BGH, Urteil vom 19.10.1962 - 9 StE 4/62
Titel
Staschynskifall
Fundstelle
openJur 2010, 764
  • Rkr:
Classics Strafrecht
§§ 47, 49, 211 StGB
Tenor

I. Der Angeklagte ist schuldig der Beihilfe zum Morde in zwei Fällen und ausserdem verräterischer Beziehungen.

II. Er wird zur Gesamtstrafe von acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

III. Die Untersuchungshaft wird angerechnet.

IV. Die Kosten des Verfahrens trägt der Angeklagte.

Von Rechts wegen

Gründe

A.

I.

Der jetzt nahezu 31-jährige Angeklagte stammt aus einem Dorf der Westukraine bei L. Er ist das dritte Kind ukrainischer Eltern, die noch leben und griechisch-katholischen Bekenntnisses sind. Er hat zwei Schwestern. Sein Vater bewirtschaftete früher einen kleinen Hof und war als Tischler tätig. In seinen Jugendjahren erlebte der Angeklagte in seinem Heimatdorf, in dem auch eine starke polnische Volksgruppe ansässig war, heftige Volkstums-Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen. Nach dem ersten Weltkrieg war die österreichische Herrschaft über diesen Landesteil von dem neuen polnischen Staat abgelöst worden. Als S. 1937 in die Volksschule kam, wurde als erste Fremdsprache polnisch gelehrt. Ende 1939, bei der Aufteilung Polens zwischen Hitler und Stalin, kam seine Heimat unter sowjetrussische Herrschaft. Für ihn bedeutete dies einen Unterrichtswechsel zur russischen Sprache und das Erleben neuer Gewalttaten zwischen Ukrainern. Polen und Russen. Zwei Jahre später, 1941, kam seine Heimat im zweiten Weltkrieg unter deutsche Besatzung. Die russische Sprache in der Schule wurde durch die deutsche ersetzt. Der Kampf der Ukrainer, die ihr politisches Ziel - Errichtung eines selbständigen, unabhängigen, nicht-kommunistischen Staates - im Jahre 1941 nur für kurze Zeit unter dem Ministerpräsidenten Stetzko erreichten, richtete sich bald auch gegen die deutsche Besatzung. Ab 1943/44, als die deutschen Truppen wieder zurückwichen und die Sowjets zurückkehrten, begann ein jahrelanger, teils offener, teils partisanenartig geführter Widerstand von Ukrainern gegen das sowjetische Regime. Angehörige des Angeklagten unterstützten diesen Widerstand.

Von 1945 ab besuchte S. die Oberschule in L., wo er 1948 das Abitur bestand. Ab Herbst 1948 studierte er an der Mathematischen Fakultät der Pädagogischen Hochschule in L. Ein- bis zweimal wöchentlich fuhr er heim, um bei seinen Eltern Lebensmittel und Geld für seinen Lebensunterhalt zu holen.

II.

1. Im Spätsommer 1950 wurde der Angeklagte auf der Bahn ohne Fahrkarte betroffen und zur Transportpolizei in L. bestellt. Die Transportpolizei ist eine Abteilung des sowjetrussischen Staatssicherheitsdienstes (damals MGB = Ministerium für Staatssicherheit, ab 1954 KGB = Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat) der UdSSR). Ein MGB-Hauptmann Si. vernahm ihn, ohne die Schwarzfahrt zu erwähnen. Er befragte ihn nach persönlichen und familiären Angelegenheiten und nach den Verhältnissen in seinem Heimatdorf. In späteren Vernehmungen erörterte Si. die ukrainische Widerstandsbewegung und deren hauptsächlichste Organisation, die OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Er schilderte die "Sinnlosigkeit" des ukrainischen Widerstandes, die auch unbeteiligte Personen treffenden Gewalttaten der OUN und die Gefahr für alle, welche die OUN unterstützten. "Verhaftung, Bestrafung und Deportation seien ihnen sicher". Si. liess erkennen, dass er die sowjetfeindliche Haltung der Familie S im einzelnen kenne. S. könne für das MGB staatspolitisch wertvolle Arbeit leisten und dadurch seine Familie vor schweren Folgen bewahren. Der damals erst 19-jährige Angeklagte, als junger Mensch leicht beeinflussbar und mit den abgefeimten Methoden des sowjetische Staatssicherheitsdienstes nicht vertraut, sagte seine Mitarbeit zu. Dazu bestimmten ihn die drohenden Repressalien gegen seine Familie, die verwirrenden Erlebnisse blutiger Auseinandersetzungen und Gewalttaten zwischen Ukrainern, Polen und Sowjetrussen, sowie der politische Unterricht auf Oberschule und Hochschule. Dort wurden die OUN-Anhänger als Verräter und ihre Führer als von den Amerikanern finanzierte Agenten hingestellt. Schliesslich dachte S., damals im 5. Semester, auch an sein Studium, das er bei Weigerung als gefährdet ansah.

Kurz danach gab S. eine schriftliche Verpflichtung zum MGB-Dienst mit unbedingtem Schweigegebot ab. Er erhielt den Decknamen "Oleg". In den nächsten Monaten unterrichtete er auftragsgemäss Si. von allen wichtigen Vorkommnissen in seinem Heimatdorf.

2. Im Januar 1951 erklärte ihm Si., er habe einer Widerstandsgruppe der OUN beizutreten, um die näheren Umstände der 1949 im Auftrag der OUN erfolgten Tötung des ukrainischen Schriftstellers G. zu erforschen. S. könne sich dadurch von allen früheren "Sünden" reinwaschen, sowie Eltern und Schwestern vor Verschickung bewahren. Wegen dieser Drohung führte S. auch diesen Auftrag aus. Unter dem Vorwand, kurz vor der Verhaftung durch das MGB zu stehen, was das MGB auch wirklich vorgetäuscht hatte, gewann er Eingang in eine Untergrundgruppe der OUN und erfuhr dort auch die näheren Umstände der Tötung G. Nach etwa zwei Monaten verliess er die Gruppe heimlich und erstattete dem MGB Bericht. Weil nun seine MGB-Tätigkeit ruchbar geworden und Rückkehr zu seinen Eltern unmöglich geworden war, ging S. auf den Vorschlag des MGB ein, das Studium aufzugeben und gänzlich in die Dienste des MGB zu treten. Bis 1952 wurde er dann im L. Gebiet gegen Widerstandsgruppen der OUN eingesetzt.

3. Im Jahre 1952 wurde S. nach Kiew versetzt und dort etwa zwei Jahre hindurch in der Arbeitsweise de. sowjetischen Nachrichtenapparates geschult. Er trug nunmehr den Decknamen "Moros" und erhielt neben politischer Unterweisung auch Deutschunterricht. Daraus ging hervor, dass er später möglicherweise in Deutschland verwendet werden würde. Anfang 1954 gelang es ihm auf Veranlassung des KGB, sich mit seinen Eltern auszusöhnen. Er erzählte ihnen nur, dass er in Kiew lebe und dort arbeite.

4. Mitte 1954 wurde er mit der Lebensgeschichte eines am 4. November 1930 - sein Geburtstag ist der 4. November 1931 - in Lukowek (Polen) geborenen Volksdeutschen J. Le. vertraut gemacht. In Begleitung sowjetischer und polnischer Geheimdienstoffiziere musste er unter dem Namen "Katschor", dem Geburtsnamen seiner Mutter, diejenigen Orte in Polen aufsuchen und sich einprägen, die für diese Legende bedeutsam sind. Sodann wurde er bei F. in die sowjetische Besatzungszone (SBZ) verbracht und seinem künftigen sowjetischen Führungsmann S. A. (S.), einem Offizier des KGB, übergeben. Nach mehrwöchigem Aufenthalt im K. sowjetischen Sperrgebiet, wo ihm der bevorstehende Agenteneinsatz in der Bundesrepublik zur Gewissheit wurde, besuchte er mit S. B. und D., die für die Le.-Legende ebenfalls von Bedeutung sind. In D. erhielt er von der dortigen Volkspolizei-Dienststelle einen Personalausweis für Staatenlose auf "J. Le." und einen Kfz-Führerschein. In den folgenden Wochen machte er sich auftragsgemäss mit deutschen Lebens- und Sprachgewohnheiten vertraut. Er besichtigte auch das ehemalige Konzentrationslager M. Von der deutschen Bevölkerung hielt er sich wegen seiner Sprachschwierigkeiten zurück und weil er infolge seiner politischen Schulung alle Deutschen als "alte Nazis" ansah. Anfang 1955 war er drei Wochen unter dem Namen "Krylow" in einem sowjetischen Militärlazarett, weil er unter starken Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit litt, was er auf den Sturz von einer Schaukel im Jahre 1944 zurückführte. Von April bis August 1955 arbeitete er unter dem Namen "J. Le." als Stanzer in der W.-AG in Z., um für die L.-Legende echte Arbeitspapiere zu erlangen. Die W.-AG wird sowjetisch verwaltet. Ende 1955 bezog er in Ost-Berlin als J. Le. ein möbliertes Zimmer und gab sich weisungsgemäss von da ab als Dolmetscher beim sowjetzonalen Büro für Deutschen Innen- und Aussenhandel (DIA) aus.

III.

1. Im Januar 1956 wurde er angewiesen, mit einem sowjetzonalen Reiseausweis als "Le." nach Mü. zu fahren und dort den Exil-Ukrainer B. (B.) aufzusuchen. B. war unter dem Decknamen "Nadyjtschyn" Agent des KGB, und zwar Spitzel bei der in Mü. von einer ukrainischen Exilorganisation herausgegebenen antisowjetischen Zeitung "Ukrainski Sam.". S. übergab ihm Geld und nahm Nachrichten in Empfang. Diese versteckte er im doppelten Boden seines Koffers und brachte sie nach K zu S. Danach führte er noch mindestens vier Treffen mit B. in Mü. durch. Jeweils lieferte er ihm Geldbeträge ab, manchmal auch über S. erhaltene Briefe von B. Ehefrau, die in der Ukraine lebt. Von B. bekam er schriftliche Aufzeichnungen für S. Bei diesen Zusammenkünften wurde B, der sich in Mü. unsicher fühlte und auf Rückkehr in die Sowjetunion zu seiner Familie drängte, von S. befehlsgemäss, wie dieser sagt, "moralisch und ideologisch aufgerüstet". S. sah damals in den Führern der Exilukrainer, insbesondere in denen der OUN, gemäss seiner politischen Erziehung noch immer "Verräter", die ihre Landsleute nur davon abhielten, in die Sowjetunion zurückzukehren. Auftragsgemäss fühlte er auch bei B. vor, ob dieser bei einer Entführung des in Mü. lebenden ukrainischen Exilpolitikers und damaligen Chefredakteurs der Zeitung "Ukrainski Sam.", L. R., mitwirken könne. B. erklärte aber, er fühle sich beobachtet und sei bereits polizeilich vernommen worden. Im Spätherbst 1956 überbrachte dann S. dem B. einen Interzonenpass und den Auftrag des KGB zu. Rückkehr.

2. Etwa Anfang April 1956 fuhr S. auftragsgemäss nach Mü., um bei dem damals in Mü. ansässigen ... VS-Vertraulich! (im folgenden Zeuge X. genannt) einen Anwerbungsversuch fortzusetzen, den ein anderer KGB-Agent schon begonnen hatte. In Mü. wohnte S. vom 6. April bis 9. April 1956 im Hotel "Helvetia" als "J. Le.". Am 7. April traf er mit dem Zeugen "X." vor dem Prinz-Regenten-Theater zusammen. Er wirkte auf "X." ein, für das KGB tätig zu werden. Auftragsgemäss versuchte er auch, von "X." Informationen über etwa beabsichtigte Demonstrationen oder Anschläge anlässlich des damals bevorstehenden London-Besuches Ch. und Bu. sowie über den für diesen Besuch vorgesehenen Aufenthalt des Herausgebers der ukrainischen Zeitschrift "Ukrainski V.", Vi. B., in London zu erfahren. Ferner fragte er bei "X.", wie auch schon bei B., nach Spannungen zwischen den ukrainischen Emigrantenorganisationen und nach Beziehungen insbesondere der OUN zu deutschen und amerikanischen Nachrichtendiensten. Zur Abfassung und Sichtbarmachung geheimer Nachrichten händigte er "X." Kontaktpapier und Chemikalien für verborgene Schrift aus. Ferner übergab er ihm etwa 300 DM. "X." stellte die Bedingung, das KGB möge ihm zunächst Familienfotos aus jüngster Zeit übermitteln. S. traf sich mit "X." noch im August 1956 und am 23. Februar 1957. Hierbei übermittelte er ihm das Angebot Se., das KGB wolle "X." ein Zusammentreffen mit seiner Ehefrau in West-Berlin ermöglichen. "X." erklärte, er werde sich noch schriftlich äussern. Im August 1956 fotografierte S. auf Befehl Se "X." mittels eines versteckten Fotoapparats. Das Zusammentreffen mit "X." im Februar 1957 wurde ohne S. und des KGB Wissen überwacht und fotografiert. Später legte S. dann noch an zwei versteckten Stellen im Mü. Stadtgebiet Päckchen für "X." ab, die Geld enthielten.

3. Bei seinen mehrfachen Reisen zu B und "X." führte der Angeklagte jeweils 40 - 50 Briefe mit, die ihm von Se. mit dem Auftrag übergeben worden waren, sie in Mü. in Postbriefkästen einzuwerfen. Diese Briefe waren sämtlich an ukrainische Emigranten gerichtet und politischen Inhalts.

Etwa im Herbst 1956 legte S. am späten Abend in einem Versteck auf der Autobahn bei F./M. Geld und Schlüsselunterlagen für einen anderen KGB-Agenten nieder. Bei dieser und bei allen anderen Reisen in die Bundesrepublik notierte er sich auftragsgemäss stets die Kraftfahrzeugnummern amerikanischer Militärfahrzeuge, insbesondere von Lastkraftwagen. Ebenfalls im Jahre 1956 erkundete er in einer süddeutschen Stadt amerikanische Truppenansammlungen. Die Ausführung eines im Jahre 1957 vorgesehenen Auftrags, Nachrichten über eine amerikanische Agentenschule in Oberbayern zu sammeln, unterblieb.

IV.

1. Im Frühjahr 1957 befahl ihm Se., in Mü. den ukrainischen Exilpolitiker L. R. zu beobachten und dessen Wohnung, Arbeits- und Lebensgewohnheiten auszuspähen. Se. schilderte R. als einen einflussreichen Theoretiker und Ideologen der ukrainischen Exilverbände; er und die anderen OUN-Führer hielten die Exilukrainer durch ideologische Beeinflussung, Drohungen und Gewalttaten von der Rückkehr in die Heimat ab. Sie seien auch dafür verantwortlich, dass ihre Gefolgsleute insbesondere vom amerikanischen Nachrichtendienst noch immer als Agenten gegen die Sowjetunion angeworben würden.

