Die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften Nr. 0000 vom 5. Januar 1995 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Die Klägerin verlegt die deutsche Óbersetzung des zuerst in Amerika erschiene-
nen Buches "B. " des Autors
F. . Das Buch ist in der Bundesrepublik Deutschland sowohl als gebundenes
als auch als Taschenbuch erhältlich.
In der Zeit von November 1991 bis zum Mai 1992 stellten das Kreisjugendamt
des Kreises T. , das Jugendamt der Stadt G. , das Ministerium für Arbeit,
Gesundheit, Familie und Frauen des Landes Baden-Württemberg sowie das Ju-
gendamt der Stadt P. bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften
-BPS- Anträge auf Aufnahme des Buches in die Liste der jugendgefährdenden
Schriften.
Zur Vorbereitung ihrer Entscheidung holte die BPS zwei Gutachten ein. Herr
Prof. Dr. N. wurde mit der Anfertigung eines literaturwissenschaftlichen Gutach-
tens beauftragt, während ein erziehungswissenschaftlichjugendkundliches Gutach-
ten von Herrn Prof. Dr. L. vorgelegt wurde. Beide Gutachten kamen zu dem Er-
gebnis, daß eine Indizierung nicht tunlich sei.
Mit Schreiben vom 15. November 1994 benachrichtigte die BPS die Klägerin von
dem Termin zur mündlichen Verhandlung über die Indizierungsanträge am 5. Januar
1995. Mit dieser Ladung gingen Kopien der Indizierungsanträge, die Besetzungsliste
für den Termin sowie des Gutachtens von Prof. Dr. N. an die Klägerin. Aus der
übersandten Besetzungsliste war zu ersehen, daß für die Beisitzergruppe "Literatur"
Herr Pfarrer i.R. Harald X. vorgesehen war. Mit Schreiben vom 28. November
1994 wurden an die Beisitzer, welche in der an die Klägerin übersandten Liste aufge-
führt waren, ebenfalls die Indizierungsanträge, eine Kopie des streitgegenständlichen
Buches sowie der beiden Gutachten übersandt.
Mit einem von der Klägerin im Gerichtsverfahren in Kopie vorgelegten Telefax
teilte der Beisitzer Harald X. unter dem
23. November 1994 der BPS folgendes mit:
"Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Vorgänger, der derzeitige Vorsitzende des FDA Nieder-
sachsen, informierte mich über ein Schreiben von Frau
H. , in welchem sie dringend darum bat auch in Zu-
kunft als Beisitzerin der BPS im Auftrag des FDA fungieren
zu können, zumal von der BPS ohnehin eine weitere Zusammen-
arbeit mit mir nicht gewünscht würde.
Obwohl es in diesen drei Jahren zum ersten Mal wäre, daß
ich einen Termin zeitig genug erfahre, um planen zu können,
bitte ich darum, daß mein Vertreter / meine Vertreterin zu
dieser Sitzung eingeladen wird."
Mit Schreiben vom 7. Dezember 1994 wurde an die Beisitzer ausweislich der
aufgeführten Anlagen ein Schriftsatz der Klägerin vom 30. November 1994 und eine
Rezension des Buches aus der Zeitschrift "Die Zeit" übersandt. In dem Verteiler für
das entsprechende Anschreiben an die Beisitzer ist der Name von Herrn X. durch
denjenigen von Frau H. ersetzt worden.
In dem erwähnten Schriftsatz nahm die Klägerin zu den Indizierungsanträgen Stel-
lung und verwies auf die Einschätzung mehrerer Literaturkritiker, die das Werk als
genuinen Beitrag zur amerikanischen Gegenwartsliteratur eingestuft hätten. Dem
Schreiben lagen drei Rezensionen des Buches bei, eine aus dem "Spiegel", eine aus
der "Zeit" und eine aus der "Frankfurter Rundschau".
Mit Schreiben vom 8. Dezember 1994 wies die BPS die Klägerin darauf hin, daß
der Beisitzer der Sparte "Literatur" aus der Gruppe B nicht am Termin teilnehmen
könne, weswegen er durch die Beisitzerin aus der Gruppe C vertreten werde.
