VG Augsburg, Beschluss vom 08.01.2013 - Au 6 S 12.30404
Fundstelle
openJur 2013, 3219
  • Rkr:
Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12. Dezember 2012 wird angeordnet.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Dem Kläger und Antragsteller wird für das Klage- und das Antragsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten gewährt. Mehrkosten, die dadurch entstehen, dass die Bevollmächtigte ihre Kanzlei nicht am Sitz des Verwaltungsgerichts Augsburg betreibt, werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Der Kläger und Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller) wendet sich gegen seine Abschiebung nach Ungarn.

Der am ... 1996 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste im Juli 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 3. Dezember 2012 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Davor hatte er bereits in Ungarn einen Asylantrag gestellt, wie ein entsprechender EURODAC-Treffer ergab. Die Antragsgegnerin richtete am 9. Juli 2012 ein Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn. Die ungarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 12. Juli 2012 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags.

Mit Bescheid vom 12. Dezember 2012 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an (Ziffer 2).

Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gem. § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn auf Grund des dort zuvor bereits gestellten Asylantrags gem. Art. 16 Abs. 1 c Dublin II VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Auch wenn es zu vereinzelten Unzulänglichkeiten im ungarischen Asylverfahren kommen könne, liege in der Gesamtschau kein eklatanter Missstand vor, der Art. 3 EMRK entsprechend verletzen würde und zwingend zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts Deutschlands führen müsste.

Am 28. Dezember 2012 ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten Klage erheben mit dem Antrag,

den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2012, zugegangen am 21. Dezember 2012, Geschäftszeichen ... aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, in der Bundesrepublik Deutschland ein Asylverfahren durchzuführen.

Mit weiterem Schriftsatz vom 28. Dezember 2012 beantragte der Antragsteller,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12. Dezember 2012, zugestellt am 21. Dezember 2012, Geschäftszeichen ..., herzustellen.

Gleichzeitig wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Klage- und Antragsverfahren beantragt.

Die Klage und der Antrag seien begründet. Der Antrag sei entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG zulässig. Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiege das Interesse der Antragsgegnerin, weil der Ausgang des (Hauptsache-)Verfahrens derzeit zumindest offen sei. Im Hauptsacheverfahren müssten tatsächlich und rechtlich komplexe Fragen beantwortet werden, was im vorläufigen Rechtsschutz nicht möglich sei. Dies wirke sich bei der nur noch möglichen Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers aus.

Darüber hinaus sei fraglich, ob der Antragsteller in Ungarn wirklich einen wirksamen Asylantrag habe stellen können. Er sei bei der Asylantragstellung nicht verfahrensfähig gewesen, so dass nur ein Vormund einen Asylantrag hätte stellen können. Die Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens könne in Ungarn nicht gewährleistet werden. Aus dem Bericht des ungarischen Helsinki-Komitees vom Dezember 2011 sei ersichtlich, dass Rückkehrer, die zu einem früheren Zeitpunkt einen Asylantrag gestellt hätten, das frühere Verfahren nicht fortsetzen könnten. Es bestünden erhebliche Zweifel, dass bei der Durchführung von Asylverfahren in Ungarn die Kernanforderungen des europäischen Rechts beachtet würden. Das ungarische Asylsystem weise erhebliche Mängel auf, so dass der Antragsteller wenige Chancen habe, dass sein Antrag ernsthaft geprüft werde. Die Defizite wögen bei dem Antragsteller besonders schwer, da er gerade erst 16 Jahre alt sei. Es bestehe ein Anordnungsanspruch. Durch den Vollzug der Rückschiebung nach Ungarn würden vollendete Tatsachen geschaffen, die den Antragsteller unzumutbar belasten könnten.

Das (Klage-)Verfahren Au 6 K 12.30403 wurde mit Beschluss vom 7. Januar 2012 der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte.

II.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet, weil nach summarischer Prüfung erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit zumindest der Abschiebungsanordnung nach Ungarn bestehen und im Rahmen der gebotenen Folgenabwägung das private Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht abgeschoben zu werden, das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Abschiebungsanordnung überwiegt.

1. Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere statthaft, weil die eingereichte Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Dezember 2012 kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat, § 75 Satz 1 AsylVfG. Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht die Ausschlussvorschrift des § 34 a Abs. 2 AsylVfG entgegen.

a) Zwar darf nach § 34 a Abs. 2 AsylVfG die Abschiebung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) nicht nach § 80 Abs. 5 VwGO oder § 123 VwGO ausgesetzt werden.

Der Regelung des § 34 a AsylVfG liegt die Konzeption zugrunde, dass Rechtsschutz gegen eine Überstellung im Sinne von § 26 a bzw. § 27 a AsylVfG nur in einem Hauptsacheverfahren erlangt werden kann. Denn für die „Dublin-II-Staaten“ bzw. sicheren Drittstaaten im Sinne von § 26 a AsylVfG ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist und dem Asylsuchenden daher dort keine politische Verfolgung droht (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93BVerfGE 94, 49 ff.). § 34 a Abs. 2 AsylVfG setzt die Rechtsschutzeinschränkung des Art. 16 a Abs. 2 Satz 3 GG insoweit um, als er den Vollzug der Abschiebung in einen sicheren Drittstaat ungeachtet der Anfechtung des Überstellungsbescheides in einem Hauptsacheverfahren sofort vollziehbar zulässt und insoweit vorläufigen Rechtsschutz vollständig ausschließt (vgl. zum ganzen VG Neustadt, B.v. 16.2.2010 – 1 L 136/10.NW – juris; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 34 a AsylVfG Rn. 8).

b) Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift dahingehend vorgenommen, dass der Ausschluss des einstweiligen Rechtsschutzes in besonderen Ausnahmefällen nicht gelten kann. Für die Fälle einer Abschiebung in sichere Drittstaaten hat es einen solchen Ausnahmefall angenommen, wenn der Reiseweg des Betreffenden über einen sicheren Drittstaat ernstlichen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93BVerfGE 94, 49 ff.) oder wenn individuelle konkrete Gefährdungstatbestände geltend gemacht werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassungs oder Gesetzes wegen berücksichtigt werden können (vgl. BVerfG, a.a.O.). Für die nachträglich in die Vorschrift des § 34 a AsylVfG eingefügte Abschiebungsanordnung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) ist der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes darüber hinaus verfassungskonform entsprechend dahingehend einzuschränken, dass er keine Geltung für die Fälle beanspruchen kann, in denen die Anwendbarkeit der so genannten Dublin-II-Verordnung über die Zuständigkeit eines anderen Staates zur Durchführung des Asylverfahrens ernstlichen Zweifeln unterliegt. An die Darlegung eines Ausnahmefalles des Konzeptes normativer Vergewisserung sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93BVerfGE 94, 49 ff.; ausführlich z.B. auch VG Berlin, B.v. 11.4.2011 – 23 L 84.11 A – juris Rn. 6 ff.). Angesichts der besonderen Lage des Antragstellers ist aus Sicht des Gerichts nach derzeitigem Stand insbesondere im Hinblick auf seine Minderjährigkeit ein Ausnahmefall im oben genannten Sinne gegeben.

aa) Zwar handelt es sich bei Ungarn als Mitgliedstaat der Europäischen Union grundsätzlich um einen sicheren Drittstaat im Sinne von Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG, so dass im Grundsatz davon auszugehen ist, dass in Ungarn die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist. Das ungarische Asylrecht steht im Allgemeinen im Einklang mit den internationalen und europäischen Standards und enthält die wichtigsten Garantien. Dennoch gibt es Ausnahmen. Auch in der Anwendungspraxis zeigen sich einige Mängel (UNHCR, Ungarn als Asylland, Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn, April 2012 – im Folgenden: UNHCR-Bericht – S. 6). Unregelmäßigkeiten tauchen vermehrt bei Flüchtlingen auf, die im Rahmen der Dublin-II-Verordnung nach Ungarn rücküberstellt werden. Der UNHCR bewertet den Zugang zum ungarischen Asylverfahren für Dublin-II-Rückkehrer als problematisch (UNHCR-Bericht S. 9). Diese haben nur eingeschränkt Zugang zu einem Asylverfahren, weil sie nicht automatisch als Antragsteller behandelt werden. Ihr Asylantrag wird nach der Rücküberstellung als Folgeantrag gewertet (UNHCR-Bericht S. 9; Amnesty International, Positionspapier zu Rücküberstellungen nach Ungarn, 22. Oktober 2012, S. 1). In den meisten Fällen folge bei einer Rückkehr nach Ungarn die Verhängung von Verwaltungshaft (UNHCR-Bericht, S. 10). Die Asylsuchenden haben im Verfahren zur Prüfung von Folgeanträgen keinen Anspruch auf dieselben Leistungen wie Personen, die einen Erstantrag gestellt haben, selbst wenn ihre Anträge inhaltlich noch nicht geprüft worden sind (UNHCR-Bericht, S. 14).