Zur Durchführung dieses Auftrages musste sich S. der Personalien des Si. D. aus E., geboren am ... in Re. b. P. bedienen. Er wurde nach E. entsandt, um sich dort über den Stadtteil H. und die damalige Wohnung D. zu orientieren. Im April 1957 händigte ihm S. einen auf "Si. D." ausgestellten, gefälschten. Personalausweis aus, in den S. die Unterschrift "Si. D." eintrug. Er fuhr dann nach Mü. Beim ersten Aufenthalt gelang es ihm, anhand der von Se. erhaltenen Beschreibung R. beim Verlassen des Gebäudes K. platz 8 zu erkennen. Er folgte ihm in der Strassenbahn bis in die Nähe der Haltestelle "Münchener Freiheit". Bei dieser Fahrt trug S. eine Sonnenbrille, wie es ihm beigebracht worden war. Er entdeckte jedoch, dass er der einzige Sonnenbrillen-Träger war. Beunruhigt nahm er sie ab. Seine Unruhe wuchs, weil er nicht das Fahrtziel und daher nicht den Preis für die Fahrkarte kannte. Er glaubte, seine Unruhe müsse auffallen und er könne beobachtet werden. Bei seiner Rückkehr nach Ost-Berlin meldete er seine Wahrnehmungen, aber auch das Bedenken, aufgefallen zu sein. Man beruhigte ihn jedoch.

Anfang Mai und im Juli 1957 fuhr er jeweils für eine Woche zur Beobachtung R. wieder nach Mü. Wie beim ersten Male mietete er sich im Hotel Gr. ein und nahm ein Zimmer mit Aussicht auf die D.strasse. Er stellte fest, dass R. gewöhnlich gegen 9 Uhr das Haus D.strasse 9 betrat, in dem sich damals Büroräume der Zeitung "Ukrainski Sam." befanden, und dass er nach einiger Zeit meist zum Gebäude K. platz 8 ging, in dem Arbeitsräume seiner Exilgruppe waren. Es gelang S. auch, R. bis zu dessen Wohnung in der O.strasse zu verfolgen und die Wohnungstür mit dem Türschild "R." zu fotografieren.

Anlässlich des Juli-Aufenthaltes beobachtete S auftragsgemäss auch den bei der Zeitung "Ukrainski Sam." angestellten Exilukrainer M. Bo. und erkundete dessen Privatwohnung.

2. Se. hatte früher schon oft geäussert, die OUN-Führer müssten beseitigt werden, wenn sie "keine Vernunft annähmen" und die Exilukrainer weiterhin von der Rückkehr abhielten. Im September 1957 musste sich S. bei Se. im Karlshorster Sperrgebiet melden. Bei seinem Eintreffen sagte Se. zunächst nur: "Jetzt ist es soweit, ein Mann aus Moskau ist gekommen". In diesem Augenblick erkannte S., wie er sagt, "schlag- und schockartig", dass seine Beobachtung R. der Vorbereitung von dessen Tötung gedient hatte. Mit innerer Unruhe sah er, wie der Moskauer KGB-Mann eine Waffe vorführte, von der Se. versicherte, sie sei bereits mehrfach und stets mit Erfolg angewendet worden. Es handelte sich um ein gut fingerdickes, etwa 18 cm langes Metallrohr aus drei zusammengeschraubten Teilen. Im unteren Teil befindet sich ein Schlagbolzen, der, gespannt, durch Druck auf eine sicherbare Feder freigegeben wird und dann eine Pulverladung (Zündblättchen) entzündet. Hierdurch wird ein im mittleren Teil liegender Metallkolben bewegt, der eine in der Mündungsröhre befindliche Glasampulle zerdrückt. Diese Glasampulle von rund 5 ccm enthalte, so sagte der Vorführer, ein wasserhelles Gift, das bei Zerstörung der Ampulle nach vorne gasförmig entweiche. Ein Mensch, dem auf etwa 50 cm Entfernung dieses Gas ins Gesicht geschossen werde, atme es ein und sterbe auf der Stelle. Irgendwelche Spuren seien nicht zu entdecken, so dass man keinen gewaltsamen Tod feststellen könne. Für den Attentäter sei das Giftgas unschädlich, wenn er vorher eine bestimmte Gegentablette schlucke und nach dem Attentat sofort eine in Gaze eingenähte Ampulle zerdrücke und das entweichende Gas einatme.

Bei dieser Unterweisung anhand von Wasserampullen wurde es S. "unheimlich", weil er nun sah, dass er einen Menschen töten sollte. Er brachte es zunächst nicht über sich, die Waffe in die Hand zu nehmen und hatte, so sagt er, "nur den einen Wunsch, diese Unterweisung solle schnell vorübergehen". Bereits am nächsten Tage fand jedoch in einem Waldstück ein Versuch mit der Waffe statt. Se. hatte einen kleinen Hund mitgebracht, der an einen Baum gebunden wurde. Der Moskauer KGB-Mann liess S. eine Gegengift-Tablette einnehmen und gab ihm die schussfertige, mit einer Giftampulle geladene Waffe. Vor innerer Erregung konnte S. den Hund, der für ihn "symbolisch ein Mensch war" und ihn vertrauensvoll und neugierig anschnüffelte, nicht ansehen. Mit seitwärts gewandtem Kopf drückte er die Waffe 30 cm vor der Hundeschnauze ab, hörte kaum eine Detonation und beobachtete, dass der Hund sofort zuckend umfiel und kurz darauf tot war. S. roch sogleich an der zerdrückten Gaze-Ampulle mit dem Gegenmittel. Wegen seiner inneren Erregung weiss er heute nicht mehr, ob er sie selber zerdrückt hat und ob Se. und der Moskauer Instrukteur auch an ihr gerochen haben. Der tote Hund wurde liegengelassen; Leine und Halsband nahm Se. an sich.

Bei der wasserhellen Flüssigkeit handelt es sich um Blausäure, bei den Gegenmitteln um Natriumthiosulfat und Amylnitrit.

3. Kurz darauf erteilte S. dem Angeklagten Anweisungen für das Attentat auf R. Den ursprünglichen Plan, die Giftwaffe durch eine exterritoriale Person nach Mü. bringen und dort S. übergeben zu lassen, gab Se. auf, weil er Beobachtung bei Übergabe befürchtete. Stattdessen händigte er S. die geladene und gesicherte Waffe in einer als Würstchenbüchse getarnten Dose aus. Er wies ihn an, die Tat im Bürohaus K. platz 8 auszuführen. Er befahl ihm ferner, die Waffe sofort nach der Tat wegzuwerfen.

S. befand sich in diesen Tagen in schweren inneren Kämpfen. Er schildert dies heute so: "Wie ein Alpdruck lag es auf mir, dass ich nun einen ahnungslosen Menschen töten sollte. Ich rannte wie in einem Käfig umher. Ich wusste zwar, dass man nicht töten darf, aber ich konnte mich doch nicht gegen den Befehl meiner Vorgesetzten auflehnen. Ich wusste ja, in welcher Organisation ich war. Sah ich dann auf der Strasse ein Ehepaar, so dachte ich daran, wie es ist, wenn die Frau plötzlich ihren Mann verliert. In diesem Augenblick glaubte ich, ich würde einen solchen Befehl nie ausführen können. Doch dann versuchte ich auch, eine solche Tötung zu rechtfertigen. Ich erinnerte mich an die Gewalttaten der OUN in meiner Heimat. Ich sagte mir, dass R. doch ein Feind der Sowjetunion sei, weil auch er die Emigranten von der Rückwanderung abhalte und mit dafür verantwortlich sei, dass sie fremde Agenten würden. Ich wusste nicht ein noch aus. Ich gebrauchte bei mir selbst gar nicht mehr das Wort "töten", sondern nur, "die Waffe abdrücken". Ich redete mir ein, es sei wie im Krieg, wo auch der Zweck die Mittel heiligt und Befehle auf Biegen und Brechen auszuführen sind". Zwischen solchen Gefühlen und Vorstellungen ergebnislos hin- und hergerissen, suchte er sein Gewissen auf derartige Weise zu beruhigen, ohne dass ihm dies aber gelang.

4. Am 8. Oktober 1957 ordnete Se. an, dass S. sofort nach Mü zu fahren und die Tat auszuführen habe. Er übergab ihm die Tatwaffe, die Antigift-Mittel, nämlich zehn Vorbeugungstabletten - spätestens am zehnten Tage hatte S. auf jeden Fall zurückzukehren -, und eine in Gaze eingenähte Ampulle, zwei Ausweise, nämlich einen auf "Si. D." ausgestellten gefälschten Personalausweis der Bundesrepublik und einen auf "J. L." ausgestellten Reiseausweis der SBZ. Den Ausweis "D." hatte S. weisungsgemäss auf der Reise und für die Hotelübernachtung zu benutzen, den Ausweis "L." sollte er bei seinen Gängen in der Stadt bei sich führen.

Am 9. Oktober 1957 flog S. mit der "Air-France" als "Si. D." von B. nach Mü. Er stieg im Hotel "Stachus" ab und füllte als Si. D. den damals üblichen Meldeschein aus. Am nächsten und übernächsten Tage schluckte er morgens je eine Vorbeugungstablette, steckte die gespannte und gesicherte Waffe, die, in ein Zeitungsblatt eingerollt, völlig unauffällig wirkt, in die linke innere Rocktasche, stellte sich am K. platz auf und wartete auf R. Vor Aufregung und Skrupeln hatte er kaum schlafen können. Er sagt heute: "Ich hoffte und wünschte, dass R. nicht komme, dann brauche ich die Tat nicht auszuführen." Er sagte sich wie zur Selbstberuhigung, dass er nur hier am K.-platz, wie befohlen, die Tat zu verüben habe, obwohl es vielleicht in der O. strasse besser gehen würde. "Kommt er, dann muss ich es tun; bleibt er aus, so ist mein Auftrag für heute erledigt". Er atmete innerlich auf, als R. an diesen beiden Tagen nicht kam. Andere Orte suchte er nicht auf. Derselbe äussere und innere Vorgang wiederholte sich zunächst auch am 12. Oktober. Doch etwas nach 10 Uhr entdeckte er R., aus der Strassenbahn steigend und dann auf das Gebäude K. platz 8 zukommend. Von nun an handelte der Angeklagte "fast automatisch", was er, wie er sofort hinzufügt, nicht als Entschuldigungsgrund verstanden wissen will. "Es durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag, mein Herz schlug mir in der Kehle; ohne natürlich besinnungslos zu sein, ging ich wie in einem Halbtraum in das Haus und stieg zum ersten Obergeschoss hinauf". Als er dann hörte, wie R. hereinkam, nahm er die eingewickelte Waffe aus der Rocktasche, drehte die Sicherungsschraube heraus und ging R. entgegen. Er sah, dass dieser nichts ahnte. Als sie sich auf dem oberen Drittel der unteren Treppe begegneten, er im Hinabgehen links, R. unmittelbar rechts vor ihm, hob er die rechte Hand, richtete die Waffe auf R. Gesicht, drückte ab, bemerkte nur noch, dass R. nach vorn torkelte und ging eilig die Treppe hinunter. Noch im Hausflur zerdrückte der Angeklagte die Antigift-Ampulle und roch daran. Einzelheiten seiner Umgebung nahm er in der Erregung nicht wahr. "Ich sah vor dem Hause rechts etwas Weisses. Erst nach einem oder zwei Häuserblocks kam mir zum Bewusstsein, dass es eine Frauenbluse gewesen sein muss." Er eilte über Le. platz, O. platz, H. strasse zu dem im hinteren Teil des Hofgartens fliessenden Kö. bach, in den er die Waffe warf. Auf diesem Wege legte sich langsam seine Erregung. "Ich merkte auf einmal, dass die Sonne schien und die Menschen fröhlich waren. Es kam mir vor, als wenn ich es geträumt hätte". Als er danach wiederum den Le. platz in Richtung K. platz passierte, sah er dort zahlreiche Menschen und einen Polizeiwagen stehen. Im Hotel verbrannte er, wie von Se. befohlen, den Reiseausweis "L.", bezahlte die Rechnung und fuhr mit dem nächsten erreichbaren Zug, den er vorher nicht festgestellt hatte, nach F. An diesem Abend konnte er nicht mehr nach B. fliegen. Er buchte bei PAA einen Rückflug für den nächsten Tag unter dem Namen "D.". Unter diesem Namen übernachtete er auch im Hotel "Continental". Am 13. Oktober flog er mit PAA als "D." nach B. Er erstattete Se. mündlich und schriftlich in zweierlei KGB-Schreibweise Bericht. Im ersten Bericht beschrieb er nur seine Hin- und Rückreise. Im zweiten wurde die Tat getarnt beschrieben: "In einer mir bekannten Stadt habe ich mich mit dem mir bekannten Objekt getroffen und es begrüsst. Ich bin sicher, dass die Begrüssung gut ausgefallen ist."

R. wurde am 12. Oktober 1957 gegen 10.40 Uhr im Treppenhaus des Gebäudes K. platz 8 tot aufgefunden. Da eine erst nach über 48 Stunden vorgenommene Obduktion keine Anhaltspunkte für gewaltsamen Tod, aber fast völligen Verschluss eines grossen Herzkranzgefässes durch Einlagerungen ergab, entstand kein Verbrechensverdacht.

1. Etwa eine Woche später liess Se. erkennen, man wisse nun, dass das Attentat erfolgreich verlaufen sei. S. aber, von Schuldgefühl und Gewissensbissen gequält, blieb innerlich erregt. Einerseits setzte er seine Rechtfertigungsversuche vor sich selber fort, anderseits stand ihm aber auch wieder der Tote vor Augen und der Gedanke an dessen Angehörige. In einem fruchtlosen Hin und Her versuchte er, sein Gewissen zu beschwichtigen.

In diesen Zweifeln und Kämpfen fühlte er sich bestärkt durch die Bekanntschaft mit einem Mädchen. Im April 1957 hatte er nämlich im Ost-Berliner Friedrichstadt-Palast die damals 20-jährige I. P. kennengelernt. Er hatte sich ihr als aus Polen stammender Volksdeutscher J. L., Dolmetscher beim sowjetzonalen Büro für Deutschen Innen- und Aussenhandel, vorgestellt. I. P. wohnte damals in Da. (SBZ), einem kleinen Ort westlich von B. Sie war Friseuse und arbeitete in West-Berlin. Obwohl S. bald gemerkt hatte, dass sie das kommunistische System ablehnte, setzte er die Bekanntschaft, zwar oft durch seine "Dienstreisen" unterbrochen, fort. Langsam und vorerst unmerklich wurde er dadurch beeinflusst.

2. Vom 23. bis 25. Mai 1958 weilte S. in Rotterdam, um hier auf Befehl von Se. eine Friedhofs-Gedenkfeier für den im Jahre 1938 einem Attentat zum Opfer gefallenen Begründer der OUN, Oberst Konowalec, zu überwachen. Se. hatte ihn beauftragt, Teilnehmer der Gedenkfeier zu fotografieren. Die Lage des Friedhofe hatte er ihm gezeigt. In Rotterdam beobachtete S. die Gedenkfeier und machte auch einige Aufnahmen. Unter den Autos mit ausländischen Kennzeichen fiel ihm ein dunkelblauer "Opel-Kapitän" mit Mü. Kennzeichen auf. Er erinnerte sich, diesen Wagen schon in München vor einer Kirche, die von Ukrainern oft besucht wird, gesehen zu haben. Beim Weggang stellte er fest, dass der Hauptredner in diesem Wagen den Rotterdamer Friedhof verliess. Über alles dies erstattete er Se. Bericht. Se. forderte eine Skizze der Grabstätte und fragte, ob man dort bei einer Gedenkfeier günstig einen Sprengstoffanschlag durchführen könne. S., erschrocken und abgestossen, verwies darauf, dass dann doch auch Frauen und Kinder umkämen, worauf Se. antwortete: "Die nehmen auch auf unsere Frauen und Kinder keine Rücksicht". Über diesen Punkt ist später nicht mehr gesprochen worden.

