SG Berlin, Urteil vom 27.06.2012 - S 83 KA 223/11
Fundstelle
openJur 2012, 124036
  • Rkr:

1. Die Gewährung eines Wachstums nach § 6 Abs 4 des Honorarverteilungsvertrages (HVV) 2009 für den Bezirk der KV Berlin erfolgt erst im Rahmen der Honorarfestsetzung, so dass die Bestandskraft des Regelleistungsvolumen-Zuweisungsbescheides einer hierauf gerichteten Klage im Honorarfestsetzungsverfahren nicht entgegensteht.

2. Die für neu niedergelassene Ärzte geltende Wachstumsregelung in § 6 Abs 4 des HVV 2009 findet auf neu zugelassene MVZ Anwendung, nicht jedoch auf einzelne im MVZ tätige Ärzte.

Tenor

Der Honorarbescheid für das Quartal I/2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.4.2011 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, über das Honorar der Klägerin für das Quartal I/2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Vergütung vertragsärztlicher Leistungen für das Quartal I/2009.

Die Klägerin nimmt als Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) mit den Fachrichtungen Neurologie, Psychiatrie sowie Strahlentherapie seit dem 1.1.2008 an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Das MVZ wurde zum 1.1.2008 neu gegründet, indem ein zuvor niedergelassener Facharzt für Nervenheilkunde (Dr. B ) auf seinen Sitz zugunsten einer Anstellung im MVZ (im Umfang einer 1/4-Stelle) verzichtete. Zugleich wurde der Facharzt für Neurologie Dr. H im Umfang von 0,75 angestellt. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K G wurde zum 1.9.2008 als Nachfolgerin des ausgeschiedenen Herrn Dr. B im Umfang von 0,75 angestellt bei gleichzeitiger Reduzierung des Tätigkeitsumfangs von Dr. H auf 0,25. In dem im Klageverfahren allein noch streitbefangenen Quartal I/2009 waren bei der Klägerin ferner drei Fachärzte für Strahlentherapien angestellt.

Mit Bescheid vom 19.12.2008 wies die Beklagte der Klägerin ein Regelleistungsvolumen (RLV) für das Quartal I/2009 i.H.v. 4.983,70 € zu. Für Dr. G legte sie hierbei die Fallzahl von Dr. B im Vorjahresquartal I/2008 von 75 Fällen zu Grunde und für Dr. H dessen Fallzahl im Vorjahresquartal I/2008 von 20 Fällen. Die durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe (Nervenärzte, Fachärzte für Nervenheilkunde, Fachärzte für Neurologie, Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie) lag im Quartal I/2008 bei 651.

Die Klägerin forderte mit der Honorarabrechnung für das Quartal I/2009 im Rahmen des RLV ein Honorar i.H.v. 10.261,03 € an.

Mit Honorarbescheid für das Quartal I/2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin ein Gesamthonorar von 380.148,05 €. Den das RLV überschreitenden Betrag von 5.284,13 € vergütete die Beklagte mit abgestaffelten Preisen.

Gegen den Honorarbescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, den sie damit begründete, dass im Rahmen der Zuweisung des RLV nicht berücksichtigt worden sei, dass Dr. H und Dr. G als Neupraxis gemäß § 7 Abs. 4 des Honorarverteilungsvertrages behandelt werden müssten. Die Fallzahl der Vorjahresquartale sei nicht signifikant, da sich die Praxis noch im Aufbau befinde und die Fallzahlen kontinuierlich steigen würden. Es werde um Anerkennung aller Fälle der Frau Dr. G gebeten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.4.2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die Wachstumsregelung in § 6 Abs. 4 der Anl. 1 zum Honorarvertrag nur für neu niedergelassene Ärzte gelte und auf angestellte Ärzte nicht entsprechend anwendbar sei. Die Unterscheidung sei auch gerechtfertigt, da die Situation von im Rahmen einer Nachbesetzung angestellten Ärzten mit dem Fall einer neuen Niederlassung nicht vergleichbar sei. Anderenfalls könnte in einem MVZ durch Neubesetzung einer Arztstelle jeweils ein neuer 12-Quartals-Zeitraum für einen Fallzahlzuwachs ausgelöst werden.

