BFH, Beschluss vom 09.03.2011 - IX R 9/10
Fundstelle
openJur 2013, 17622
  • Rkr:
Tatbestand

  I. Im Jahr 2005 erhielt die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) als Beschäftigte einer AG einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 64.014 EUR, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit betrugen 63.094 EUR. Bis zum 31. März des Streitjahres (2006) erzielte sie einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 16.699 EUR.

Das Arbeitsverhältnis wurde Ende März durch Ausscheidensvereinbarung mit der AG beendet. Als Ausgleich dafür zahlte die AG eine Abfindung in Höhe von 46.653,48 EUR, in Höhe von 7.200 EUR steuerfrei. Vom 24. Juni bis zum 22. Dezember des Streitjahres bezog die Klägerin Arbeitslosengeld in Höhe von 9.197 EUR. Danach meldete sie ein Gewerbe an und erzielte daraus im Streitjahr negative Einkünfte in Höhe von 13.158 EUR.

In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr beantragte die Klägerin, den steuerpflichtigen Teil der Abfindung (46.653 EUR - 7.200 EUR = 39.453 EUR) nach § 34 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ermäßigt zu besteuern.

Berechnung der Klägerin:

Einnahmen 2005:

§ 19 EStG

64.014 EUR      

  

Einnahmen 2006:

§ 19 EStG  

16.699 EUR

laufende Einkünfte bis 31. März

§ 3 Nr. 9 EStG  

7.200 EUR

steuerfreier Abfindungsteil   

39.453 EUR 

steuerpflichtiger Entschädigungsteil

§ 3 Nr. 2 EStG

9.197 EUR 

steuerfreies Arbeitslosengeld  

Summe 2006:

72.549 EUR

                                                                                                              

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) lehnte dies ab, weil er unter Einbeziehung der negativen Einkünfte nicht zu einer die bisherigen Einkünfte übersteigenden Zusammenballung von Einkünften gekommen sei. Der Einspruch blieb erfolglos.

Berechnung des FA:

Einkünfte 2005:

§ 19 EStG  

64.014 EUR         

- 920 EUR 

Arbeitnehmer-Pauschbetrag       

63.094 EUR  

Einkünfte 2006:

§ 19 EStG   

16.699 EUR 

laufende Einkünfte bis 31. März   

- 920 EUR 

Arbeitnehmer-Pauschbetrag

+ 39.453 EUR 

steuerpflichtiger Entschädigungsteil  

+ 9.197 EUR

steuerfreies Arbeitslosengeld     

64.429 EUR   

§ 15 EStG 

- 13.158 EUR 

= 51.271 EUR

                                                                                                                                                                                                                                           

abweichend in der Einspruchsentscheidung

Einkünfte 2006:

§ 19 EStG   

16.699 EUR

laufende Einkünfte bis 31. März  

- 920 EUR  

Arbeitnehmer-Pauschbetrag

+ 39.453 EUR

steuerpflichtiger Entschädigungsteil    

55.232 EUR  

§ 15 EStG  

- 13.158 EUR

= 42.074 EUR

                                                                                                                                         

Das Finanzgericht gab der Klage statt (Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 1789). Die streitigen außerordentlichen Einkünfte stellten eine "besondere Abteilung" innerhalb der Summe der Einkünfte bzw. der jeweiligen Einkunftsart dar, ihr Umfang sei daher für sich gesondert zu ermitteln. Eine Kürzung um laufende Verluste erfolge nicht.

Gründe

II. In dem anhängigen Revisionsverfahren ist zu prüfen, ob die für die ermäßigte Besteuerung von außerordentlichen Einkünften nach § 34 Abs. 1 EStG (in Gestalt einer an die Klägerin gezahlten Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1 i.V.m. § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG) erforderliche Zusammenballung von Einkünften vorliegt.

Der erkennende Senat hält es für angezeigt, das Bundesministerium der Finanzen (BMF) gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung zum Beitritt aufzufordern. Im Falle eines Beitritts wäre es nach Auffassung des Senats sachdienlich, wenn das BMF zu nachfolgenden Fragen Stellung nimmt.

1. Welche Bedeutung hat die Einordnung der außerordentlichen Einkünfte i.S. des § 34 EStG als "besondere Abteilung"? Bezieht sie sich nur auf das Tatbestandsmerkmal (des § 34 Abs. 1 EStG) "sind in dem zu versteuernden Einkommen ... enthalten" oder hat sie darüber hinaus auch Bedeutung für die sog. Vergleichsberechnung (im Rahmen des § 34 Abs. 2 EStG) bei der Prüfung der Zusammenballung?

2. Im Rahmen der Vergleichsberechnung sind zwei Größen einander gegenüberzustellen: die "Ist-Größe", also das, was der Steuerpflichtige in dem betreffenden Veranlagungszeitraum (Streitjahr) einschließlich der Entschädigung insgesamt erhält, und die "Soll-Größe", nämlich die Einkünfte, die der Steuerpflichtige bei ungestörter Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses (bei normalem Ablauf der Dinge) erhalten hätte. Es fragt sich, welche Einkünfte bei der "Ist-Größe" zu berücksichtigen sind:

- sämtliche positiven und negativen Einkünfte oder

- nur solche, die in einem (gewissen) Veranlagungszusammenhang mit der beendeten Arbeitstätigkeit stehen, und

- auch Lohnersatzleistungen wie im Streitfall das nach § 3 Nr. 2 EStG steuerfreie Arbeitslosengeld (so etwa Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. Februar 2003 XI B 140/02, BFH/NV 2003, 772; BMF-Schreiben vom 24. Mai 2004, BStBl I 2004, 505, Rz 12 2. Absatz letzter Satz vor Beispiel 1)?

3. Nach h.M. kommt es auf einen konkreten Progressionsnachteil nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 4. März 1998 XI R 46/97, BFHE 185, 429, BStBl II 1998, 787, m.w.N.; Schmidt/Drenseck, EStG, 29. Aufl., § 34 Rz 15; Mellinghoff in Kirchhof, EStG, 10. Aufl., § 34 Rz 8; BMF in BStBl I 2004, 505 Rz 12  1. Absatz). Sollte angesichts des Normzwecks des § 34 EStG, nämlich eine für den Steuerpflichtigen im Vergleich zu seiner regelmäßigen sonstigen Besteuerung einmalige und außergewöhnliche Progressionsbelastung abzumildern, die Vergleichsberechnung nicht genau darauf abheben und daher nur im Fall einer tatsächlich höheren Progressionsbelastung der "Ist-Größe" die ermäßigte Besteuerung nach § 34 EStG zur Anwendung kommen?