VI.

1. Im Herbst 1958 erhielt S. von Se. den Auftrag, in einer West-Berliner Buchhandlung anhand des Buchhändler-Katalogs sämtliche Veröffentlichungen des ukrainischen Schriftstellers St. Po. festzustellen. Seine Erkundigungen blieben ergebnislos. Kurz danach eröffnete ihm Se., er werde für künftige Verwendung in der Bundesrepublik einen Personalausweis auf den in D., K. weg 69, wohnhaften, am 12. April 1927 in Kassel geborenen H. J. Bu. erhalten. Um sich mit dessen Wohnverhältnissen vertraut zu machen, fuhr S. weisungsgemäss nach D. und orientierte sich dort. - Es ist gerichtsbekannt, dass Bundesbürger beim Passieren mancher sowjetzonalen Grenzübergänge ihre Ausweise abzuliefern haben und sie mitunter erst nach längerer Zeit zurückerhalten, und dass derartige Ausweise oft fotografiert und diese Fotos vom sowjetzonalen Staatssicherheitsdienst (MfS) zur Herstellung gefälschter Agentenpapiere verwendet werden.

Im Januar 1959 wurde S. von Se. nach Mü. entsandt, um dort die Wohnung und Lebensgewohnheiten des ukrainischen Emigrantenführers St. Ba., des Leiters der OUN, zu ermitteln. Von Ba. wusste S., dass er ein bedeutender ukrainischer Exilpolitiker war, dass er im zweiten Weltkrieg von den Deutschen verhaftet worden war und nunmehr in Mü. die OUN leitete. Als Se. sagte, dass Ba., der 1958 in Rotterdam die Gedenkrede gehalten habe, möglicherweise unter dem Namen Po. als Schriftsteller lebe, wurde S. die Bedeutung der 1958 erhaltenen Aufträge klar. In Mü. fand er im Telefonbuch den Namen Po. mit Wohnungsangabe Kr. strasse 7. Tags darauf sah er aus diesem Grundstück einen Mann in einem blauen Opel-Kapitän herausfahren. Er erkannte in ihm den Hauptredner der Rotterdamer Gedenkfeier wieder und auch dessen Kraftfahrzeug und wusste also jetzt, dass "Po." St. Ba. war. Darüber erstattete er Se. Bericht.

2. Im April 1959 verlobte sich S. mit I. P. Ende April wurde er nach Moskau beordert.

Hier liess sich ein höherer KGB-Offizier G. A. ("G") über seine Erkundungsergebnisse in Mü. genau berichten. Alsdann eröffnete er S, nach "von höchster Stelle" getroffenem Beschluss habe er nunmehr Ba. auf dieselbe Weise wie R zu beseitigen. S., innerlich wegen der Tat an R. noch zerrüttet, erschrak, ohne sich dies allzusehr anmerken zu lassen. Als KGB-Mann hatte er, wie er sagt, gelernt, sich zu beherrschen. Er wandte zunächst ein, Ba. sei bewaffnet und habe eine Leibwache. Das wies "G." zurück; dann müsse auch der Leibwächter beseitigt werden. Deshalb werde S. eine verbesserte, doppelläufige Waffe erhalten, deren Läufe man zugleich und auch einzeln abschiessen könne. Ein Sieb an der Mündung hemme das Herausschleudern von Glassplittern der Ampulle, so dass beim Opfer keine verdächtigen Gesichtsverletzungen eintreten könnten. Als Tatort wurde die Garage oder das Wohnhaus Ba. festgelegt. Die Tatzeit werde noch befohlen. S. erhob nun keinen weiteren Einwand mehr. Er hielt es für zwecklos, weil er es als KGB-Mann für ganz selbstverständlich ansah, dass die "höchste Stelle" ein Gremium zumindest auf Regierungsebene sein müsse, dessen Befehl auch bei schwersten Gewissensbedenken widerspruchslos auszuführen sei. Er sagte sich auch, vielleicht haben "die da oben" hier etwas vor, dessen wahre Bedeutung ich nicht erkenne. Am Schluss dieser Besprechung liess "G." Sekt kommen und trank auf erfolgreiche Durchführung. S. erhielt dann eine Tribünenkarte für die Mai-Parade auf dem Roten Platz. Vor der Rückreise erhielt er noch in Moskau die doppelläufige Waffe, verpackt in einen Metallzylinder, sowie Anweisungen für die Zollkontrolle, sofern die Reisepapiere mit der Feldpostnummer des KGB nicht ausreichen sollten. Am 4. Mai übergab er die Waffe in Ost-Berlin an Se., der bereits über die Moskauer Besprechung informiert war.

3. Befehlsgemäss flog S. am 10. Mai 1959 nach Mü. Se. hatte ihm am Vorabend die Waffe unverpackt wieder übergeben, ferner einen auf "H. Bud." lautenden Personalausweis, die Gegenmittel und einen Schlüssel mit auswechselbaren Schlüsselbärten für die Haustür K. strasse 7. Auch diesmal durfte S. höchstens zehn Tage ausbleiben.

Am 2. oder 3. Tage seiner Anwesenheit in Mü. bot sich S., der am Nachmittage auftragsgemäss nur das Haus K. strasse 7 beobachten wollte, unerwartet eine Tatgelegenheit. Ba. fuhr ohne Begleitung in die im Hof des Wohnhauses gelegene Garage ein. S., hoch erregt, ging auf die Toreinfahrt zum Hof zu und sah Ba. in der Garage stehen. Ihm schoss durch den Kopf: "Der Tod ist zu ihm unterwegs. Gleich lebt er nicht mehr. Er hat dir doch nichts zuleide getan. Er ist doch auch ein Mensch. Ich kann es nicht". Ohne noch an den Auftrag, "die Feinde des Volkes und die Verräter zu beseitigen", oder an die Folgen für sich selbst zu denken, drehte er sich unter dem Einfluss dieser übermächtigen Vorstellung um und lief weg in Richtung Hofgarten zum Kö. bach. Dort hielt er die Waffe über ein Brückengeländer, schoss ab und warf sie ins Wasser. Kurze Zeit fühlte er sich jetzt erleichtert. Dann überkam ihn die Befehlsautomatik wieder. Er fürchtete die Folgen, wenn er unverrichteter Dinge zurückkommen würde. Zur Bemäntelung probierte er am nächsten Tage an der Haustüre K. strasse 7 den Schlüssel mit den Einsatzbärten aus. Hierbei brach einer der Bärte ab. Um Initiative vorweisen zu können, kaufte er ein Etui mit drei Feilen. Im Hotel feilte er den Aluminiumschlüssel seiner Ost-Berliner Wohnung auf das ungefähre Mass von Ba. Haustürschloss ab, wodurch er sehr dünn wurde. Als er diesen zurechtgefeilten Aluminiumschlüssel in der Haustüre K. str. 7 ausprobierte, brach auch dieser Bart ab und fiel - wie der vom Patentschlüssel - in den geräumigen Schlosskasten.

In Ost-Berlin berichtete er Se. wahrheitswidrig, auf dem Garagenhof sei unvermutet jemand erschienen, so dass die Tat unmöglich geworden sei. Er fürchtete nämlich, nach KGB-Methode in Mü. durch das KGB beobachtet worden zu sein, sagte sich aber, ein Aufpasser könne zwar die Strasse, aber nicht, ohne ihm aufzufallen, die Vorgänge im Garagenhof beobachtet haben. Seine Darstellung sei also nicht widerlegbar. Als weiteren Beweis zeigte er den abgebrochenen Aluminiumschlüssel vor. Auf Verlangen fertigte er nach dem Gedächtnis die Skizze eines Schlüsselbartes an, der wohl passen könne. Wenige Tage später erhielt er vier einander ähnliche Schlüssel gemäss seiner Skizze. Um diese Nachschlüssel zu erproben, musste er wiederum nach Mü. reisen. Diesmal hatte er beim Öffnen der Haustür Erfolg.

Bei dieser Reise hatte S. ausserdem die Mü. Wohnung und Beschaffenheit des Türschlosses des ukrainischen Exilpolitikers "Dankiw" festzustellen. Er wusste, dass dies der Tarnname des früheren ukrainischen Ministerpräsidenten St. war. Er vermutete auch, dass diese Erkundung der Vorbereitung eines Anschlags auf St. diene. Befehlsgemäss führte er auch diesen Auftrag durch.

4. Im August 1959 verbrachte S., wie alljährlich, einen Urlaub bei seinen Eltern. Anfang Oktober 1959, nachdem er schon insgeheim gehofft hatte, das KGB werde ihm keine weiteren Attentate zumuten, eröffnete ihm Se. von "oberster Stelle aus Moskau" sei soeben die Anweisung gekommen, S. habe nunmehr Ba. zu beseitigen. Er sah, dass seine Hoffnung vergeblich gewesen war. Einwendungen und Gegenvorstellungen bei Se. hielt er für nutzlos, weil dieser nur Befehlsübermittler und, wie er sagt, offensichtlich ein Zyniker war, und weil schon die Einwendungen bei dem rangmässig höheren "G." in Moskau im Januar 1959 wirkungslos geblieben waren. Zu seinen bohrenden Zweifeln und Selbstvorwürfen trat nun wieder das qualvolle Hin und Her wegen des neuen Auftrags. Er wusste: "Du sollst nicht töten" und suchte zur vorübergehenden Beschwichtigung wieder den "Feind der Sowjetunion", den Befehl, die kommunistische Lehre, ins Feld zu führen. Er fürchtete, als Attentäter R. und Geheimnisträger wegen des neuen, von "höchster Stelle" befohlenen Attentats auf Ba. sei er ausweglos schuldig und verstrickt. Auch vermutete er, seine Vorgesetzten könnten schon Zweifel an seiner Verlässlichkeit haben, weil ihm Sergej kurz vorher ein angebliches Foto von Ba. gezeigt hatte, das aber eine andere Person darstellte. An die Berechtigung des ihm erteilten Befehls glaubte er kaum noch.

Nach Ausrüstung mit einer doppelläufigen Waffe, den Gegenmitteln, einem passenden Nachschlüssel für das Haus K. strasse 7 und einem auf "Budeit" lautenden Personalausweis flog S. am 14. Oktober 1959 wieder nach Mü. Er stieg im Hotel "Salzburg" als "Budeit" ab. Als Tatort hatte ihm Se. in erster Linie Ba. Wohnung und als Tatzeit - wie bei R. - die Zeit bis mittags vorgeschrieben. Am Vormittag des 15. Oktober 1959 nahm S. die Schutztablette ein und beobachtete das Haus Z. strasse 67, wo Ba sein Büro hatte. Dort bemerkte er Ba. Wagen. Gegen 12 Uhr sah er, dass Ba. mit einer Frau wegfuhr, und nahm an, damit werde er für diesen Tag wohl aufatmen können. Anweisungsgemäss fuhr er trotzdem mit der Strassenbahn zur K. strasse. Dort beschloss er gleichsam zur Probe, als "Orakel", genau bis 13 Uhr auf Ba. zu warten. "Kommt er bis dahin, muss ich es tun, noch einmal zurücktreten kann ich nicht. Ich kann beobachtet werden. Bleibt er aus, so gehe ich weg." Voller Erregung und Hoffnung schaute er fortwährend auf seine Uhr. Kurz vor 13 Uhr als er schon aufatmen wollte, sah er Ba. ohne Begleitung im Wagen herankommen und in den Hof einfahren. Von nun an lief, wie er sagt, "eine Art von zielsicherer Automatik" in ihm ab. Die Hoffnung wich dem "Zwange" ("Nun muss ich es tun"). Er entsicherte die in ein Zeitungsblatt eingerollte Waffe, öffnete die Haustür und betrat das Haus. Als er im Begriff war, die Treppe hinaufzusteigen, hörte er, wie sich oben eine Frau mit "auf Wiedersehen" verabschiedete und herunterkam. Um von ihr nicht erkannt zu werden, wandte er sich der Fahrstuhltür im Erdgeschoss zu und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Ob der Fahrstuhl gekommen ist und ob er dessen Tür geöffnet hat, weiss er trotz sonst ausgezeichneten Gedächtnisses nicht mehr. Jedenfalls liess er die Frau das Haus verlassen, ohne dass sie sein Gesicht gesehen haben konnte. Seine Erregung war inzwischen mächtig geworden. Er kann sich nicht mehr erinnern, ob er mit dem Fahrstuhl oder über die Treppe ins Obergeschoss gelangt ist. Dort hörte er alsbald, dass die Haustür geöffnet wurde. Daraufhin ging er hinunter und sah, dass Ba., soeben hereingekommen, im rechten Arm ein Körbchen mit Tomaten, jedenfalls mit "etwas Rotem", mit der linken Hand versuchte, den anscheinend verklemmten Türschlüssel wieder abzuziehen. Um diese Verzögerung zu überbrücken, bückte sich S. und tat, als ob er an seinen Schuhriemen nestele, obwohl er Halbschuhe ohne Schuhbänder trug. Gleich darauf ging er auf Ba. an der Haustür zu, sagte im Vorbeigehen etwa "Funktioniert es nicht?", fasste mit der linken Hand den äusseren Türknopf, richtete mit der rechten Hand die von der Zeitung verdeckte Waffe auf den Kopf des ahnungslosen Ba., drückte beide Abzüge zugleich ab, was ohne Mühe möglich war, und zog die Haustür eilig von draussen zu. Dann zerdrückte er die Gegenampulle, atmete den Inhalt ein und lief in Richtung zum Hofgarten. Den Nachschlüssel warf er ohne besondere Überlegung in ein Gully, die Waffe wiederum in den K. bach. Noch am selben Tage fuhr er mit dem ersten besten Zug nach F. Dort stieg er im Hotel "Wiesbaden" als "Budeit" ab. Noch am Abend buchte er bei BEA für den nächsten Tag einen Flug nach B. In seiner Erregung hatte er bei der Flugbestellung Sprachschwierigkeiten und fürchtete, aufzufallen. Um als Ausländer zu gelten, buchte er daher nicht unter dem Namen Budeit, sondern spontan als "Kowalski". In Ost-Berlin erstattete er Se. wie schon bei R. Bericht. Dieser beglückwünschte ihn zu der Tat, von deren Gelingen er schon abends vorher im Rundfunk und morgens in der Tagespresse erfahren hatte. Wegen der Benutzung des Namens "Kowalski" rügte ihn Se., weil er bei Kontrolle keinen entsprechenden Ausweis hätte vorzeigen können.

Ba. wurde am Tattage um 13.05 Uhr sterbend auf dem Treppenabsatz des ersten Obergeschosses aufgefunden. Er verschied kurz darauf. Unter seinem Rock trug er auf der rechten Seite in einem Traggurt eine Pistole. Wegen Verbrechensverdachts wurde er unverzüglich seziert. Die Obduktion ergab Gesichtsverletzungen durch kleine Glassplitter und als Todesursache Vergiftung durch Blausäure.

VII.