Am 12.5.2011 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.

Sie ist der Ansicht, der Honorarbescheid für das Quartal I/2009 sei rechtswidrig und verletze sie in ihren Rechten. Die Voraussetzungen der Wachstumsregelung gemäß § 6 Abs. 4 der Anl. 1 zum Honorarvertrag seien vorliegend erfüllt, da sowohl Herr Dr. H als auch Frau Dr. G im Quartal I/2009 weniger als 12 Quartale vertragsärztlich tätig gewesen seien. Der Honorarverteilungsvertrag der Beklagten gelte auch für MVZ. Da § 6 Abs. 4 der Anl. 1 zum Honorarvertrag keine ausdrückliche abweichende Regelung für Ärzte in MVZ betreffe, müsse die Regelung entsprechend § 72 Abs. 1 SGB V auch für diese Ärzte gelten. Aus der Formulierung „neu niedergelassener Arzt“ lasse sich nicht ableiten, dass die Vorschrift nur für selbstständige Vertragsärzte gelten solle, da auch an anderer Stelle des Honorarverteilungsvertrages die Begriffe Arzt, Vertragsarzt, Praxis und Arztpraxis verwendet würden, ohne dass zweifelhaft sei, dass diese Regelungen auch auf MVZ bzw. auf die in einem MVZ angestellten Ärzte Anwendung fänden. Anderenfalls unterläge es der Willkür der Beklagten, welche Vorschriften sie auf MVZ anwende und welche nicht. Auch der Sinn und Zweck der Wachstumsregelung spreche für eine Anwendung. Eine Ungleichbehandlung von selbstständigen Vertragsärzten und im MVZ angestellten Ärzten sei nicht gerechtfertigt. Allein die Tatsache, dass die Besetzung von Arztstellen in MVZ möglicherweise eine höhere Fluktuation aufweise, rechtfertige keine Ungleichbehandlung. Die Möglichkeit, über „Umbesetzungen“ einen neuen Wachstumszeitraum zu generieren, bestehe theoretisch auch für Vertragsärzte, beispielsweise über einen „Zulassungstausch“. Ebenso wie diese Möglichkeit, sei jedoch auch die Möglichkeit der Nachbesetzung einer Arztstelle in einem MVZ praktisch nicht durchführbar. Es bestünden arbeitsrechtliche Beziehungen zu den auf den Arztstellen angestellten Ärzten, die nicht ohne weiteres beendet werden könnten, so dass die Gefahr eines Missbrauchs nicht bestehe. Die Beklagte übersehe ferner, dass die Jungearztregelung ohnehin nur solange Anwendung finde, bis die durchschnittliche Fallzahl der Fachgruppe erreicht werde.

Die Klägerin beantragt,

den Honorarbescheid für das Quartal I/2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.4.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das über das Honorar der Klägerin für das Quartal I/2009 unter Beachtung der Rechtauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die Wachstumsregelung in § 6 Abs. 4 der Anl. 1 zum Honorarvertrag sei weder dem Wortlaut nach noch nach dem Sinn und Zweck der Regelung auf angestellte Ärzte in einem MVZ anwendbar. § 72 Abs. 1 S. 2 SGB V könne lediglich entnommen werden, dass der Honorarvertrag mangels abweichender Regelungen entsprechend für MVZ gelte. Der Regelung lasse sich jedoch nicht eine Geltung sämtlicher sich auf Ärzte beziehenden Regelungen entnehmen. Es sei insofern auf den Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung abzustellen. Die Anstellung eines Arztes in einem MVZ sei mit der Niederlassung im Sinne des § 6 Abs. 4 der Anl. 1 zum Honorarvertrag vom Sinn und Zwecke nicht vergleichbar. Durch die Wachstumsregelung solle dem Umstand Rechnung getragen werden, dass neu gegründete Praxen in der Startphase erfahrungsgemäß einen überdurchschnittlichen Fallzahlzuwachs hätten. Für sie sei es nicht zumutbar, dass dieser sich erst mit einer Verzögerung von vier Quartalen auf das Honorar auswirke. Demgegenüber führe der Austausch eines in einem MVZ angestellten Arztes regelmäßig nicht dazu, dass sich die Zahl der Patienten des MVZ wesentlich verändere. Soweit es zu geringfügigen Veränderungen, sei dies im entsprechenden Quartal des Folgejahres zu berücksichtigen. Auch auf neu gegründete MVZ als solche sei die Neupraxenregelung nicht entsprechend anwendbar. Ebenso wie zwei bereits niedergelassene Ärzte, die sich zu einer Gemeinschaftspraxis zusammenschließen keine Neupraxis darstellten, sei dies auch bei einem MVZ der Fall, das ebenfalls bereits bestehende Zulassungen übernehme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakten und auf die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und auch begründet.