Am 5. Januar 1995 traf die BPS die Entscheidung Nr. 0000, nach welcher das
Buch "B. " in die Liste der jugendgefährdenden Schriften aufzunehmen sei.
Die Veröffentlichung der Entscheidung im Bundesanzeiger erfolgte am 31. Januar
1995.
Die Klägerin hat am 28. Februar 1995 gegen diese Entscheidung die vorliegende
Klage erhoben und am 5. April 1995 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes gestellt -17 L 776/95-. Die Kammer hat diesem Antrag mit Beschluß
vom 17. Juli 1995 stattgegeben. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nord-
rhein-Westfalen -OVG NW- hat der Beschwerde der Beklagten mit Beschluß vom 12.
Juni 1996 - 20 B 2250/95 - stattgegeben und den Antrag der Klägerin abgelehnt.
Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Indizierung sei sowohl formell als auch
materiell rechtswidrig. Im einzelnen macht sie geltend, sie sei in ihren
Anhörungsrechten verletzt, weil der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor der
BPS das Gutachten von Prof. Dr. L. nicht beigefügt gewesen sei, von dessen Exis-
tenz sie erst bei einer Akteneinsicht nach dem Erlaß der Indizierungsentscheidung
erfahren habe. Sie habe daher keine Gelegenheit gehabt, die darin geäußerten,
ihrem Rechtsstandpunkt günstigen Ansichten aufzugreifen und zu vertiefen. Die
Behauptung der Beklagten, dieses Gutachten habe, weil es ihr, der Klägerin, günstig
sei, ihren Vortrag quasi "ersetzt", treffe nicht zu. Schließlich habe die BPS dieses
Gutachten angefordert, so daß es nur dann als Vortrag der Klägerin angesehen
werden könne, wenn sie sich dessen Inhalt ausdrücklich zu eigen mache. Dies gelte
jedoch selbstverständlich nur für die ihr günstigen Ausführungen, da das Gutachten
auch Gedanken enthalte, mit denen sie sich keineswegs identifizieren könne.
Weiterhin sei es nicht zulässig, daß ein Beisitzer ohne Angabe von Gründen seine
Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung der BPS absagen könne. Auf diese
Weise sei es möglich, eine beliebige Zusammensetzung des Gremiums zu erreichen.
Gerade dies aber sei angesichts der bewußt pluralistischen Zusammensetzung der
BPS, die dem Gesetzgeber selbst überantwortet sei, nicht rechtens. Eine Vertretung
sei nach dem eindeutigen Wortlaut des § 12 Abs. 5 der Durchführungsverordnung
nur in Fällen des endgültigen Ausscheidens oder einer echten Verhinderung
vorgesehen; ob die BPS insoweit Zwangsmittel habe oder nicht, sei nicht entschei-
dend. Es könne jedenfalls nicht dem Gutdünken eines Beisitzers überlassen bleiben,
ob er an einer Sitzung teilnehmen wolle oder nicht. Darüber hinaus entspreche auch
die Vertretungsregelung der BPS für echte Verhinderungsfälle nicht den Vorgaben
der höchstricherlichen Rechtsprechung, so daß auch die Einladung von Frau H.
rechtswidrig gewesen sei. In der ihr, der Klägerin, übersandten Liste seien nämlich
für die Gruppen Literatur, öffentl. Jugendhilfe und Lehrerschaft keine Vertreter
angegeben gewesen.
Die Entscheidung sei aus folgenden Gründen auch inhaltlich nicht haltbar: Zunächst
sei es nicht zulässig, den Kunstwert des Buches allein über die "Stellen" zu
definieren, in denen die perversen Neigungen des Protagonisten geschildert würden.
Diese stellten die notwendige Konsequenz aus dessen ansonsten ereignislosen
Leben dar. Die Kapitel, die den Verlust der Individualität und der Identität des
Protagonisten schilderten, dienten zum einen als Grundlage der von diesem
begangenen Morde und ermöglichten ihm zum anderen, diese Morde unerkannt zu
begehen, selbst dann noch, als er diese gestehen wolle.