Im November 1959 wurde S. von Se. im Karlshorster sowjetischen Sperrgebiet einem sowjetischen General vorgestellt, in dem er den KGB-Leiter von Ost-Berlin vermutete. Stehend und mit einem Glas Kognak in der Hand erklärte der General, für die Durchführung eines "wichtigen Regierungsauftrags" sei S. der Kampforden des "Roten Banners" verliehen worden, den ihm der KGB-Chef Schelepin in Moskau aushändigen werde. Während des Essens liess sich der General Einzelheiten über die Attentate berichten. Nach der Ordensverleihung müsse S. einige Zeit in Moskau bleiben, bis über die Sache Ba., die "etwas Aufsehen erregt habe", Gras gewachsen sei. Er werde in Moskau für spätere Aufträge "im Westen" weiter ausgebildet werden. S. fürchtete und schämte sich, war still und hielt sich zurück. Inzwischen war seine innere Wandlung nämlich an einem Wendepunkt angekommen.

Kurz vor diesem Karlshorster Gespräch hatte er in Ost-Berlin in der Wochenschau Aufnahmen von der offenen Aufbahrung Ba. gesehen. Als er das krampfartig entstellte Gesicht der Leiche sah, durchfuhr ihn "wie ein Hammerschlag, nein wie ein Schock", was er "sich aufs Gewissen geladen" habe. Aufgewühlt und verstört - an den Hauptfilm erinnert er sich nicht, weil er sich tief in den Sitz gekauert habe - verliess er das Kino und suchte ohne Rücksicht auf Vertrauensverlust Zuspruch bei Se. Dabei sprach er auch von "der armen Witwe und den armen Kindern". Se., nach S. Eindruck "ungerührt und kalt", erwiderte, "Ba. Kinder würden später einmal dafür dankbar sein, wenn sie in die Sowjetunion zurückgekehrt sind". Darüber entsetzte sich S. "Da hätte ich ein hundertzwanzigprozentiger Kommunist sein müssen, um mit so etwas einverstanden zu sein. In diesem Augenblick verlor ich einen weiteren Teil meiner kommunistischen Überzeugung". Er wendete sich noch mehr seiner Braut zu, obwohl ihm Se. mehrfach dringend nahegelegt hatte, diese für einen KGB-Mann störende Verbindung zu einer Deutschen aufzugeben. Er nahm sich fest vor, fortan nie mehr einen Tötungsauftrag durchzuführen. Für eine Flucht nach dem Westen, der ihm trotz seiner Braut innerlich noch fremd, unheimlich und geistig fern erschien, glaubte er "die Zeit noch nicht reif". Auch wollte er die versprochene Moskauer Sprachausbildung nicht einbüssen.

Ende November 1959 wurde S. nach Moskau befohlen, seiner Braut gegenüber als DIA-Dienstreise nach Polen getarnt. In Moskau wurde er zu dem KGB-Abteilungsleiter Al. Al. ("Alexej") gebracht. Dieser erläuterte die bereits in Karlshorst angedeutete weitere Ausbildung dahin, dass S. in Moskau vor allem sein Deutsch vervollkommnen und anschliessend Englisch lernen müsse. Später werde er in Westeuropa verwendet werden. Alsdann kam "Alexej" auf S. Braut zu sprechen. Diese Verbindung und insbesondere eine Heirat mit dieser Ausländerin passe für einen KGB-Mann nicht. S. widersprach, die Trennung würde ihm sehr schwerfallen, weil er seine Braut schon so lange kenne, er könne und wolle sie nicht einfach sitzenlassen. Eine Heirat könne doch seine spätere "Legalisierung" in Deutschland erleichtern. "Alexej" entgegnete, er könne S. nur raten, "noch einmal reiflich zu überlegen". S. wusste, dass dies in der KGB-Sprache hiess, er habe in aller Kürze die Trennung von seiner Braut zu melden. Er war aber entschlossen, an ihr festzuhalten, weil nur sie ihm helfen könne, sich endgültig vom Verbrechen, von der drohenden Laufbahn als "Berufsmörder" und vom KGB zu lösen.

Am 4. oder 5. Dezember 1959 hatte sich S. bei Sch. zu melden. Dieser, seit 1952 Mitglied des ZK der KPdSU und des Obersten Sowjets, war Ende 1958 Chef des KGB geworden, obwohl er als Politiker nicht dem KGB entstammt. Ausser Sch. war noch der Abteilungsleiter "Alexej" sowie G. Ak., der S. im April 1959 den Auftrag zur Tötung Ba. übermittelt hatte, anwesend. Sch. las aus einer Urkunde vor, für die Durchführung eines "wichtigen Regierungsauftrags" sei S. durch Beschluss des Präsidiums des Oberster Sowjets vom 6. November 1959 der Kampforden des Roten Banners verliehen worden. Dann zeigte er S. die Urkunde, wies auf die Unterschriften von Woroschilow, damals Vorsitzender des Präsidiums, und von Georgadse, damals Sekretär des Präsidiums, hin. Die Ordensurkunde wurde wegen ihres geheimen Charakters zu den Personalakten genommen. Sch. liess sich dann das Ba.-Attentat genau schildern, stellte Fragen und verlangte eine Skizze vom Tatort. Aus den durchweg treffsicheren Fragen Sch. schloss S., dass er auch bei diesem Attentat vom KGB überwacht worden sei. Sch. sprach sodann von S. weiterem Werdegang und persönlichen Verhältnissen. Trotz der Ablehnung "Alexejs" bat S. eindringlich und hartnäckig um die Erlaubnis zur Heirat mit I. P. Er schilderte sie als wertvollen, sowjetfreundlichen Menschen, mit dem er sich gut verstehe. Dem kommunistischen System sei sie aufrichtig zugetan. Sch. erklärte, es gäbe auch in der Sowjetunion hübsche Mädchen. S. liess aber nicht nach. Seine damalige Hartnäckigkeit und List erklärt er so: "Es ging um meine Seele. Ich verabscheute doch schon meine Taten und stand an einem Scheideweg. Ohne Heirat mit meiner Braut wäre ich vielleicht wieder ein linientreuer Kommunist und hundertprozentiger KGB-Mann geworden. Deshalb belog ich Sch., um mein Ziel zu erreichen". Sch. gab schliesslich die Einwilligung zur Heirat, sofern sich die Braut in Moskau, wo sie sich von der sowjetischen Wirklichkeit überzeugen könne, als politisch zuverlässig erweise und dann verspreche, ihren Mann später bei seiner Agentenarbeit zu unterstützen. Immerhin sei sie Bürgerin eines kommunistischen Landes, zu dem man freundschaftliche Beziehungen habe und dem gegenüber man sich nicht misstrauisch zeigen solle. Einige Tage später erhielt S. die Anweisung, er möge seiner Braut vorsichtig eröffnen, er sei nicht Dolmetscher beim DIA, sondern Mitarbeiter des sowjetzonalen Staatssicherheitsdienstes. Diese Arbeit sei staatspolitisch wertvoll. Er möge sie fragen, ob sie ihn hierin nach der Heirat unterstützen wolle. Stimme sie zu, so hätten sie beide im Januar 1960 nach Moskau zu kommen; falls sie ablehne, habe er allein nach Moskau zurückzukehren. Auf keinen Fall dürfe er seiner Braut schon jetzt offenbaren, wer er wirklich sei. Dies dürfe er erst nach der Heirat tun, jedoch ohne Mitteilung der beiden Attentate. Durch die unrichtige Mitteilung, S. sei Agent des MfS, sollte einer etwaigen Panne möglichst ohne Schaden vorgebeugt werden, und zwar zum Nachteil der SBZ und nicht der Sowjetunion.

Weihnachten 1959 kehrte S. nach Ost-Berlin zurück. Se. war bereits unterrichtet. Trotz des Verbots, West-Berlin jetzt zu betreten, holte S. noch am Ankunftstage seine Braut bei ihrer West-Berliner Arbeitsstelle ab und fuhr mit ihr nach Da., um dort mit ihr die Weihnachtstage zu verbringen. Entgegen der ausdrücklichen KGB-Anweisung offenbarte er sich nach sorgfältiger Überlegung nunmehr seiner Braut vollständig, ausgenommen die beiden Attentate, die er ihr später mitteilen wollte. Er war überzeugt, nur nach vollständiger Offenbarung bei ihr wirklich Hilfe finden zu können. Nach Überwindung des ersten Schocks erklärte ihm seine Braut, sie halte zu ihm, sie schlage aber vor, dass sie beide "sofort nach dem Westen gehen". Damit konnte sich S. damals noch nicht befreunden. "In meiner politischen Einstellung war ich zwar schwankend geworden, aber noch nicht zu einem solchen Schritt entschlossen. Das würde später kommen müssen. Der Westen war mir bei meiner Erziehung noch fremd. Auch wollte ich die bevorstehende Moskauer Ausbildung dazu benutzen, um mich in der deutschen Sprache zu vervollkommnen, damit mir später im Westen der Aufbau einer neuen Existenz leichter falle". Sie einigten sich dahin, beide nach Moskau zu fahren. Ihren Eltern gegenüber solle es bei der L.-Legende bleiben. Dem KGB gegenüber habe sich I. P. so zu verhalten, als ob sie S. für einen MfS-Agenten halte. Ihr wirkliches Wissen habe sie sorglich zu verbergen und sich sowjetfreundlich zu gebärden. So geschah es. Während des zweimonatigen Moskauaufenthalts von Anfang Januar bis Anfang März 1960 gelang es S., seinen Vorgesetzten prosowjetische Haltung seiner Braut vorzutäuschen und Heiratserlaubnis zu erhalten. Gegenüber I. P. Eltern musste die Moskau-Reise als DIA-Dienstfahrt nach Warschau ausgegeben werden. Deshalb wickelte das KGB den Postverkehr mit ihnen über Warschau ab und stellte für die Rückreise auch Ansichtskarten, Preislisten und kleine Geschenke aus Warschau zur Verfügung. Nach Ost-Berlin zurückgekehrt, heirateten sie am 23. April 1960 vor dem Standesamt Berlin-Mitte. Kurz vorher hatte S. die sowjetzonale Staatsbürgerschaft erhalten.

Auf Wunsch der Braut und mit Rücksicht auf seine Eltern liessen sich beide auch evangelisch trauen, obwohl das KGB dagegen war. S. brachte für diesen Schritt aber vor, auf diese Weise habe er doch einen unauffälligeren Start als KGB-Agent. Die Hochzeitsfeier fand im Elternhaus der Braut statt. An ihr nahmen Verwandte der Braut teil, darunter der Zeuge V.

Anfang Mai 1960 übersiedelten beide befehlsgemäss als Ehepaar "Krylow" nach Moskau. Gegenüber den Eltern seiner Frau hatte auch diese Fahrt auf KGB-Anweisung als längere DIA-Dienstreise nach Warschau zu gelten.

In Moskau lebten sie in einer l-Zimmer-Wohnung, die angeblich einem verreisten KGB-Mitarbeiter gehörte. Eine KGB-Angestellte erteilte S. Deutschunterricht. Er erhielt zahlreiche deutsche Bücher, deutsche und russische Zeitungen und Zeitschriften sowie besprochene Tonbänder zur akzentfreien Erlernung des Deutschen. Beide wurden durch ausgewählte Museen und Betriebe geführt, um durch die sowjetische "Wirklichkeit" beeindruckt zu werden. Statt dass Frau S., wie es ihres Mannes Vorgesetzte wünschten und voraussetzten, dadurch zur überzeugten Kommunistin wurde, beeinflusste sie ihn, über dessen politische Denkweise sie einmal sagte: "Wie kannst Du, sonst nicht dumm, eigentlich so blöd sein?", immer mehr im antikommunistischen Sinne, so dass ihm die Augen schliesslich völlig aufgingen und seine Zweifel und sein Misstrauen gegen das Bisherige gänzlich die Oberhand gewannen. Auch die Lebensverhältnisse in Moskau, das er noch nicht näher gekannt hatte, enttäuschten ihn.

Alles dies scheint beim KGB nicht ganz unbemerkt geblieben zu sein. Das Verhältnis zu ihrem Führungsmann Se. Bog. ("Sergej II") verschlechterte sich nämlich. Auch entdeckten beide eines Tages bei der Wanzensuche im Zimmer eine verborgene Abhörvorrichtung. S. stellte durch einen Versuch mit seinem Tonbandgerät fest, dass versteckte Mikrofone vorhanden sein mussten. Daraufhin besprachen sie sich über Wichtiges nur noch mit Hilfe von Zetteln und auf Spaziergängen. Ihre Verwandtenpost wurde ganz offenkundig zensiert. Dagegen protestierte S., "man sei nicht im Kriege". Als S. im September 1960 "Sergej II" von der Schwangerschaft seiner Frau und von ihrer Freude auf das Kind berichtete, verlangte "Sergej II" Abtreibung, da ein Kind jetzt "unerwünscht" sei, sonst aber müssten sie es in ein Heim geben und dort aufwachsen lassen. Den Höhepunkt des Zerwürfnisses und den endgültigen inneren Bruch brachte um die Jahreswende die unerwartete Verweigerung der früher zugesagten gemeinsamen Reise nach Ost-Berlin unter durchsichtigen Vorwänden. Offensichtlich wollte man sie nicht mehr gemeinsam reisen lassen, sondern immer einen von beiden in Moskau zurückhalten. Daraufhin gestand S. seiner Frau nun auch die beiden Attentate mit allen Begleitumständen, so dass sie jetzt über sein Leben und seine Schuld vollständig unterrichtet war. Jetzt war er zur Flucht um jeden Preis endgültig entschlossen, und auch zur Täuschung des KGB mit den dort erlernten Methoden. Als ihnen die gemeinsame Reise unwiderruflich abgelehnt wurde, erreichte er es durch lange hartnäckige und listige Verhandlungen, dass wenigstens seine Frau Ende Januar 1961 nach Ost-Berlin fahren durfte, um angeblich für kurze Zeit ihre Eltern zu besuchen. Er gab ihr unauffällige Stichworte für briefliche Mitteilungen und dazu wiederum Instruktionen mit, wie sie unter Umständen auch ihm vielleicht zur Ausreise nach B. zwecks Flucht verhelfen könne. Wenn nötig, sollte sie ihren B. Aufenthalt bis zur Entbindung verzögern, notfalls geeignete Hilfe zur Flucht erwirken und von B. aus Sch. brieflich bitten, ihren Mann zur Entbindung nach B. reisen zu lassen. Als Verzögerungsgrund könne sie ihren kürzlichen Aufenthalt in einem Moskauer Krankenhaus verwenden. Sie hatte Schwangerschaftsbeschwerden, weil sie zu schwer gehoben hatte.

Nach Abreise seiner Frau setzte S. sein Deutschstudium nunmehr an dem "Ersten Moskauer Staatlichen Pädagogischen Institut für Fremdsprachen" fort. Hierfür erhielt er Personalpapiere auf seinen richtigen Namen. Der Institutsleitung war er als KGB-Mann bekannt. Ferner wurde ihm vom "Direktor des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts, Postschliessfach 946", einer auf diese Weise getarnten KGB-Dienststelle, eine "Dienstliche Beurteilung" ausgestellt. Darin wurde ihm bescheinigt, dass er für die "erfolgreiche Tätigkeit bei Bearbeitung eines wichtigen Problems .... gemäss dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 6. 11. 1959 mit dem Orden des Roten Banners ausgezeichnet" worden sei.