Die Bestandskraft des RLV-Zuweisungsbescheides steht der Begründetheit der Klage nicht entgegen, da nach § 6 Abs. 4 des im Quartal I/2009 geltende Honorarverteilungsvertrages (in der Fassung des Beschlusses des Landesschiedsamtes vom 21.11.2008 = HVV 2009, abrufbar unter http://www.kvberlin.de/20praxis/60vertrag/10vertraege/hv/archiv/hv2009.pdf) einem neu niedergelassenen Arzt stets zunächst das RLV des Vorgängers zugewiesen wird und eine nachträgliche Erhöhung bei Jungpraxen erfolgt, wenn mehr Fälle abgerechnet werden. Die Entscheidung über die Gewährung eines Wachstums bis zum Fachgruppendurchschnitt erfolgt danach notwendig nicht bereits im RLV-Zuweisungsbescheid, sondern erst im Rahmen der Honorarfestsetzung.

Der angefochtene Honorarfestsetzungsbescheid ist rechtswidrig. Die Beklagte hat über das Honorar der Klägerin für das Quartal I/2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden, wobei die Rechtsauffassung des Gerichts von derjenigen der Klägerin abweicht, jedoch im vorliegenden Fall zu demselben Ergebnis führt.

Rechtsgrundlage für Honoraransprüche aus vertragsärztlicher Tätigkeit ist § 85 Abs. 4 SGB V in der hier noch maßgeblichen Fassung des GKV-WSG vom 26.3.2007 (BGBl. I, S. 378: im Folgenden: SGB V). Nach dessen Satz 1 verteilt die Kassenärztliche Vereinigung die Gesamtvergütungen an die Vertragsärzte; in der vertragsärztlichen Versorgung verteilt sie die Gesamtvergütungen getrennt für die Bereiche der hausärztlichen und der fachärztlichen Versorgung (§ 73 SGB V). Sie wendet dabei den mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich zu vereinbarenden Verteilungsmaßstab an (§ 85 Abs. 4 Satz 2 SGB V). Bei der Verteilung der Gesamtvergütungen sind Art und Umfang der Leistungen der Vertragsärzte zu Grunde zu legen; dabei ist jeweils für die von den Krankenkassen einer Kassenart gezahlten Vergütungsbeträge ein Punktwert in gleicher Höhe zu Grunde zu legen (§ 85 Abs. 4 Satz 3 SGB V). Abweichend von § 85 SGB V werden gemäß § 87b Abs. 1 SGB V ab dem 01.01.2009 die vertragsärztlichen Leistungen von der Beklagten auf der Grundlage der regional geltenden Euro-Gebührenordnung nach § 87a Abs. 2 SGB V vergütet. Zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Arztes und der Arztpraxis sind nach § 87b Abs. 2 Satz 1 SGB V arzt- und praxisbezogene RLV festzulegen. Ein RLV ist die von einem Arzt oder der Arztpraxis in einem bestimmten Zeitraum abrechenbare Menge der vertragsärztlichen Leistungen, die mit den in der Euro-Gebührenordnung gemäß § 87a Abs. 2 SGB V enthaltenen und für den Arzt oder die Arztpraxis geltenden Preisen zu vergüten ist (§ 87b Abs. 2 Satz 2 SGB V). Die das RLV überschreitende Leistungsmenge ist mit abgestaffelten Preisen zu vergüten (§ 87b Abs. 2 Satz 3 SGB V). Die Werte für die RLV sind morbiditätsgewichtet und differenziert nach Arztgruppen und nach Versorgungsgraden sowie unter Berücksichtigung der Besonderheiten kooperativer Versorgungsformen festzulegen (§ 87b Abs. 3 Satz 1 SGB V). Der Bewertungsausschuss bestimmt erstmalig bis zum 31.8.2008 das Verfahren zur Berechnung und zur Anpassung der RLV (§ 87b Abs. 4 Satz 1 SGB V). Ausgehend hiervon hat der (Erweiterte) Bewertungsausschuss mit Beschluss in seiner 7. Sitzung am 27. und 28.8.2008 (Teil F) detaillierte Vorgaben zur Berechnung und zur Anpassung von arzt- und praxisbezogenen RLV nach § 87b Abs. 2 und Abs. 3 SGB V gemacht (Deutsches Ärzteblatt, 2008, A 1998 ff). Die Beklagte stellt zwar mit den Krankenkassen unter Verwendung der erforderlichen regionalen Daten die für die Zuweisung der RLV konkret anzuwendende Berechnungsformel fest, ist dabei aber an die Vorgaben des Bewertungsausschusses gebunden (§ 87b Abs. 4 Satz 3 SGB V).

