellten Gesinnung vorgenommen und aufgrund davon abweichender eigener Prinzipien in sein Rederecht eingegriffen, das zum Kernbereich der Abgeordnetenrechte gehört.

Nichts anderes kann daraus folgen, dass der Landtag den Einspruch des Antragstellers gegen den Ordnungsruf später mehrheitlich zurückgewiesen hat. Auch ein noch so überwiegender Konsens einer Parlamentsmehrheit in einer bestimmten Angelegenheit kann angesichts der essentiellen Funktion des Parlamentes als Ort einer gerade gewollten gegensätzlichen Erörterung in der Sache sowie der Bedeutung des Rederechtes der übrigen Abgeordneten grundsätzlich nicht dafür maßgeblich sein, was eine Minderheit zur Verteidigung ihres Standpunktes vorbringen darf.

Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das Verfahren nach § 100 GO LT eine Aussprache über die Begründetheit des Einspruchs verbietet und dadurch nicht erkennbar werden kann, ob die fundamentalen Verfassungsrechte des Abgeordneten hinreichend berücksichtigt worden sind. Zwar kann und sollte die Art und Weise der Wahrnehmung der Ordnungs- und Disziplinargewalt durch die Landtagspräsidentin, gerade wenn es um streitige Fragen bei der angemessenen und neutralen Ausübung dieser Ordnungsgewalt geht, vorrangig im Rahmen der Befassung des Präsidiums und des Ältestenrates - und letztlich auch im Verfahren nach § 100 GO LT durch das Parlament insgesamt - gebilligt oder (im Rahmen der parlamentarischen Selbst- und Binnenkontrolle gegebenenfalls) auch korrigiert werden; das Verfassungsgericht kann damit aber in seiner eigenen Beurteilung am Prüfungsmaßstab der verfassungsmäßig gewährleisteten individuellen Abgeordnetenrechte nicht gebunden werden.

D.

Die Entscheidung über die Kosten und die Auslagen beruht auf § 33 Abs. 1, § 34 Abs. 1 und 2 LVerfGG.

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