Seiner Frau war es trotz Ost-Berliner KGB-"Betreuung" mit Hilfe einer Erkrankung gelungen, den Aufenthalt bei ihren Eltern bis zur Entbindung zu verlängern. Sie teilte ihm am 31. März 1961 telegraphisch die Geburt des Sohnes Peter mit. Hiervon berichtete S. am nächsten Tage "Sergej II", der zugleich seinen Nachfolger, J Ni. ("Jurij") mitgebracht hatte. S. Bitte, Frau und Kind besuchen zu dürfen (um so seinen Fluchtplan zu fördern), wurde abgelehnt. Im Gegenteil drängte das KGB energisch darauf, dass Frau S. ihre Schonungsbedürftigkeit, die zunächst wirklich bestand, dann vorgetäuscht wurde, an die man beim KGB aber noch glaubte, überwinde und bald nach Moskau zurückkehre. Weil die Briefe ihres Mannes immer mehr dessen wachsende Mutlosigkeit zeigten und weitere Täuschung des KGB auch kaum möglich schien, bereitete Frau S. ihre Rückreise nach Moskau für Anfang August 1961 vor und beschaffte bereits die Reisepapiere und Ausreisevermerke. Da erkrankte das Kind plötzlich und starb am 9. August 1961. Der Tod wurde S. nach Moskau telefonisch durch seine Frau und telegraphisch durch seinen Schwiegervater P. mitgeteilt. Mit Hilfe dieses überraschenden Ereignisses gelang es S., "Jurij", der ohnedies die Aufgabe hatte, das Verhältnis zum KGB wieder zu verbessern, von der Notwendigkeit sofortiger Reise nach Ost-Berlin zu überzeugen. Diese Reise, so machte S. dringlich geltend, liege im wohlverstandenen Interesse des KGB, sonst werde seine Frau in ihrem geschwächten und überreizten Zustand möglicherweise unvorsichtige Äusserungen über die KGB-Arbeit S. tun. Das müsse man unbedingt verhindern. Daraufhin wurde ihm eine kurze Reise unter Bewachung nach Ost-Berlin sofort genehmigt. Als "Krylow" erhielt er Ausreisepapiere. Begleitung durch "Jurij" und die Benutzung eines Militärkurier-Flugzeuges wurden angeordnet. Am 10. August 1961 flog S. in Begleitung "Jurijs" nach Ost-Berlin. Auf dem Flugplatz erwarteten ihn örtliche KGB-Beamte, die ihn zunächst nicht nach Da. zu seiner Frau lassen wollten. Er müsse vorerst mit seiner Frau im Karlshorster sowjetischen Sperrgebiet wohnen, bis geklärt sei, ob das Kind, wie man vermute, "durch die Amerikaner vergiftet worden sei", um S. habhaft zu werden, dessen Attentatstätigkeit inzwischen vielleicht entdeckt worden sei. So äusserten sich jedenfalls die KGB-Leute und begründeten damit die Überwachung der Eheleute S. Die Überwachung werde enden, sobald sich etwa ein natürlicher Tod des Kindes herausstelle.

Am nächsten Tage ergab sich, dass das Kind keines unnatürlichen Todes gestorben war. Daraufhin durften S. und seine Frau, weiterhin unter Bewachung, nach Da. fahren und Vorbereitungen für die für den 12. August 1961 angesetzte Beerdigung treffen. Sie stellten bald fest, dass sie auch dort von KGB-Leuten bewacht wurden. Sie beobachteten die Besatzungen von zwei bis drei Personenwagen, die sich in der Umgebung des Hauses der Schwiegereltern aufhielten. Die Ortsverhältnisse lassen dort jede Bewachung auffallen. Die Nacht mussten sie abermals im Sperrgebiet Karlshorst verbringen. Am 12. August fuhren sie nach Da., begleitet von "Jurij", der ihnen sagte, die Bewachung sei nach Klärung der Todesursache aufgehoben worden. In Da. bemerkten sie jedoch, dass sie weiter beobachtet wurden. Nun erkannten sie, dass bisher nur ein Vorwand gebraucht worden war, dass die Bewachung vielmehr ihnen selber galt, und dass sie nach der Beerdigung zweifellos noch verstärkt werden würde. Dann werde eine Flucht gänzlich ausgeschlossen sein. Daraufhin beschlossen sie, auf der Stelle, noch vor der Beerdigung ihres Kindes, zu fliehen. Sie verliessen das möblierte Zimmer der Ehefrau, die ihren 16-jährigen Bruder Fritz mitnahm, und eilten auf Nebenwegen durch gedecktes Gelände nach Fa. bei Sp. Dort nahmen sie ein Taxi nach Ost-Berlin. An der Zonengrenze zeigte S. seinen Ost-Berliner Personalausweis "L" vor. In Ost-Berlin bestiegen sie am Bahnhof Schö. Allee die S-Bahn und fuhren unkontrolliert bis zu dem in West-Berlin liegenden Bahnhof Gesundbrunnen. Von dort aus suchten sie mit einem Taxi die Familie V. auf und baten darum, sofort "zu den Amerikanern" gebracht zu werden. Man brachte sie zum Berliner Polizeipräsidium und von dort aus zu einer US-Dienststelle. Hier offenbarte sich S. vollständig. Bald danach wurde er den deutschen Behörden übergeben. Am 1. September 1961 wurde er in Untersuchungshaft genommen.

B.

I.

Die Feststellungen zu A beruhen auf dem glaubwürdigen überzeugenden, lücken- und widerspruchslosen Geständnis des Angeklagten; auf den beeidigten Aussagen der Zeugen Fu., Hu., Va. und V.; auf der glaubhafter Aussage des gemäss § 60 Nr. 3 StPO unvereidigt gebliebenen Zeugen "X."; auf den Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. Mu., Prof. Dr. Ra., Privatdozent Dr. Sp. und des Schriftsachverständigen W; auf den Übersetzungen des Sprachsachverständigen Bal.; auf dem Gutachten und der Aussage des Sachverständigen und vereidigten sachverständigen Zeugen von But.; auf den in der Hauptverhandlung verlesenen oder in Augenschein genommenen, in der Sitzungsniederschrift näher bezeichneten Schriftstücken, Akten, Fotos und Gegenständen.

II.

Die Glaubwürdigkeit des Geständnisses des Angeklagten und seiner übrigen Angaben ergibt sich aus folgendem:

1. Der Senat hat in der mehrtägigen Hauptverhandlung die Überzeugung erlangt, dass S. fähig und willens gewesen ist, zutreffende, klare und vollständige Angaben zu machen, und dass er sie auch gemacht hat.

Er hat offensichtlich ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Erlebtes, aber keinerlei Fähigkeit oder Neigung zum Fabulieren, Erfinden oder Ausschmücken. Das hat auch der Psychiater hervorgehoben. Sein Aussageverhalten war natürlich, echt und ungezwungen. Auf unerwartete Zwischenfragen ist er, obwohl Sprachausländer, rasch und sinnvoll eingegangen. Auch nachdrückliche Vorhaltungen, gleich von welcher Seite, haben niemals zu nennenswerten Abweichungen, Widersprüchen oder Zweifeln geführt. Sie unterstrichen vielmehr die Aussagen stets als in allen Teilen überzeugend und widerspruchsfrei. Im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung sind seine Aussagen in allen wesentlichen Punkten, aber auch in entlegenen Einzelheiten stets gleichgeblieben. Jede Tendenz zu wahrheitswidrigen blossen Schutzbehauptungen hat gefehlt. Im Gegenteil hat S. von Möglichkeiten zu solchen Schutzbehauptungen nie Gebrauch gemacht. Seine Aussagen waren stets nüchtern, genau bis ins einzelne und frei von erkennbar falschen Tönen. Die umfangreiche, tagelang und stundenlang zusammenhängend in überaus treffender Sprache anschaulich vorgetragene Schilderung der äusseren und inneren Tat- und Persönlichkeitsvorgänge war folgerichtig, stets einfühlbar und für den Hörer, auch den psychologisch geschulten und kritischen, überzeugend. Auch dabei hat jede Schauspielerei gefehlt. Die geschlossene widerspruchsfreie Darstellung der äusseren und inneren Vorgänge des Gesamtgeschehens hat dem Geständnis, von den zahlreichen übrigen Beweisen noch abgesehen, volle Überzeugungskraft verschafft. Die äusseren Ereignisse konnten so genau und vielfach nachprüfbar nur von jemandem berichtet werden, der sie erlebt oder, für sich allein betrachtet, vom wirklichen Täter erfahren hat. Die inneren Hergänge können nach der Überzeugung des Senats nur vom Angeklagten selbst erlebte sein.

Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. Ra. hat was die Persönlichkeit des Angeklagten angeht, überzeugt und mit der obigen Beurteilung in allen Punkten übereinstimmend dargelegt, weder medizinisch noch psychologisch bestünden Anhaltspunkte für unrichtige Angaben S., wohl aber bestünden erhebliche Anhaltspunkt für die Richtigkeit seiner Angaben.

2. Schon nach diesen allgemeinen Erwägungen bestand praktisch kein nennenswerter Zweifel mehr an der Wahrheit von S. js Aussagen. Ihre Richtigkeit wird jedoch ausserdem durch eine Fülle von Beweismitteln erhärtet:

a) Die Angaben über seinen Heimatort hat S. durch genaue, anhand von Landkarten überprüfte Skizzen belegt.

b) Der vom Volkspolizei-Kreisamt Dr. am 9. August 1954 auf "J. L., geb. 4. 11. 1930 in Polen, wohnhaft in Dresden" ausgestellte und mit S. Lichtbild versehene sowjetzonale Kfz-Führerschein belegt sein Angaben über den Beginn der L.-Legende, den Aufenthalt in Dr. und den Erhalt des Führerscheins.

c) Der vom Angeklagten mitgebrachte sowjetzonale Personalausweis "J. L., geb. 4. 11. 1930", der ebenfalls sein Lichtbild enthält, bezeugt die L.-Legende und beweist durch behördliche Eintragungen in Verbindung mit dem sowjetzonalen Personalausweis seiner Ehefrau, dass er als J. L. am 23. 4. 1960 I. P. geheiratet, und dass diese am 31. 3. 1961 einen Sohn Peter geboren hat.

Geburt und Tod des Sohnes Peter werden ferner durch echte Telegramme (31.3.1961: "Peter angekommen", 9.8. 1961: "Peter tot"), die der Angeklagte von der Moskauer Post zugestellt erhalten und bei der Flucht mitgebracht hat, belegt.

d) Der zuverlässige, an diesem Strafverfahren nicht interessierte Zeuge V. hat glaubwürdig eidlich bekundet, dass er an der Hochzeitsfeier des ihm damals unter dem Namen J. L. bekannten Angeklagten teilgenommen hat. Er hat ferner bestätigt, dass die ihm vorgezeigten, vom Angeklagten mitgebrachten Lichtbilder bei dieser Feier aufgenommen worden sind. Er kennt die meisten der daran beteiligten Personen. Er weiss aus eigener Kenntnis Geburt und Tod des Sohnes Peter. Die späteren B. Fluchtumstände hat er überzeugend und mit dem Angeklagten übereinstimmend geschildert.

e) Die beiden Berliner-S-Bahnkarten, die von S. der US-Dienststelle und von dieser nachgewiesenermassen dem Zeugen Krim. Inspektor Va. übergeben worden sind, stammen vom Fluchttage, wie das eingeprägte Datum beweist.

f) Das Treffen S. am 23. Februar 1957 mit dem Zeugen "X." ist überwacht und fotografiert worden. S. wusste damals nichts von dieser Aufnahme. Das Lichtbild lässt ihn und auch "X." klar erkennen.

g) S. bis 5 Jahre zurückreichenden Angaben über verschiedene Flugreisen von und nach B. und dabei benutzte Namen werden durch folgende, erst im Verlauf der Voruntersuchung eingeholte Fluglisten dreier ausländischer Fluggesellschaften bestätigt:

aa) Im Falle R. hat er angegeben, am 9. Oktober 1957 mit der Air-France von B. nach Mü. und am 13. Oktober 1957 mit der PAA von F. nach B. geflogen zu sein, und zwar jeweils als "D.".

Die Flugliste der Air-France über ihren am 9. Oktober 1957 um 15.30 Uhr von B. nach Mü. durchgeführten Flug weist unter Nr. 54 den Namen "Si. D." und die der PAA über ihren Flug am 13. Oktober 1957 von F. nach B. unter Nr. 24 ebenfalls den Namen "D." auf.

bb) Im Falle Ba. hat S. erklärt, am 16. Oktober 1959 als "Kowalski" mit einer BEA-Maschine von F. nach B. geflogen zu sein.

Die Flugliste der BEA über ihren am 16. Oktober 1959 von F. nach B. durchgeführten Flug verzeichnet unter Nr. 12 den Namen "Kowalski".

h) Ebenso werden die sich über mehrere Jahre erstrecken den Angaben über Hotelübernachtungen in Mü. und F. bestätigt:

aa) Im Falle der versuchten Anwerbung des Zeugen "X." hat S. nach seiner Darstellung als J. L. vom 6. bis 9. April 1956 im Mü. Hotel "Helvetia" gewohnt.

Das noch vorhandene Fremdenbuch dieses Hotels belegt, dass dort vom 6. 4. bis 9. 4. 1956 ein "J. L., geb. 4. 11. 1930 in Lukowek" gewohnt hat.

bb) Im Falle R. gibt S an, am 9. Oktober 1957 als "Si. D." im Mü. Hotel "Stachus" abgestiegen zu sein.

Auf Grund dieser Angaben hat der Zeuge Krim. Obermeister Fu. noch vorhandene Meldezettel jener Jahre überprüft und hierbei einen Meldeschein des Hotels "Stachus" gefunden, der von einem "Si. D., geb. 29. 8. 1930" am 9. Oktober 1957 ausgefüllt und unterschrieben worden ist. Wie vom Schriftsachverständigen W. bestätigt worden, aber auch schon jedem gebildeten Laien deutlich erkennbar ist, stammen Schrift und Unterschrift auf diesem Meldeschein von S. Hand und nicht von der Hand des richtigen Namensträgers, wie ein sachverständiger Vergleich mit dessen Unterschrift ergeben hat.

cc) Auf dem Rückweg vom Attentat R. hat S. nach seiner Darstellung die Nacht vom 12. zum 13. Oktober 1957 als "D." im F. Hotel "Continental" verbracht.

Dies wird durch das noch vorhandene Fremdenbuch dieses Hotels belegt.

dd) Im Falle Ba. ist S. nach seiner Darstellung am 14. Oktober 1959 im Mü. Hotel "Salzburg" und auf dem Rückweg am 15. Oktober 1959 im F. Hotel "Wiesbaden", jeweils als "Budeit", abgestiegen.