Nach Teil F Nr. 3.5 des Beschlusses des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28.8.2008 beschließen die Partner der Gesamtverträge für Neuzulassungen von Vertragsärzten und Umwandlung der Kooperationsform Anfangs- und Übergangsregelungen. Über das Verfahren der Umsetzung einigen sich die Partner der Gesamtverträge. Sofern nichts entsprechend Anderes vereinbart wurde, gilt für Ärzte, die im Aufsatzzeitraum noch nicht niedergelassen waren (Neupraxen), das arztgruppendurchschnittliche Regelleistungsvolumen für das jeweilige Quartal.

Mit Beschluss des Bewertungsausschusses vom 20.4.2009 (180. Sitzung, DÄ-Blatt, DÄ-Bl. 2009 A 942) wurde die Regelung in Teil F Nr. 3.5 dahingehend ergänzt, dass Anfangs- und Erprobungsregelungen auch für Praxen in der Anfangsphase zu beschließen sind.

In § 6 Abs. 4 HVV in der Fassung des Beschlusses des Landesschiedsamtes vom 21.11.2008 (abrufbar unter http://www.kvberlin.de/20praxis/60vertrag/10vertraege/hv/archiv/hv2009.pdf) findet sich auf dieser Grundlage folgende Regelung für neu zugelassene Praxen:

Ein neu niedergelassener Arzt erhält ein Regelleistungsvolumen auf Basis der Fallzahl des Vorgängerarztes. Soweit es keinen Vorgängerarztes gibt, erfolgt die Berechnung des Regelleistungsvolumens auf der Basis der Hälfte der durchschnittlichen, für das Regelleistungsvolumen relevanten Fallzahl der jeweiligen Arztgruppe. Soweit eine höhere Fallzahl - als die in Satz 1 und 2 zwei genannte - im Abrechnungsquartal tatsächlich erreicht wird, vergrößert sich das Regelleistungsvolumen des Arztes pro zusätzlichem Fall in Höhe des durchschnittlichen Fallwerts der Arztgruppe begrenzt bis zur durchschnittlichen Fallzahl der Arztgruppe. Nach Ablauf von 12 Quartalen nach der Niederlassung berechnet sich das Regelleistungsvolumen auf der Basis der Fallzahl des Vorjahresquartals. Überschreitet er die durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe, gilt die vorgenannte Regelung nicht mehr.