bb) Ob Ungarn im Hinblick auf die dargestellten Probleme insbesondere bei der Behandlung von Dublin-II-Rückkehrern als sicherer Drittstaat angesehen werden kann, kann dahingestellt bleiben, weil der Antragsteller von den angesprochenen Problemen aufgrund seiner Minderjährigkeit in besonderer Weise betroffen und gefährdet ist. Es liegen damit außergewöhnliche Umstände vor, die eine über das übliche Maß hinausgehende Schutzbedürftigkeit des Antragstellers begründen. Zwar werden unbegleitete Kinder, die Asyl in Ungarn suchen, in einer Kinderfürsorgeeinrichtung des Ministeriums für nationale Ressourcen in Fót untergebracht und in das allgemeine ungarische Kinderfürsorgesystem aufgenommen (UNHCR-Bericht S. 22). Allerdings stellt der UNHCR auch fest, dass das derzeitige Aufnahmesystem nicht ausreichend Rücksicht auf den Grundsatz des Kindeswohls nehme (UNHCR-Bericht S. 15). Aufgrund der Tatsache, dass Asylanträge von Asylbewerbern, die im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens rücküberstellt werden, als Folgeanträge behandelt werden, ist zudem nicht hinreichend gewährleistet, dass der Antragsteller diesen besonderen Schutz auch bei einer Rückkehr nach Ungarn erhält. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen europäischen Standards nicht entsprechen könnten, weil Misshandlungen in der Haft vorkämen, Minderjährige inhaftiert würden oder bei (erneuten) Altersfeststellungen Asylbewerber, die zunächst als Minderjährige eingestuft wurden, als Volljährige angesehen würden (VG Ansbach, B.v. 9.6.2011 – 11 E 11.30254 – juris Rn. 17). Es liegt daher ein Ausnahmefall des Konzeptes der normativen Vergewisserung vor, der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist daher ausnahmsweise zulässig.

2. Der Antrag ist auch begründet, weil das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt. Die Erfolgsaussichten der Klage sind nach derzeitigem Sachstand zumindest als offen zu beurteilen, wobei einiges dafür spricht, dass der Bescheid aufgrund der dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Ungarn drohenden Gefahren rechtswidrig ist und die Antragsgegnerin verpflichtet ist, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Ist die (Hauptsache-)Klage bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO weder offensichtlich zulässig und begründet oder unzulässig und/oder unbegründet, kommt es entscheidend auf die widerstreitenden Interessen der Beteiligten an. Im Hauptsacheverfahren wird auch zu klären sein, ob der Antragsteller bereits im Alter von 15 Jahren wirksam einen Asylantrag in Ungarn stellen konnte. Angesichts der geschilderten Probleme bei der Durchführung der Asylverfahren von Dublin-II-Rückkehrern nach Ungarn und der Minderjährigkeit des Antragstellers überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass bei einer Überstellung des Antragstellers nach Ungarn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Antragsteller dort einer Haft oder Haftbedingungen ausgesetzt wäre, die mit seinem Status als Minderjähriger nicht vereinbar wären (VG Ansbach, B.v. 9.6.2011 – AN 11 E 11.30254 – juris Rn. 19).

3. Dem Eilantrag war daher stattzugeben. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83 b AsylVfG.

4. Weil für die Gewährung von Prozesskostenhilfe die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens maßgebend sind, vgl. § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO, und diese im vorliegenden Fall zumindest offen sind (s.o.) war dem Antragsteller für das Klage- und das Antragsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.