Dies ist nach den noch vorhandenen Fremdenbüchern dieser Hotels ebenfalls richtig.

i) Die Richtigkeit seiner Angaben über Farbe, Typ und Kennzeichen von Ba. Wagen sind durch die Aussage des Zeugen Fu. und durch Fotos belegt.

k) Die Beschreibung der damaligen Wohnungslage der Personen Bu. und D. durch S. stimmt mit verlässlichen Zeugenbekundungen überein.

l) Die vom Angeklagten bezeichneten Versteckplätze auf der Autobahn bei F./M. und in Mü. sind von der Polizei gefunden worden und sind richtig beschrieben.

m) Auf ihm vorgezeigten, von deutschen Stellen beschafften, unbezeichneten Bildern hat er einwandfrei Bi. und Sch. erkannt und mit Namen bezeichnet.

n) Seine Angaben über Bi. Aufenthalt in Mü. und dessen Weggang decken sich mit den Erklärungen und Ermittlungen in dem gegen Bi. im Januar 1957 eingeleiteten und dann wegen Abwesenheit vorläufig eingestellten Ermittlungsverfahren des Generalstaatsanwalts beim Bayerischen Obersten Landesgericht (Ob Js 19/57).

o) Zeit, Örtlichkeit und Verlauf der Rotterdamer Gedenkfeier im Jahre 1958 hat S. richtig geschildert.

p) Auch seine Mü. Ortsangaben stimmen, insbesondere auch hinsichtlich der Brücken über den K. bach, die er nach unbezeichneten Lichtbildern erkannt und bezeichnet hat.

q) Seine zahlreichen Angaben über das für Dritte unzugängliche Karlshorster sowjetische Sperrgebiet haben sich nach sachverständiger Prüfung als in allen Punkten richtig erwiesen.

r) S. Darstellung, er habe kurze Zeit nach dem Anschlag auf R. einen Polizeiwagen und eine Menschenmenge vor dem Hause K. platz 8 stehen und am Tage des Anschlags auf Ba. diesen um 12 Uhr mit einer Frau das Haus verlassen und wegfahren sehen, wird durch die verlässliche eidliche Aussage des Zeugen Fu. bestätigt.

s) Seine Schilderung, nach dem Betreten von Ba. Haus habe er oben eine Frau sich verabschieden und die Treppe herunterkommen hören, er habe sich vor ihrem Vorbeigehen abgewandt vor die Fahrstuhltür gestellt, stimmt mit der verlässlichen eidlichen Bekundung der Putzfrau Hu. überein, die im wesentlichen dieselbe Aussage schon im Jahre 1959 gemacht hat, als die Mü. Kriminalpolizei nach Ba. Tod sämtliche Hausbewohner und dort tätigen Personen, darunter die damalige Putzfrau Hu., vernommen hat. Frau Hu. hat nur einen einzigen Mann in dem engen Hausflur gesehen. Ein weiterer kann nicht dagewesen sein. Wäre der Angeklagte nicht der Attentäter, so müsste er diese Angaben vom wirklichen Täter erhalten haben. Der Senat ist überzeugt, dass dies nicht zutrifft.

t) Seine Schilderung, im Mai 1959 seien ihm in Ba. Haustür zwei Schlüsselbärte (einer aus Hartmetall, einer zurechtgefeilt aus Aluminium) abgebrochen und im Schlosskasten verblieben, trifft zu. Sofort nach dieser Aussage, am 18. September 1961, hat der Zeuge Fu. im geräumigen Schlosskasten dieser Tür die beiden abgebrochenen Schlüsselbärte gefunden. Dass sie aus altem schmierigem Schmutz erst herausgekratzt werden mussten, beweist, dass sie dort schon viele Monate gelegen hatten und durchaus zwei Jahre gelegen haben konnten. Sie können nicht erst später hineingeworfen worden sein. Der Schlüsselbart aus Aluminium zeigt deutliche Feilspuren. Der zweite Schlüsselbart ist aus Hartmetall und stammt von einem Patentschlüssel.

u) Die Richtigkeit der Angaben über seine Erkundung der Mü. Wohnung des früheren ukrainischen Ministerpräsidenten St. wird dadurch bestätigt, dass S. auf erst während der Hauptverhandlung angefertigten, unbezeichneten Lichtbildern Lage, Haus und Wohnungstür genau bezeichnet hat.

v) Nach S. Schilderung hat Ba. mit der linken Hand den klemmenden Türschlüssel aus der Haustür entfernt, sich bei dieser etwas schwierigen Handhabung also als Linkshänder verhalten. Diese Beobachtung wird dadurch erhärtet, dass Ba. festgestelltermassen auch seine Pistole rechts unter dem Rock trug, sie also links zu handhaben pflegte.

w) S. Aussage, er habe insgesamt drei Tatwaffen in den K. bach geworfen, wird nicht dadurch zweifelhaft, dass diese Gegenstände trotz sorgfältigen Suchens nicht mehr gefunden worden sind. Nach der verlässlichen eidlichen Aussage des Zeugen Fu. ist der K. bach an den betreffenden Stellen recht wasserreich und schnellfliessend. Er wird alljährlich zweimal grob mit Schaufeln gereinigt und enthält viel Sand und Gerümpel. Da die Waffen nur etwa handlange, fingerdicke, unauffällige Metallrohre waren, wäre ihr Wiederauffinden ein seltener Zufall gewesen.

x) Das Wetter an den beiden Tattagen (12. 10. 1957; 15. 10. 1959) hat S. während des Vorverfahrens als "klar und sonnig" bezeichnet. Diese Darstellung hat sich für den 12. Oktober 1957 durch eine amtliche Wetterauskunft und durch übereinstimmende Zeugenaussage, für den 15. Oktober 1959 durch verlässliche Zeugenbekundung als richtig erwiesen.

y) Besonders beweiskräftig sind die von S. mitgebrachten russischen Urkunden, die nach sachverständiger Prüfung sämtlich echt sind. Im einzelnen belegen sie folgendes:

aa) Die am 28. Dezember 1960 vom "Direktor des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts, Postschliessfach 946", festgestelltermassen eine getarnte KGB-Dienststelle, ausgestellte "Dienstliche Beurteilung" erwähnt, dass "Genosse S. B. N., Geburtsjahr 1931, von März 1951 bis Dezember 1960" in diesem "Forschungsinstitut tätig" war, sich "als ehrlicher und gewissenhafter Mitarbeiter erwiesen ..., die ihm übertragene Arbeit ... rechtzeitig und erfolgreich durchgeführt" hat, sowie dass er "für die erfolgreiche Tätigkeit bei Bearbeitung eines wichtigen Problems gemäss dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 6. 11. 1959 mit dem Orden des Roten Banners ausgezeichnet" worden ist.

Hierdurch wird sowohl die von S. angegebene Gesamtdienstzeit beim KGB (ab 1951 bis zum Anfang 1961 begonnenen Sprachstudium) wie auch die Ordensverleihung dokumentiert. Der angegebene Grund dieser Ordensverleihung ("erfolgreiche Tätigkeit bei Bearbeitung eines wichtigen Problems") stimmt im Kern mit der von S. mitgeteilten Begründung überein, die ihm der sowjetische General im November 1959 in Karlshorst und der KGB-Chef Sch. im Dezember 1959 in Moskau angegeben haben ("Durchführung eines wichtigen Regierungsauftrages").

bb) Das 1961 begonnene Sprachstudium wird nachgewiesen durch den echten "Studenten-Ausweis Nr. 70004" des "Ersten Moskauer Staatlichen Pädagogischen Instituts für Fremdsprachen". Dieser Ausweis enthält ein Lichtbild des Angeklagten, dessen wahren Namen, als Fakultät "Deutsche Sprache" und als Eintrittsdatum das Jahr "1961".

cc) Der am 26. Januar 1961 ausgestellte sowjetrussische Pass "VII - CA Nr. 501142" enthält das Lichtbild des Angeklagten, seinen wahren Namen, seine echte Unterschrift seinen richtigen Geburtsort und sein richtiges Geburtsdatum.

dd) Die sowjetrussische "Auslands- Ausreise-Bescheinigung AB Nr. 071031" ist ausgestellt für "Krylow Alexander Antonowitsch, Geburtsjahr 1930". Sie enthält das Lichtbild S., der festgestelltermassen bei Aus- oder Einreisen aus der oder in die UdSSR stets den Namen "Krylow" benutzen musste. Auf Seite 3 dieser Bescheinigung ist am 10. August 1961 mit Stempel der "Militär-Dienststelle 25500", einer KGB-Dienststelle, beurkundet, dass der Ausweisinhaber in die "Deutsche Demokratische Republik" reise, und zwar über die Grenzpunkte Brest oder Moskau-Flughafen, und dass er bis zum 20. August 1961 in die UdSSR zurückkehren müsse. Ferner befindet sich auf dieser Seite ein Ausreise-Stempel vom 10. August 1961. Derselbe Stempel befindet sich auf dem am 9. August 1961 ebenfalls von der Militär-Dienststelle 25500 ausgestellten "Marschbefehl Krylow A.A." zwecks "Dienstreise vom 10. 8. 1961 bis 16. 8. 1961". Bezeichnung und Nummer (AB 071031) der "Auslands-Ausreise-Bescheinigung" sowie das Ausstellungsdatum (10.8.1961) und die ausstellende Dienststelle (25500) sind schliesslich auf dem "Einreise-Ausweis", ausgestellt für "Krylow Alexander Antonowitsch, Geburtsjahr 1930" aufgeführt.

Diese drei Urkunden belegen sowohl S. Angaben über die Krylow-Legende wie insbesondere auch, dass er am 10. August 1961 von Moskau mit einem Flugzeug (Moskau-Flughafen) nach Ost-Berlin ("DDR") gereist ist und dass ihm nur ein kurzer Aufenthalt in B. gestattet war.

z) Letztlich sind die Angaben S. über Aussehen, Aufbau und Anwendung der Tatwaffen, über ihre Wirkung auf Tiere und Menschen, über das Aussehen des verwendeten Giftes wie über mögliche Gegenmittel und deren Benutzung teils durch wissenschaftliche Erfahrung bestätigt, teils durch ergänzende Versuche des Sachverständigen Prof. Dr. Mu. einwandfrei belegt.

Nach S. Beschreibung und Skizze ist eine einläufige Waffe nachgebaut worden. Die mit ihr durch Prof. Dr. Mu. angestellten Versuche haben die Anwendbarkeit dieses Geräts in der von S. geschilderten Weise bewiesen. Wissenschaftliche Tierversuche unter Verwendung dieser Waffe und einschlägiger Gifte haben gezeigt, dass als benutztes Gift nach Aussehen, Siedepunkt und Wirkungsart nur Blausäure in Betracht kommt. Diese wirkt auf Menschen und Tiere in der festgestellten Weise binnen weniger Sekunden dadurch tödlich, dass sie dem Blut die Fähigkeit als Sauerstoffübermittler nimmt. Bei Verwendung einer 5 ccm-Ampulle Blausäure, wie hier, nimmt das Opfer, das in dieser Giftgaswolke atmet, mit einem einzigen Atemzug bis zur zehnfachen tödlichen Menge des Giftes auf. Der Umfang der Gas- und Spritzwolke aus Entfernung unter einem Meter ist experimentell festgestellt worden. Er reicht bei dieser geringen Entfernung auch bei etwas oder stark weggewandtem Gesicht zur Beibringung des Mehrfachen der für einen Menschen tödlichen Giftmenge noch aus. Beim Abschiessen zweier Läufe aus nächster Entfernung können ausserdem noch Gifttropfen in die Atmungs- und Verdauungsorgane geraten. Die vom Angeklagten der Art und Anwendung nach bezeichneten Gegenmittel Natriumthiosulfat und Amylnitrit sind bekannt und bei Unfällen mit Blausäure angezeigt und üblich.

3. Auch die nach S. Flucht einsetzende Reaktion der SBZ und der UdSSR spricht für die Richtigkeit seiner Angaben, wobei zu berücksichtigen ist, dass die deutschen Behörden seine Verhaftung und sein Geständnis erst Mitte November 1961 bekanntgegeben haben.

a) Bereits Ende September 1961 erhielt der unter A III 2 erwähnte Zeuge "X." vom KGB einen Geheimbrief. Darin wurde er vor den Aussagen des Mannes, mit dem er 1956/57 Vorbindung gehabt habe, also vor S., gewarnt und aufgefordert, alle seinerzeit empfangenen Unterlagen zu vernichten, sowie sich am 8., 15. oder 22. Oktober 1961 an einer näher bezeichneten Stelle unter näher angegebenen Kennworten zum Empfang weiterer Instruktionen zu melden.

Dieses Verhalten des KGB zeigt dessen Sorge und Unsicherheit über S. Flucht und mögliche Offenbarung.

b) In der SBZ wurde ab 13. Oktober 1961 eine Propagandaaktion mit der unwahren Behauptung veranstaltet, der Exilukrainer Myskiw habe am 15. Oktober 1959 im Auftrage des Bundesnachrichtendienstes Ba. ermordet und sei später selbst einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Ende Oktober 1961 hat der Bundesnachrichtendienst mehrere Funksprüche des sowjetischen Geheimdienstes an einen in Deutschland tätigen Agenten aufgefangen, in denen um Bericht über Wirkung und etwa notwendige Fortsetzung der Myskiw-Propaganda ersucht wird.

In Wirklichkeit ist Myskiw am 15. Oktober 1959, dem Tattage, in Italien gewesen und am 27. März 1960 in Mü. nachgewiesenermassen eines natürlichen. Todes gestorben.

Diese offensichtlich auf sowjetische Anordnung durchgeführte Propagandaaktion der SBZ versuchte also die Tötung Ba. dem Bundesnachrichtendienst vorzuwerfen. Darin liegt ein für die kommunistische Propaganda typischer und häufiger psychologischer Fehler. Es ist eine weithin bekannte Methode dieser Propaganda, wichtige, ihr abträgliche Ereignisse in tatsächlicher Beziehung in der Weise eines Haltet-den-Dieb-Geschreis einfach umzukehren und dem Westen vorzuwerfen, dadurch aber zugleich die gewohnten Bahnen und Methoden des eigenen Denkens und Handelns gleichsam ungewollt offenzulegen und preiszugeben.

III.

1. Bei Ba. liegt die Ursächlichkeit zwischen S. Tun und Ba. Tod schon nach dem Obduktionsbefund auf der Hand, denn in Ba. Magen sind eindeutige Blausäurespuren gefunden worden.

2. Auch bei R. steht fest, dass dessen Tod durch den Angeklagten verursacht worden ist. Der Sachverständige, Privatdozent Dr. Sp., der R. obduziert hat, erklärt das damalige Fehlen von Anzeichen auf Blausäure überzeugend mit der Zeitlänge zwischen Tod und Sektion und dem schon alles überlagernden starken Leichengeruch. Da zudem Blausäure zwar unterschiedlich rasch, überwiegend jedoch sehr rasch abgebaut wird, habe sich bei der Obduktion kein wissenschaftlicher Rückschluss auf Blausäure aufgedrängt. Der von ihm damals festgestellte, mangels Gewaltvermutung als Todesursache angenommene krampfartige Verschluss eines schon durch starke Einlagerungen verengten Herzkranzgefässes steht nach seinen überzeugenden Ausführungen in der Hauptverhandlung nicht im Widerspruch zu den Angaben des Angeklagten. Der Sachverständige hat dargelegt, es gebe viele Menschen, die auch mit derartiger Kranzgefässverengung noch lange leben können, bis etwa eine besondere Herzbelastung völligen, etwa krampfartigen Verschluss einer Kranzarterie bewirke. Werde ein Mensch mit solchem Herzbefund jedoch beim Treppensteigen nichtsahnend plötzlich in der beschriebenen Weise "angeschossen und sterbe er unmittelbar danach, so sei die Todesursache entweder ein den Kranzgefässverschluss krampfartig bewirkender Schock hierüber, oder die eingeatmete Blausäure, oder beides zugleich. Für beide Ursachen ist der Angeklagte verantwortlich, denn andere Todesursachen scheiden aus.