Diese Wachstumsregelung findet zwar entgegen der Ansicht der Klägerin auf angestellte Ärzte keine Anwendung (dazu unter 1.). Jedoch ist die Wachstumsregelung auf neu niedergelassene MVZ anwendbar und kann deshalb von dem zum 1.1.2008 zugelassenen MVZ der Klägerin beansprucht werden (dazu unter 2.).

1. Die Wachstumsregelung gemäß § 6 Abs. 4 Satz 3 HVV findet auf angestellte Ärzte keine Anwendung (so auch Hessisches LSG, Urteil vom 22.02.2012 – L 4 KA 6/11, juris Rdnr. 27 und – für die Vorgängerregelung unter Geltung der Individualbudgets – die 71. Kammer des SG Berlin, Urteil vom 17.11.2010 – S 71 KA 321/07, juris Rdnrn. 83ff.; siehe ferner das Urteil der Kammer vom 22.2.2012 – S 83 KA 213/11, juris Rdnrn. 55ff.) mit der Folge, dass allein der Umstand der Neuanstellung des Herrn Dr. H und der Frau Dr. G für sich genommen nicht zur Anwendbarkeit der Wachstumsregelung führt . Gegen die Anwendbarkeit spricht bereits der eindeutige Wortlaut dieser Regelung, der nur für neu niedergelassene Ärzte gilt. Eine eigene Niederlassung haben aber nur zugelassene Ärzte (einschließlich Berufsausübungsgemeinschaften) und Medizinische Versorgungszentren (vgl. § 95 Abs. 1 Satz 7 SGB V, § 17 der Musterberufsordnung für Ärzte). Noch deutlicher ist insofern die Ermächtigungsvorschrift in Teil F Nr. 3.5 des Beschlusses des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28.8.2008, wonach von den regionalen Gesamtvertragspartnern Anfangs- und Übergangsregelungen nur für Neuzulassungen von Vertragsärzten und Umwandlungen der Kooperationsform zu regeln sind. Die Regelungen stellen eindeutig auf die Niederlassung bzw. Zulassung ab und sind daher nicht auch auf die Anstellung von Ärzten durch einen zugelassenen Leistungserbringer anwendbar. Eine Auslegung der Jungpraxenregelung über den eindeutigen Wortlaut hinaus ist nicht möglich.

Die Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung liegen ebenfalls nicht vor. Insofern fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke, da nicht davon auszugehen ist, dass dem erweiterten Bewertungsausschuss bzw. den Gesamtvertragspartnern bei Schaffung der Jungpraxenregelung die Problematik der Übertragbarkeit auf angestellte Ärzte nicht bekannt war und eine diesbezügliche Regelung daher unbewusst nicht getroffen wurde. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Regelung bewusst auf Neuzulassungen beschränkt wurde, zumal sich auch die dieser Regelung zu Grunde liegende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausschließlich mit dieser Konstellation befasst hat (dazu sogleich).

Die Anstellung eines Arztes bzw. die Übernahme einer Arztstelle durch einen zugelassenen Leistungserbringer ist auch nicht mit der neuen Niederlassung eines Arztes vergleichbar.

Die Jungpraxenregelung beruht auf der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 28.1.2009 – B 6 KA 5/08 R, zitiert nach juris, m. umfangr. Nachweisen). Maßgeblich für die Forderung von Wachstumsregelungen ist für das BSG, dass umsatzmäßig unterdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben müssen, zumindest den durchschnittlichen Umsatz der Arztgruppe zu erreichen. Dem Vertragsarzt muss die Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimerweise seine Position im Wettbewerb mit den Berufskollegen zu verbessern (BSG, a.a.O., juris Rdnr. 24).

