VG Aachen, Beschluss vom 16.11.2012 - 6 L 335/12.A
Fundstelle
openJur 2012, 131266
  • Rkr:
Tenor

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Óberstellung des Antragstellers nach Ungarn vorläufig auszusetzen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Gründe

Der Antrag, mit dem der Antragsteller sich gegen seine Abschiebung nach Ungarn wendet, hat Erfolg.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist statthaft. Nach § 123 Abs. 5 VwGO scheidet ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aus, wenn um vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 VwGO nachzusuchen ist, also in der Hauptsache ein belastender Verwaltungsakt mit der Anfechtungsklage anzugreifen wäre. Im Fall des Antragstellers ist ein anfechtbarer Verwaltungsakt, mit dem seine Óberstellung nach Ungarn angeordnet worden ist, jedoch bislang nicht erlassen worden. Dementsprechend hat der Antragsteller zu Recht vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO beantragt.

Der Statthaftigkeit des Antrag steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG, wonach die Abschiebung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG in einen gemäß § 27 a AsylVfG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes ausgesetzt werden darf, nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

- BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - , juris -

ist § 34 a Abs. 2 AsylVfG nämlich verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass einstweiliger Rechtsschutz in Ausnahmefällen dennoch zu gewähren ist. Dies muss auch dann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - eine Entscheidung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG über die Abschiebung des Asylbewerbers in einen gemäß § 27 a AsylVfG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat noch nicht ergangen ist. Davon ausgehend beruft der Antragsteller sich hier im Hinblick auf die Ausgestaltung des Asylverfahrens in Ungarn in ausreichend substantiierter Form auf einen Ausnahmefall.

Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen (Sicherungsanordnung), wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm der geltend gemachte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und es der sofortigen Durchsetzung seines Anspruchs mittels gerichtlicher Entscheidung bedarf, weil ihm ansonsten unzumutbare Nachteile entstehen (Anordnungsgrund), § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Aussichten des Antragstellers, in einem Hauptsacheverfahren zu obsiegen, nach summarischer Betrachtung höher sind als die Wahrscheinlichkeit, dort zu unterliegen.

Darüber hinaus verpflichtet der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerte Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich und rechtlich wirksame Kontrolle die Gerichte dann, wenn Fragen des Grundrechtsschutzes betroffen sind, bei ihrer Entscheidungsfindung die Folgen abzuwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belastungen wiegen, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden.

Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Kammerbeschlüsse vom 25. Juli 1996 - 1 BvR 638/96 - und vom 20. Februar 2009 - 1 BvR 120/09 -, beide juris.

Davon ausgehend sind die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erfüllt.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Obwohl sich im vorliegenden Eilverfahren nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob dem Antragsteller zuzumuten ist, sich der Durchführung des von ihm durch Antragstellung eingeleiteten Asylverfahrens in Ungarn zu stellen, fällt die mit Blick auf einen Anordnungsanspruch nach der gebotenen summarischen Prüfung sodann vorzunehmende Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, weil hinreichend gewichtige Erkenntnisse dafür sprechen, dass in einem eventuellen Hauptsacheverfahren festgestellt werden wird, dass dem Antragsteller die Rückkehr nach Ungarn als Asylbewerber nicht zuzumuten ist, weil er im Falle einer Óberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EUGrdRCh - ausgesetzt wäre.

Die Kammer stützt diese Wertung auf die Erkenntnisse, mit denen das

VG Stuttgart, Urteil vom 20. September 2012 - Az. A 11 K 2519/12 -, juris, Rdnrn. 19 bis 24,

in einem Hauptsacheverfahren festgestellt hat, dass derzeit in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber mit der Folge bestehen, dass der Kläger des dortigen Verfahrens aus rechtlichen Gründen nicht nach Ungarn überstellt werden konnte. Im Einzelnen führt das VG Stuttgart dazu aus:

"Es obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin II-?Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-?411/10 und C-?493/10 - NVwZ 2012, 417). Wird aufgezeigt, dass systemische Störungen dazu führen, dass Asylanträge nicht einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft und entschieden (Art. 8 Abs. 2 RL 2005/85/EG) sowie die nach Art. 10 RL 2005/85/EG gewährleisteten Verfahrensgarantien für Antragsteller und das Recht auf eine wirksame Óberprüfung ablehnender Asylentscheidungen (Art. 23 RL 2005/85/EG) verletzt werden, handelt der Mitgliedstaat, der den Asylsuchenden gleichwohl an diesen Mitgliedstaat überstellt, Art. 4 GRCh zuwider. Sind den Behörden schwerwiegende Mängel des Asylverfahrens im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund zuverlässiger Berichte internationaler und nichtstaatlicher Organisationen bekannt, darf dem Asylsuchenden nicht die vollständige Beweislast dafür auferlegt werden, dass das dortige Asylsystem nicht wirksam ist; unter diesen Umständen darf sich der ersuchende Mitgliedstaat nicht auf Zusicherungen des ersuchten Mitgliedstaates, dass dem Asylsuchenden dort keine konventionswidrige Behandlung drohen werde, verlassen (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09 - NVwZ 2011, 413). Nach diesen Grundsätzen umfasst die Darlegungslast des Asylsuchenden den Hinweis auf die zuverlässigen Quellen. Macht der Asylsuchende unter Hinweis auf Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen systemische Mängel im Asylverfahren des zuständigen Mitgliedstaates geltend, ist der um Schutz gebetene Mitgliedstaat verpflichtet nachzuweisen, dass das dortige Asylverfahren wirksam und in der Lage ist, den Asylantrag nach Maßgabe unionsrechtlicher Vorgaben zu behandeln. Kann der um Prüfung des Asylantrags gebetene Mitgliedstaat dies nicht belegen und überstellt er gleichwohl den Asylsuchenden an den zuständigen Mitgliedstaat, verletzt er Art. 4 GRCh.