Der von der Nebenklägerin, Frau R., hilfsweise gestellte Antrag, sie als Zeugin über eine von ihrem Mann am 11.Oktober 1957 geäusserte Todesahnung zu hören, wird dadurch gegenstandslos.

C.

I.

R. und Ba. sind heimtückisch getötet, also ermordet worden (§ 211 StGB). Darin ist der Bundesanwaltschaft zuzustimmen.

Heimtückisch tötet, wer das Opfer unter bewusster Ausnutzung von dessen Arg. oder Wehrlosigkeit tötet (BGH LM Nr. 5 zu § 211 StGB; BGHSt 2, 60; 2, 251; 3, 183; 3, 330; 6, 120). Dies ist auch die Rechtsprechung des Grossen Senats für Strafsachen (BGHSt 9, 385, 387; 11, 139, 143). Der Täter braucht diese Arg- oder Wehrlosigkeit nicht selber bewusst herbeigeführt oder bestärkt zu haben. Arglos ist, wer sich zumindest zu dieser Zeit von diesem Täter keines Angriffs versieht (BGH LM Nr. 5 zu § 211 StGB; BGHSt 7, 218, 221; 8, 216, 219). Ohne rechtliche Bedeutung ist es also, wenn jemand, wie Bandera, allgemein Grund zur Vorsicht hat, deshalb eine Waffe bei sich trägt und sich bewachen lässt. Diese ständige Rechtsprechung anzuzweifeln, besteht in keinem der beiden Tötungsfälle Veranlassung.

R. wie Ba. waren im Augenblick der Tatausführung in dem dargelegten Sinne arglos. R. hatte soeben ein an belebtester Stelle Mü. gelegenes Bürogebäude, in dem sich seine Arbeitsräume befanden, Ba. sein gewöhnlich und auch am Tattage abgeschlossenes Wahnhaus betreten. Beide hatten zur Tatzeit in Richtung auf den Angeklagten keinerlei Argwohn. Beide Taten geschahen von einem den Opfern Fremden, in völlig unverfänglicher, keinen Argwohn erregenden Weise blitzartig aus nächster Nähe. Sie schlossen jede Gegenwehr praktisch aus und schon nach dem ersten Atemzug des Opfers auch jede Aussicht auf Rettung. Dieser Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer und aller Umstände, auf denen sie beruhte, war sich S. bewusst. Er hat sie zu den beiden Attentaten geradezu ausgenutzt. Seine Auftraggeber hatten sie von vornherein eingeplant.

II.

1. Täterschaft. Beide Attentate sind nach dem sicheren Ergebnis der Hauptverhandlung von sowjetischer "höchster Stelle", zumindest auf Regierungsbasis unter Beteiligung Sch., des damaligen Vorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR, dem Angeklagten befohlen worden. Das beweisen die festgestellten Umstände, besonders die Art der Befehlserteilung, die Ordensverleihung und das Dokument hierüber. Der Sachverständige von Bu. hat für die Zeit seit Stalins Tod im Jahre 1953 überzeugend dargelegt: Vor diesem Zeitpunkt waren Tötungsbefehle und andere Willkürmassnahmen gegen Sowjetbürger und andere Personen durch den Leiter des KGB (vordem MGB, NKWD, GPU) häufig. Seit etwa 1956 (XX. Parteitag der KPdSU) hätten sie gemäss gesicherter Erkenntnis seiner Dienststelle nur noch von einem aus mehreren Regierungsmitgliedern bestehenden Gremium, nicht mehr vom KGB, beschlossen werden dürfen. Diese Erkenntnis stimmt mit den ausführlichen, widerspruchsfreien, völlig unausgeschmückten Angaben des Angeklagten zur Auftragserteilung überein. Sie werden dadurch unterstrichen, dass S. den Kampforden vom Roten Banner für die Durchführung "eines wichtigen Regierungsauftrages" (so der sowjetische General in Karlshorst und Sch. in Moskau) erhalten hat, oder, wie sich die "Dienstliche Beurteilung" durch KGB vom 28. Dezember 1960 auslässt, für die "Bearbeitung eines wichtigen Problems". S. Auftraggeber haben bei der Anordnung beider Attentate deren wesentliche Merkmale (Opfer, Waffe, Gegenmittel, Art der Anwendung, Tatzeiten, Tatorte, Reisen) vorher festgelegt. Sie haben vorsätzlich gehandelt. Die auf ihr Geheiss angefertigte, "schon mehrfach und stets mit Erfolg verwendete" Giftpistole, die Tataufträge und -anweisungen im einzelnen beweisen, dass sie sich dabei Tötungen unter bewusster Ausnutzung der Arg- oder Wehrlosigkeit der Opfer und die Ausführung dieser Taten in dieser Weise, also Morde, vorgestellt und dass sie diese Morde gewollt haben. Als Taturheber, Drahtzieher im eigentlichen Sinne, hatten sie Täterwillen, ohne dass dabei in rechtlicher Beziehung feststehen muss, welche Einzelpersonen diesen Täterwillen gehabt haben. Diese eigentlichen Taturheber sind daher Täter, und zwar mittelbare Täter.

2. Beihilfe. Entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft, die den Angeklagten als Täter ansieht, dies jedoch nicht näher begründet hat, war S. in beiden Fällen nur als Mordgehilfe zu verurteilen (§ 49 StGB).

Gehilfe ist, beim Morde wie bei allen anderen Straftaten, wer die Tat nicht als eigene begeht, sondern nur als Werkzeug oder Hilfsperson bei fremder Tat mitwirkt. Massgebend dafür ist die innere Haltung zur Tat. In dieser Weise hat schon das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung Täter und Gehilfen voneinander abgegrenzt (RGSt 31, 82; 44, 71; 57, 274; 66, 240; 74, 84 mit weiteren Angaben). Danach kam als Täter auch in Betracht, wer die Tat vollständig durch Andere ausführen lässt, anderseits als blosser Gehilfe auch derjenige, der alle Tatbestandsmerkmale eigenhändig erfüllt. Dieser sogenannten subjektiven Teilnahmelehre hat sich im Grundsatz auch der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung von vornherein angeschlossen (BGHSt 2, 150, 156; 2, 169, 170; 4, 20, 21; 6, 226, 228; 6, 248, 249; 8, 70, 73). Nach Entscheidungen des Bundesgerichtshofs kann insbesondere auch derjenige blosser Gehilfe sein, der alle Tatbestandsmerkmale selber erfüllt (BGH NJW 1951, 120; NJW 1954, 1374, 1375; MDR 1951, 273 bei Dallinger; 5 StR 74/55 vom 8. März 1955, dazu BGHSt 8, 70, 73), wenn ein solcher Tatteilnehmer meist auch als Täter zu verurteilen sein wird (vgl. BGHSt 8, 70, 73). Anders sind auch diejenigen Urteile des Bundesgerichtshofes nicht zu verstehen, in denen ausgeführt wird, Täter sei, wer den Willen zur Tatherrschaft habe (vgl. BGH 1 StR 156/53 vom 29. Mai 1953), oder wer sich als mitverantwortlich für das Gelingen der Tat ansehe (so BGH 3 StR 757/53 vom 29. April 1954). Damit sind lediglich Beweisanzeichen und Umstände besonders hervorgehoben, deren Vorliegen meist auf Täterschaft hindeuten wird, und die daher im Rahmen des Gesamtbildes in dieser Richtung zu werten sein werden, nicht jedoch solche, deren Vorliegen stets zur Verurteilung als Täter nötigt. Andern falls wäre schon in den früheren Fällen gegenüber den bezeichneten Entscheidungen die Anrufung des Grossen Senats für Strafsachen geboten gewesen, zumindest aber ein ausdrückliches Abrücken von der subjektiven Teilnahme lehre, welche schon die bis dahin ergangenen Urteile des Bundesgerichtshofes beherrscht. Anfragen von Senaten an andere Senate wegen Aufrechterhaltung der bisherigen einschlägigen Rechtsprechung zur Teilnahmelehre sind insoweit jedoch nicht ergangen. Vielmehr hat der 1. Strafsenat noch im Urteil 1 StR 179/61 vom 13. Juni 1961 (insoweit in BGHSt 16, 111 offensichtlich nicht als abdruckwichtig angesehen) bei auf Befehl eigenhändig begangener Tötung ein Urteil aufgehoben, weil rechtlich auch Beihilfe vorliegen könne. Der 4. Strafsenat hat noch am 7. September 1962 bei Häufung jedenfalls teilweise eigenhändig begangener Tötungen, nachdem das Landgericht gleichwohl auf Beihilfe erkannt hatte, diese Beurteilung rechtlich gebilligt (BGH 4 StR 259/62). Auch der 5. Strafsenat, der zwar dem Urteil RGSt 74, 84 (Badewannenfall) nicht folgen will, hat in einem Falle eigenhändiger Tötung ausgesprochen stelle man die "Betrachtung der Willensrichtung eines jeden Beteiligten ... in den Vordergrund", so müsse diese "bei Mittäterschaft derart sein, dass sie seinen Tatbeitrag nicht als blosse Förderung fremden Tuns ... erscheinen lässt" (BGHSt 8, 393, 396). Ob jemand dieses enge Verhältnis zur Tat haben wolle, sei nach den gesamten Umständen zu beurteilen. Was der Beteiligte wollte, sei "auf Grund aller Umstände, die von seiner Vorstellung umfasst waren, vom Gericht wertend zu ermitteln". Ein wesentlicher Anhaltspunkt sei es dabei, wie weit er den Geschehensablauf mitbeherrsche, so dass Durchführung und Ausgang der Tat massgeblich auch von seinem Willen abhänge. Sei er "ohne eigenes Interesse an dem Erfolg der Tat", so könne "seine Einstellung zu ihr trotzdem aus anderen Gründen als Täterwillen zu beurteilen sein". Umgekehrt begründe eigenes Interesse allein nicht den "Täterwillen", wenn der Beteiligte keinen genügenden Einfluss darauf habe, ob, wann und wie die Tat ausgeführt werde. Der 5. Strafsenat setzt sich in demselben Urteil auch mit vier früheren Urteilen des Bundesgerichtshofs auseinander, die alle in Fällen eigenhändiger Tatbegehung bei Tötungen die subjektive Teilnahmelehre vertreten, und erklärt dazu, jene Urteile seien mit seiner eigenen Auffassung sämtlich vereinbar. Er stimmt einer Verurteilung als Täter bei eigenhändiger Tatmitwirkung zu, weil der "Täterwille" unter den festgestellten Umständen nicht zu verneinen sei. Insbesondere könne in dem vom 5. Strafsenat zu entscheidenden Falle die "innere Einstellung (des Beteiligten) zur Tat ... nicht mit der eines Soldaten verglichen werden, der einen verbrecherischen Befehl seines Vorgesetzten als dessen blosses Werkzeug ausführen will". Auch der 5. Strafsenat hält hiernach an der Rechtsprechung aller übrigen Senate des Bundesgerichtshofs im Grundsatz fest. Er hat auch insoweit weder bei diesen angefragt, noch hat er seinerzeit Anlass gesehen, die wichtige Rechtsfrage dem Grossen Senat für Strafsachen vorzulegen. Nachdrücklich hat er lediglich die besondere Indizbedeutung eigenhändiger Tatbegehung bei der Beurteilung des Gesamtbildes der Tat und der Tatbeteiligung unterstrichen. Darin ist ihm beizutreten. Alledem widerspricht endlich auch nicht der Leitsatz, den der 5. Strafsenat seinem Urteil beigegeben hat. Darin ist zusammenfassend gesagt, wer mit eigener Hand einen Menschen tötet, sei - unter den dort weiter angegebenen Voraussetzungen - "grundsätzlich Täter, eine Fassung, welche also Ausnahmen davon vorsicht, aber mit wünschenswerter Deutlichkeit klarstellt dass vollständig eigenhändig Beteiligte meist als Täter zu verurteilen sein werden. In welcher Richtung auch der 5. Strafsenat Ausnahmen für rechtlich möglich hält, darauf deutet sein Hinweis auf das Beispiel des verbrecherische Befehls.

Es besteht kein Grund, von dieser durch den 5. Strafsenat nur weiter verdeutlichten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzurücken, die von der Rechtslehre, kaum ganz zutreffend, als "subjektive Theorie mit Einbau objektiver Elemente" bezeichnet wird (Schönke-Schröder, StGB, 10. Aufl., Vorbem. VIII 2 vor § 47). Insbesondere bietet die in der hierin durchaus nicht einheitlichen Rechtslehre vertretene materiell-objektive Lehre dazu keinen überzeugenden Anlass. Sie verwirft jede Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme (Beihilfe) nach dem Merkmal des Täterwillens. Massgebend ist ihr zufolge das wirkliche Geschehen, die "reale Kräfteverteilung unter den mehreren Mitwirkenden" (Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1958, S. 515, 516 wobei das entscheidende Merkmal die Tatherrschaft des Täters und das Fehlen der Tatherrschaft des Gehilfen sein soll. Dabei komme es wiederum nicht auf den blossen willen zur Tatherrschaft an. Auch ohne Erfolgsinteresse sei stets Mittäter, wer selber ein Tatbestandsmerkmal verwirkliche. Unmittelbare Tatbestandserfüllung sei immer eine Täterhandlung.

Es mag dahinstehen, ob das hiernach für massgeblich erklärte Unterscheidungsmerkmal der Tatherrschaft von dieser Lehre nicht viel zu eng und gleichsam unter Ausschluss jeder psychologischen Gegebenheit und jedes seelischen Drucks oder Zwanges bei den Beteiligten lediglich als handgreifliche Mitwirkung verstanden wird. Darin läge dann zwar ein bequemes Unterscheidungsmerkmal zwischen Täterschaft und Beihilfe, aber zugleich eine bedenkliche Vergröberung und damit die Gefahr, nicht mehr jeden Tatbeteiligten möglichst gerecht beurteilen zu können. Vor allem aber ist diese Lehre deshalb bedenklich, weil sie es vornehmlich bei Tötungsverbrechen, aber keineswegs nur bei diesen ausschliesst, solche besonderen Tatantriebe zu berücksichtigen, welche zwar mächtig wirksam, der allgemeinen Kriminologie aber fremd sind. Die ausserordentliche Macht derartiger besonderer Umstände haben gerade im vorliegenden Straffalle neben Anklage und Verteidigung vor allem auch die Nebenklägerinnen, deren Ehemänner die Verbrechensopfer sind, und ihre Anwälte in der Hauptverhandlung im Ergebnis einhellig betont. Die materiell-objektive Lehre könnte vielleicht mehr einleuchten, wenn lediglich Tatbeteiligte abzuurteilen wären, welche kriminologisch bekannten Tatantrieben gefolgt sind, und zwar auf dem Hintergrunde im wesentlichen noch einheitlicher sittlicher Anschauungen der Allgemeinheit und einigermassen stabiler politisch-staatlicher Verhältnisse. Sie lässt ausser acht, dass das offensichtlich nur für einen Teil der Gegenwartskriminalität noch zutrifft. Politische Morde sind in der Welt wie in Deutschland zwar immer vorgekommen. Neuerlich sind jedoch gewisse moderne Staaten unter dem Einfluss radikaler politischer Auffassungen, in Deutschland unter dem Nationalsozialismus, dazu übergegangen, politische Morde oder Massenmorde geradezu zu planen und die Ausführung solcher Bluttaten zu befehlen. Solche blossen Befehlsempfänger unterliegen bei Begehung derartiger amtlich befohlener Verbrechen nicht den kriminologisch erforschten oder jenen jedenfalls ähnlichen persönlichen Tatantrieben. Vielmehr befinden sie sich in der sittlich verwirrenden, mitunter ausweglosen Lage, vom eigenen Staat, der vielen Menschen bei geschickter Massenpropaganda nun einmal als unangezweifelte Autorität zu erscheinen pflegt, mit der Begehung verwerflichster Verbrechen geradezu beauftragt zu werden. Sie befolgen solche Anweisungen unter dem Einfluss politischer Propaganda oder der Befehlsautorität oder ähnlicher Einflüsse ihres eigenen Staates, von welchem sie im Gegenteil die Wahrung von Recht und Ordnung zu erwarten berechtigt sind. Diese gefährlichen Verbrechensantriebe gehen statt von den Befehlsempfängern vom Träger der Staatsmacht aus, unter krassem Missbrauch dieser Macht. Derartige Verbrechensbefehle bleiben nicht einmal auf den eigenen Staatsbereich beschränkt. Die Hauptverhandlung hat erwiesen, dass sie auch im zwischenstaatlichen Bereich vorkommen.