Stellt das BSG damit insbesondere auf die Wettbewerbssituation des Arztes am Markt ab, kann für die Anwendung der Wachstumsregelung bei Berufsausübungsgemeinschaften und MVZ allein auf diese abgestellt werden und nicht auf die bei ihnen angestellten Ärzte, da nur sie als Wettbewerber am Markt teilnehmen. Dies gilt hinsichtlich der Möglichkeit des Wachstums allgemein sowie auch für die Frage, ob es sich um eine Jungpraxis handelt, für die ein unbeschränktes Wachstum möglich sein muss. Das BSG hält eine völlige Freistellung von Wachstumsbegrenzungen nur in der „Aufbauphase“ einer Praxis für erforderlich. Die Anstellung eines Arztes auch in Verbindung mit der Übernahme einer weiteren (neuen) Arztstelle im Wege der Nachbesetzung ist jedoch mit der Aufbauphase einer Praxis nicht vergleichbar. Denn der eindeutige Sinn und Zweck des Privilegs für Jungpraxen besteht darin, einer neu zugelassenen Praxis eine wirtschaftliche Aufbauphase zu verschaffen, damit sie im Wettbewerb Fuß fassen kann. Bei einem angestellten Arzt ist eine solche Förderung aber gar nicht erforderlich und auch nicht geboten, weil der angestellte Arzt auf einem bestehenden Arztsitz üblicherweise in einen laufenden Betrieb einsteigt. Tritt ein Jungarzt die Praxisnachfolge eines Vertragsarztes mit unterdurchschnittlichem Leistungsvolumen an, steht rechtlich und wirtschaftlich die Übernahme der Praxis im Hintergrund. Tatsächlich baut der Nachfolger in der Einzelpraxis mit der Übernahme erst seine eigene Jungpraxis auf. Besetzt dagegen ein zugelassener Leistungserbringer einen Arztsitz mit einem angestellten Arzt nach, setzt die Einrichtung damit die vertragsärztliche Tätigkeit mit dem angestellten Arzt fort. Es handelt sich auch bei Übernahme einer weiteren (neuen) Arztstelle um das Wachstum einer bestehenden Praxis, nicht um den Aufbau einer neuen Praxis. Auch die mit der Übernahme einer weiteren Arztstelle verbundene wirtschaftliche Situation ist mit der Aufbauphase einer neuen Praxis nicht vergleichbar. Während ein zugelassener Leistungserbringer bereits über eine vollständig ausgestattete Praxis mit laufendem Praxisbetrieb und bestehendem Patientenstamm verfügt und er anhand der Patientenzahlen gut kalkulieren kann, ob sich die Anstellung eines weiteren Arztes nebst dem ggf. erforderlichen Erwerb eines Arztsitzes für ihn wirtschaftlich lohnt, muss sich ein neu niedergelassener Leistungserbringer den gesamten Praxisbetrieb zunächst erst einmal aufbauen und Investitionen tätigen mit erheblich höherer Ungewissheit, ob sich diese für ihn rechnen. Insbesondere wird er die Patientenzahlen anfangs nur deutlich schwerer kalkulieren können.

Gegen eine Anwendung der Jungpraxenregelung auf angestellte Ärzte spricht zudem, dass überdurchschnittlich abrechnenden Leistungserbringern hierdurch ein Wachstum oberhalb des Fachgruppendurchschnitts (bezogen auf die Anzahl der bei dem Leistungserbringer tätigen Ärzte) ermöglicht würde, worauf nach der Rechtsprechung des BSG zu den Wachstumsregelungen aber gerade kein Anspruch besteht.

Aus den vorgenannten Gründen stellt die Nichtanwendbarkeit der Jungpraxenregelung auf angestellte Ärzte auch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz dar.

2. Die Wachstumsregelung gemäß § 6 Abs. 4 Satz 3 HVV findet entgegen der Ansicht der Beklagten jedoch auf das MVZ als solches Anwendung mit der Folge, dass dem zum 1.1.2008 neu gegründeten MVZ der Klägerin für die Dauer von 12 Quartalen ab der Niederlassung ein Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt zu ermöglichen ist.