Nach diesen Grundsätzen ist das Gericht der Óberzeugung, dass in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber bestehen.

Der Leiter des österreichischen Büros des UNHCR hat in einer Stellungnahme vom 03.02.2012 an den österreichischen Asylgerichtshof ausgeführt, dass Asylsuchende, die - wie der Kläger - aufgrund der Dublin II-?VO nach Ungarn überstellt werden, unmittelbar nach ihrer Óberstellung regelmäßig eine Abschiebungsverfügung erhalten und darauf basierend in der Regel inhaftiert werden, so dass viel dafür spricht, dass Ungarn Art. 18 der Richtlinie 2005/85/EG nicht beachtet, wonach die Mitgliedstaaten eine Person nicht allein deshalb in Gewahrsam nehmen dürfen, weil sie ein Asylbewerber ist. Eine derartige Praxis wird auch durch die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 09.11.2011 an das VG Regensburg bestätigt. Darin ist ausgeführt, dass der dortige Kläger nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn im Dublin II-?Verfahren zunächst in Györ und anschließend in Nyirbator in Gewahrsam genommen worden sei und sich Asylbewerber in der zuletzt genannten Gewahrsamseinrichtung täglich nur eine Stunde frei bewegen könnten.

Derartige Praktiken werden außerdem in dem vom Kläger vorgelegten Bericht "Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012" von "Pro Asyl" vom 15.03.2012 bestätigt. Nach diesem Bericht wird die Mehrheit der Asylsuchenden in Ungarn und der auf der Grundlage der Dublin II-?Verordnung Óberstellten in besonderen Haftzentren inhaftiert. De facto gebe es keine Möglichkeit, gegen die Inhaftierung ein effektives Rechtsmittel einzulegen. Nach dokumentierten Aussagen von inhaftierten Schutzsuchenden würden den Asylsuchenden in den Haftanstalten systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht. Außerdem sei bei Befragungen der Inhaftierten durch den UNHCR festgestellt worden, dass Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen an der Tagesordnung seien.

Auch der UNHCR spricht in seinem neuesten Bericht zur Situation von Asylsuchenden in Ungarn vom 24.04.2012 unter Darlegung von Einzelheiten von besorgniserregenden Entwicklungen und sieht Verbesserungen als dringend erforderlich an. Auch wenn er in diesem Bericht abschließend die Schritte Ungarns zur Verbesserung der Situation begrüßt, rechtfertigt dies angesichts seiner vorherigen Ausführungen gleichwohl nicht die Schlussfolgerung, dass die aufgezeigten Missstände beseitigt und in Zukunft nicht mehr zu befürchten sind.

Bei dieser dargelegten Sachlage besteht auch im Falle des Klägers die tatsächliche Gefahr, im Falle einer Óberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Denn gegen den Kläger wird nach einer Óberstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ergehen und er wird infolge dessen in Haft genommen werden. In der Haft drohen ihm aber der Einsatz von Beruhigungsmitteln sowie Misshandlungen. Diese Maßnahmen stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar."

Die vorstehend vom VG Stuttgart angeführten Gründe dafür, dass Asylverfahren in Ungarn nicht wirksam und in der Lage sind, Asylanträge nach Maßgabe unionsrechtlicher Vorgaben zu behandeln, hält die Kammer für in einem so hohen Maß überzeugend, dass dem Antragsteller das Risiko, dass für ihn mit einer Óberstellung nach Ungarn verbunden wäre, nicht zuzumuten ist.

Vor diesem Hintergrund muss die mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG vorzunehmende Abwägung auch deshalb zu seinen Gunsten ausfallen, weil das Bundesamt die ihm bekannte Einschätzung der Lage in Ungarn durch das VG Stuttgart und des

VG Trier, Urteil vom 30. Mai 2012 - Az. 5 K 967/11.TR -, juris, Rdnrn. 61 bis 65,

im vorliegenden Verfahren nicht mit beachtlichen Erkenntnissen, die zu gegenteiligen Schlussfolgerungen führen könnten, erschüttert hat.

Schließlich liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Es ist nämlich damit zu rechnen, dass das Bundesamt ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung den Asylantrag des Antragstellers ablehnen und seine Abschiebung nach Ungarn anordnen wird. Dies wird durch die Antragserwiderung des Bundesamtes vom 11. Juli 2012 hinreichend belegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG)

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