Diese besonderen Umstände staatlich befohlener Verbrechen befreien die Tatbeteiligten keineswegs von der strafrechtlichen Schuld. Jede staatliche Gemeinschaft darf und muss verlangen, dass sich jedermann von Verbrechen, auch von unter Missbrauch staatlicher Befugnisse geforderten, bedingungslos fernhält. Andernfalls wäre jede Ordnung aufgelöst und den politischen Verbrechen das Tor geöffnet. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist (BGHSt 2, 194, 200). Daran ist auch für den Bereich verbrecherischer Regime festzuhalten. Unter besonderen Umständen mögen staatliche Verbrechensbefehle allerdings Strafmilderungsgründe abgeben. Wer aber politischer Mordhetze willig nachgibt, sein Gewissen zum Schweigen bringt und fremde verbrecherische Ziele zur Grundlage eigener Überzeugung und eigenen Handelns macht, oder wer in seinem Dienst- oder Einflussbereich dafür sorgt, dass solche Befehle rückhaltlos vollzogen werden, oder wer dabei anderweit einverständlichen Eifer zeigt oder solchen staatlichen Mordterror für eigene Zwecke ausnutzt, kann sich deshalb nicht darauf berufen, nur Tatgehilfe seiner Auftraggeber zu sein. Sein Denken und Handeln deckt sich mit demjenigen der eigentlichen Taturheber. Er ist regelmässig Täter.

Anders kann es rechtlich jedoch bei denen liegen, die solche Verbrechensbefehle missbilligen und ihnen widerstreben, sie aber gleichwohl aus menschlicher Schwäche ausführen, weil sie der Übermacht der Staatsautorität nicht gewachsen sind und ihr nachgeben, weil sie den Mut zum widerstand oder die Intelligenz zur wirksamen Ausflucht nicht aufbringen, sei es auch, dass sie ihr Gewissen vorübergehend durch politische Parolen zu beschwichtigen und sich vor sich selber zu rechtfertigen suchen. Es besteht kein hinreichender rechtlicher Grund, solche Menschen ausnahmslos und zwangsläufig von vornherein schon in der Beteiligungsform dem Taturheber, dem bedenkenlosen Überzeugungstäter und dem überzeugten, willigen Befehlsempfänger gleichzusetzen, zumal das Gesetz auch dem Tatgehilfen die volle Täterstrafe androht und nur eine Kannmilderung der Strafe vorsieht.

Die materiell-objektive Lehre ist aus allen diesen Gründen zu schematisch eng. Sie bedarf weiterer Prüfung hinsichtlich ihrer Tragweite. Auch aus diesem Grunde verdient die bisherige Rechtsprechung, richtig verstanden, den Vorzug (vgl. auch Kohlrausch-Lange, StGB, 42. Aufl., Vorbem. I 5 A vor § 47: Einfluss "übermächtiger Faktoren"

Die Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf die erwiesene innere Haltung des Angeklagten bei beiden Attentaten ergibt unter Berücksichtigung aller Umstände, dass er diese Taten nicht als eigene gewollt, dass er kein eigenes Interesse an ihnen und keinen eigenen Tatwillen gehabt, dass er sich fremdem Täterwillen nur widerstrebend gebeugt dass er sich letztlich der Autorität seiner damaligen politischen Führung wider sein Gewissen unterworfen und dass er die Tatausführung in keinem wesentlichen Punkte selber bestimmt hat. Ein eigenes materielles oder politisches Interesse als Indiz für seinen Täterwillen hat nicht bestanden. Ihm ist kein Tatlohn versprochen worden wie einem gedungenen Handlanger, und er hat auch keinen erhalten. Die Ordensverleihung hat ihn überrascht und abgestossen. Er konnte sich ihr nicht entziehen. R. und Ba. als "zu beseitigende Feinde der Sowjetunion" anzusehen, entsprang nicht seiner eigenen politischen Eingebung. Solche Vorstellungen sind ihm, ohne dass sie ihm zur festen Maxime geworden wären und sein Gewissen betäubt hätten, von Jugend auf ohne wirklichen Erfolg indoktriniert worden. Er hat ihnen im Grunde nie geglaubt, sondern sich im Tatzeitpunkt damit nur zeitweilig zu beschwichtigen gesucht. Das ist ihm nur ganz vorübergehend gelungen.

Die Tatschuld hat sein Gewissen dann nur weiter angestachelt. Er hätte seine Taten auch nicht, wie die nationalsozialistischen Verbrecher, nach den politischen Umständen zwangsweise sühnen müssen. Er ist der sittlich unausweichlichen Sühne im Gegenteil unter Lebensgefahr nachgegangen, sobald er erkannt hatte, dass er zum "Berufsmörder" missbraucht werden sollte. Das regelmässig für Täterwillen sprechende Anzeichen eigenhändiger Tatbegehung hat unter diesen Umständen diese rechtliche Bedeutung nicht. Die Auftraggeber S. haben in beiden Fällen das Ob und Wie der Tat beherrscht. Sie haben die Tatentschlüsse gefasst, die Opfer bestimmt, die Waffen und das Gift ausgewählt und erprobt, den Angeklagten als Tatwerkzeug befohlen, sie haben die sorgfältig geplanten "Legenden" vorgeschrieben, die Reisen nach Mü. und deren Dauer genau bestimmt und bis ins Einzelne angeordnet, wo und wann die Taten auszuführen seien. Allerdings hat S. beide Taten ausserhalb des Machtbereichs seiner Auftraggeber begangen. Jedoch auch dies macht ihn nicht zum Täter. Zu meinen, er hätte sich doch nur westlichen Behörden zu offenbaren brauchen, hiesse die wahre Sachlage verkennen. Dem Angeklagten ist es zu glauben, dass jemand, der elf Jahre hindurch als bildsamer junger Mensch ununterbrochen im Kern des sowjetischen Machtbereichs zugebracht hat und dort ständig indoktriniert worden ist, grosse Schwierigkeiten damit hat, westliche Lebens- und Denkweise zu verstehen, sich in sie hineinzufinden, Heimat, Verwandte und vertrauten Sprachraum für immer zu verlassen und dafür unbekannte Umstände, Gefahren und Einflüsse auf sich zu nehmen, selbst wenn er hier schon eine persönliche Bindung hat. Auch hat er bisher keinen Beruf erlernt, der ihn ernähren kann. Wegen des erteilten "wichtigen Regierungsauftrags" ist ihm ferner zu glauben, dass er damals gefürchtet hat, vor und bei den Attentaten im sorglosen "Westen" vom KGB überwacht zu werden und nach einem Übertritt als "Verräter" der Rache seiner Auftraggeber ausgesetzt zu sein. Das Gesamtbild aller Tatumstände spricht daher nicht für Täterschaft des Angeklagten. Daher war er als Gehilfe (§ 49 StGB) zu verurteilen.

III.

1. Der rechtliche Entschuldigungsgrund des Nötigungsstandes kommt dem Angeklagten nicht zugute. Er ist zwar stärkstens beeinflusst, aber nicht mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder seiner Angehörigen bedroht und dadurch zur Ausführung der Taten genötigt worden. Zwar mag es beim KGB bei straffen Befehlsverhältnissen unter vergleichbaren Umständen zu solchen Nötigungen kommen können. Das und die Frage der Unausweichlichkeit einer solchen Nötigung kann hier jedoch auf sich beruhen, weil kein solcher Fall vorliegt. Daher hat der Angeklagte schuldhaft gehandelt.

2. In keinem der beiden Fälle hat Zurechnungsunfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten bestanden.

S. ist geistig völlig gesund. Falls der Sturz von der Schaukel im Jahre 1944 eine Hirnerschütterung bewirkt hat, ist sie praktisch folgenlos ausgeheilt. Dies hat der psychiatrische Sachverständige überzeugend dargelegt. Das völlig klare, intelligente, beherrschte, geordnete Verhalten des Angeklagten in der mehrtägigen Hauptverhandlung, besonders bei der Befragung durch Gericht und Beteiligte, hat es ohne jeden Schatten eines Zweifels bestätigt.

Auch die vor den Attentaten eingenommenen Gegenmittel können die Zurechnungsfähigkeit nicht beeinflusst haben. Sie haben niemals irgendeine wahrnehmbare äussere oder innere Wirkung gezeigt. Die Möglichkeit einer solchen Wirkung durch jeweils eine einzige Tablette ist auch von den Sachverständigen Prof. Dr. Mu. und Prof. Dr. Ra. stichhaltig ausgeschlossen worden. Das entspricht der Überzeugung des Senats.

Der vom Angeklagten geschilderte heftige Erregungszustand ging über die bei nahezu jedem Menschen selbstverständliche Taterregung nicht hinaus. Von der in Psychiatrie und Rechtsprechung nicht unumstrittenen Erscheinung des Affektsturms kann nach S. Persönlichkeit und der Art beider Taten keine Rede sein. Mit den Sachverständigen ist daher festzustellen, dass der geistig gesunde Angeklagte bei keiner der beiden Taten in seiner Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen ist.

IV.

Spätestens ab Ende 1954 hat S. erkannt, dass seine Beziehungen zum KGB dazu dienten, letztlich Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik Deutschland und militärische Geheimnisse der in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Streitkräfte zu erlangen. Insoweit ist er eines Vergehens gegen § 100e Abs. 1 StGB und tateinheitlich damit eines Vergehens gegen § 7 Abs. 1 des Anhangs A zum Truppenvertrag schuldig. Diese Vergehen stehen zu der zweifachen Mordbeihilfe in Tatmehrheit (BGHSt 15, 230, 233).

V.

Zur Strafbemessung ist besonders erwogen worden:

Der Angeklagte hat in fremdem Auftrage in der Bundesrepublik Deutschland zwei Menschen getötet, die Anspruch auf deren Schutz hatten. Das wiegt ausserordentlich schwer Aber er war dabei nur ein widerwilliges Werkzeug rücksichtsloser politischer Urheber. Er hat das Verwerfliche und Verderbliche seines Tuns noch im sowjetischen Machtbereich erkannt und nach gelungener Flucht sofort rückhaltlos bekannt. Er bereut offensichtlich seine Taten, wenn es ihm auch verwehrt ist, Gefühle zu betonen. Von vornherein hat er umfassend, rückhaltlos gestanden und nichts beschönigt. Das Attentat auf R. hatte, wie er wusste, keinerlei Verdacht erregt. Trotzdem hat er es aus eigenem Antrieb, ohne jeden Argwohn der vernehmenden Beamten, um reinen Tisch zu machen, offenbart. Er hat sich selber gestellt, die sichere Möglichkeit einer zweifachen Mordanklage mit allen ihren Folgen vor Augen. Mit seiner Vergangenheit hat er unter schwierigsten Umständen und auf für ihn wie seine Frau gefahrvolle Weise gebrochen. Das gilt für die Flucht, aber auch für die Zukunft. Seine Schuld wird auch dadurch gemildert, dass er in früher Jugend trotz eines christlichen Elternhauses doch fortgesetzt Zeuge blutiger politischer Gewalttaten sein musste. Zu berücksichtigen war auch, auf welch abgefeimte Weise er mit 19 Jahren in die Fänge des KGB geraten und dort gedrillt worden ist. Einen Teil seiner grossen Schuld hat er schon jetzt gesühnt. Er ist aber auch innerlich bereit, die weiter erforderliche Sühne zu tragen. Unter den festgestellten Tatumständen ist die Schuld seiner Auftraggeber weit grösser. Ohne ihr System des individuellen politischen Terrors wären die beiden Attentate nicht geschehen. Bedenkenlos haben die sowjetrussischen Auftraggeber es für angebracht gehalten, die Begehung zweier politischer Morde auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland anzuordnen und ausführen zu lassen und dabei jede internationale Gesittung und die aus korrekten diplomatischen Beziehungen zweier Staaten hervorgehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen grob zu missachten. Diese Schuld der hochgestellten Taturheber ist dem Angeklagten nicht anzulasten. Anderseits hat S. durch sein rückhaltloses Geständnis dazu beigetragen, solche verbrecherischen Methoden des politischen Kampfes öffentlich aufzudecken und blosszustellen. Die Strafe soll die bürgerliche Existenz des Angeklagten nicht vernichten. Soweit möglich, soll sie ihm sühnen helfen. Von der Möglichkeit, je auf lebenslanges Zuchthaus zu erkennen, brauchte nach allem kein Gebrauch gemacht zu werden. Der Bundesgerichtshof hat die Strafen für die beiden Attentate vielmehr gemäss § 49 Abs. 2 StGB gemildert. Als Einzelstrafen für beide Beihilfefälle bilden je sechs Jahre Zuchthaus eine angemessene Sühne. Für die verräterischen Beziehungen reichte eine Strafe von einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis aus, umgewandelt gemäss § 21 StGB in ein Jahr Zuchthaus. Aus diesen Einzelstrafen von zusammen dreizehn Jahren Zuchthaus ist unter angemessener Erhöhung der Einsatzstrafe eine Gesamtstrafe von acht Jahren Zuchthaus gebildet worden. Sie reicht nach der Überzeugung des Bundesgerichtshofs insgesamt zur Sühne aus. Auch die Nebenklägerinnen haben erkennen lassen, dass sie keine strengen Strafen für unbedingt geboten halten.

Die Untersuchungshaft ist angerechnet worden (§ 60 StGB). Zur Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bestand bei dem Persönlichkeitsbild dieses Angeklagten trotz der Art und Schwere der Taten ausnahmsweise kein hinreichender Grund. S. ist aus eigener sittlicher Kraft mit Hilfe seiner Frau auf einem verbrecherischen Wege unter gefahrvollen Umständen umgekehrt. Allein schon die Taten belasten seine Ehre schwer. Das Urteil braucht dazu nicht notwendigerweise noch beizutragen. Auf Rückgabe der sichergestellten Ausweise hat der Angeklagte verzichtet.

Kostenentscheidung: § 465 StPO.