Zwar spricht § 6 Abs. 4 HVV nur von dem neu niedergelassenen „Arzt“ und die ansonsten durchgehend eingehaltene Unterscheidung zwischen Praxis und Arzt in §§ 5 und 6 HVV sowie die Regelung vor allem des arztbezogenen RLV in § 6 HVV könnte dafür sprechen, die Regelung nur auf Einzelärzte anzuwenden. Für eine zumindest entsprechende Anwendung auf neu gegründete MVZ spricht aber zunächst § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V, wonach mangels abweichender Bestimmung die für Ärzte geltenden Bestimmungen für MVZ entsprechend gelten. Für eine Anwendung der Wachstumsregelung auf MVZ spricht ferner, dass sich die der Regelung zu Grunde liegende Rechtsprechung des BSG (stellvertretend BSG, Urteil vom 3.2.2010 – B 6 KA 1/09 R = SozR 4-2500 § 85 Nr. 50) auch nicht ausschließlich auf einzelne Ärzte, sondern auf Praxen in der Aufbauphase bezieht. Vor allem aber würde eine vollständige Nichtgeltung der Wachstumsregelung für MVZ (dasselbe gilt für Gemeinschaftspraxen) eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung gegenüber in Einzelpraxis tätigen Vertragsärzten und damit einen Verstoß gegen den Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit darstellen. Hintergrund der Erforderlichkeit von Wachstumsregelungen für Neu- und Jungpraxen ist, dass diesen - wegen des Rechts auf berufliche Entfaltung unter Berücksichtigung der Honorarverteilungsgerechtigkeit die Chance bleiben muss, durch Qualität und Attraktivität ihrer Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation der Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimerweise ihre Position im Wettbewerb mit den Berufskollegen zu verbessern. Daher ist allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen die Möglichkeit einzuräumen, durch Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe aufzuschließen und damit ihre Praxis zu einer mit typischen Umsätzen auszubauen (BSG, a.a.O., m.w.N.).

Diese Gründe gelten für ein neu gegründetes MVZ mit eigener (neuer) Niederlassung in gleicher Weise wie für einen neu niedergelassenen Arzt in einer Einzelpraxis. Ebenso wie ein einzelner Arzt, der z.B. im Wege der Nachbesetzung (§ 103 Abs. 4 SGB V) eine Praxis übernimmt, hat auch ein MVZ, das sich neu gründet und hierfür z.B. die Praxis eines Arztes erwirbt, der zugunsten einer Anstellung im MVZ auf seine Zulassung verzichtet (§ 103 Abs. 4a SGB V), erhebliche Investitionen im Hinblick auf den Erwerb und den Aufbau der Praxis zu tätigen, was dem MVZ ebenso wie dem in Einzelpraxis tätigen Arzt im Gegenzug auch die Chance eröffnen muss, durch Qualität und Attraktivität der Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation der Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimerweise seine Position im Wettbewerb zu verbessern.

Dem Einwand der Beklagten, dass auch bei einem Zusammenschluss zweier bereits niedergelassener Ärzte zu einer Gemeinschaftspraxis kein gesondertes Wachstum zu gewähren ist, kann im Rahmen der Auslegung des § 6 Abs. 4 HVV dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass das Merkmal „neu niedergelassener Arzt“ dahingehend ausgelegt wird, dass tatsächlich eine neue Niederlassung erforderlich ist und dass allein ein Zusammenschluss bereits niedergelassener Vertragsärzte zu einem MVZ oder einer Gemeinschaftspraxis am Ort der bisherigen Niederlassung hiervon nicht erfasst ist.

Da das MVZ der Klägerin zum 1.1.2008 im Zuge des Verzichts des Dr. B auf seine Zulassung zugunsten einer Anstellung in dem MVZ neu gegründet wurde, findet die Wachstumsregelung nach § 6 Abs. 4 Satz 3 HVV vorliegend Anwendung. Dies hat zur Folge, dass im Rahmen der Honorarfestsetzung für das Quartal I/2009 das der Klägerin zugewiesene RLV unter Zugrundelegung der tatsächlich in diesem Quartal von den sich eine volle Stelle teilenden Dres. H und G abgerechneten Fallzahlen, maximal bis zur durchschnittlichen Fallzahl der Arztgruppe (Nervenärzte, Fachärzte für Nervenheilkunde, Fachärzte für Neurologie, Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie) im Quartal I/2009 zu erhöhen ist.

Auf die Frage, ob sich Wachstumsregelung bei einem MVZ oder einer Gemeinschaftspraxis auf jeden einzelnen Arzt oder auf das MVZ bzw. die Gemeinschaftspraxis als solches bezieht, d.h. ob jedem einzelnen Arzt ein Wachstum bis zur durchschnittlichen Fallzahl seiner Arztgruppe zuzugestehen ist oder ob eine Begrenzung dahingehend vorzunehmen ist, dass ein Wachstum maximal bis zur Summe der durchschnittlichen RLVs der Fachgruppen der im MVZ tätigen Ärzte zu gewähren ist, kommt es vorliegend nicht an, da der Klägerin für I/2009 sowohl für Dr. H als auch für Dr. G ein weit unterdurchschnittlich RLV zugewiesen wurde. Es macht insofern keinen Unterschied, ob für beide Ärzte jeweils ein RLV in Höhe des Fachgruppendurchschnitts bezogen auf ihren Tätigkeitsumfang (1/4 des Fachgruppendurchschnitts für Dr. H und 3/4 des Fachgruppendurchschnitts für Dr. G ) zu gewähren ist oder ob der Klägerin ein RLV in Höhe der Summe der Fachgruppendurchschnitte zu gewähren ist (der volle Fachgruppendurchschnitt der Fachgruppe).

Diese Unterscheidung wäre nur dann streiterheblich, wenn einem oder mehreren im MVZ tätigen Ärzten in der Aufbauphase bereits ein RLV oberhalb des Fachgruppendurchschnitts zugewiesen wäre und ein oder mehreren anderen Ärzten dagegen ein unterdurchschnittliches RLV. Für diesen Fall wird ergänzend darauf hingewiesen, dass vieles dafür sprechen dürfte, die Wachstumsregelung entsprechend der bis zum Quartal IV/2008 geltenden Regelung in § 9 Abs. 10 lit. b) des seinerzeit geltenden HVV praxisbezogen dahingehend zu begrenzen, dass ein Wachstum maximal bis zur Summe der Fachgruppendurchschnitte der RLVs der im MVZ tätigen Ärzte zu gewähren ist. Dafür spricht, dass die Zuweisung des RLV nach § 5 Abs. 3 HVV praxisbezogen erfolgt und vor allem, dass dem neu niedergelassenen Leistungserbringer als solchem, hier dem MVZ in der Aufbauphase ein Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt zu ermöglichen ist und nicht jedem einzelnen im MVZ tätigen Arzt. Das neu niedergelassene MVZ als solches ist dem neu niedergelassenen Arzt in Einzelpraxis gleichzustellen (siehe oben). Wäre für jeden einzelnen Arzt en Wachstum bis zum Fachgruppendurchschnitt zu gewähren, wäre (bei überdurchschnittlichem RLV einzelner Ärzte) ein Wachstum des MVZ als solchem auch oberhalb des Fachgruppendurchschnitts möglich, worauf nach der Rechtsprechung des BSG aber gerade kein Anspruch besteht (vgl. BSG, a.a.O., juris Rdnr. 15).

Der angefochtene Honorarfestsetzungsbescheid war nach alledem aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Honoraranspruch der Klägerin für das Quartal I/2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Sie wird hierbei für die Dres. H und G ein RLV auf Basis der von ihnen tatsächlich abgerechneten RLV-relevanten Fallzahlen, maximal der durchschnittlichen Fallzahlen der Fachgruppe im Quartal I/2009, bezogen auf den jeweiligen Tätigkeitsumfang der beiden Ärzte, zu Grunde zu legen haben.

Zwar ist die Kammer der Rechtsauffassung der Klägerin, dass die Wachstumsregelung auch auf angestellte Ärzte Anwendung findet, nicht gefolgt. Diese Rechtsauffassung würde jedoch im vorliegenden Fall zu demselben Ergebnis führen wie die Rechtsauffassung der Kammer, weshalb die Klage im Ergebnis vollen Erfolg hatte und nicht zum Teil abzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.