Des weiteren seien die eingeholten Gutachten fehlerhaft ausgewertet worden. Die
BPS habe sich in der Entscheidung nicht damit auseinandergesetzt, daß beide
Gutachten zu dem Ergebnis kommen, das Werk sei eher nicht zu indizieren. Das von
der BPS insoweit veranstaltete "Weiterdenken" der Gutachten sei in diesen nicht
angelegt. Dieses offensichtliche Abweichen von den Gutachten sei nicht
nachvollziehbar begründet worden, die Jugendgefährdung also nicht ausreichend
dargetan.
Die Klägerin beantragt,
die Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Schriften Nr. 0000 vom 5. Januar 1995
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
den Antrag der Klägerin abzuweisen.
Sie hält die Indizierung für rechtmäßig und führt aus, die Besetzung des
Zwölfergremiums der BPS in der Sitzung am 5. Januar 1995 sei korrekt gewesen.
Die Beisitzer seien entsprechend dem im Beisitzerrundbrief vom 28. August 1994
bekanntgemachten Verfahren ausgewählt worden. Dieses Verfahren berücksichtige
die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze.
Es sei auch nicht zu beanstanden, daß dem unbegründeten Wunsch von Herrn
X. , einen Vertreter für seine Person statt seiner zu laden, nachgekommen worden
sei. Die BPS habe keinerlei Möglichkeiten oder gar Zwangsmittel, einen Beisitzer zur
Angabe von Verhinderungsgründen anzuhalten oder einen entsprechenden Nach-
weis zu fordern.
Das Gutachten von Herrn Prof. Dr. L. sei irrtümlich nicht mit der Ladung an die
Klägerin gesandt worden, ohne daß heute geklärt werden könne, warum dies
unterblieben sei. Dieser Umstand führe indessen nicht zur Rechtswidrigkeit der
Indizierung, da die BPS über die Frage der Jugendgefährdung eines Werkes aus
eigener Sachkunde zu entscheiden habe. Diese Tatsachenfeststellung unterliege der
uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, so daß die unterbliebene Anhörung des
Betroffenen zu einer von der Behörde ausgewerteten Erkenntnisquelle nicht ohne
weiteres die Aufhebung der auf einer zutreffenden Tatsachenfeststellung
beruhenden Entscheidung zur Folge haben könne. Dies sei allgemein nur dann
möglich, wenn die Tatsachenfeststellung der Behörde unzutreffend sei. Dies müsse
hier um so mehr gelten, weil das Gutachten ausschließlich der Klägerin günstige
Ausführungen enthalten habe. Da diese von ihrem Anhörungsrecht kaum Gebrauch
gemacht habe, habe das Gutachten quasi deren fehlende Einlassung ersetzt.
Auch die Verwertung der Gutachten durch die BPS sei nicht zu beanstanden. Es sei
dem Gremium unbenommen, aufgrund des eigenen Sachverstandes von
wissenschaftlichen Gutachten abzuweichen.
Es sei ebensowenig zu beanstanden, daß die BPS vorrangig auf die von ihr als
extrem jugendgefährdend eingeschätzten "Stellen" abgestellt habe. Der Aufbau des
Buches mit gänzlich uninteressanten Passagen über mehr als die ersten hundert
Seiten hin verleite geradezu dazu, diese zu überspringen, um endlich an interes-
santere "Stellen" zu kommen. Dies werde auch an den von der Klägerin vorgelegten
Rezensionen deutlich: Besprochen würden die "Stellen", nicht die extensive
anfängliche Langeweile des Buches.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug
genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte des vorliegenden sowie des Verfahrens
17 L 776/95 sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges einschließlich des
indizierten Buches.
Die zulässige Klage ist begründet.
Die angefochtene Indizierungsentscheidung der Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Schriften ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren
Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Das Verfahren, in welchem die angefochtene Entscheidung ergangen ist, leidet an
zwei formalen Mängeln, die zur Aufhebung der Indizierung führen (1.); darüber
hinaus ist die Entscheidung auch inhaltlich zu beanstanden (2.).
1.a) Die Kammer ist - auch mit Rücksicht auf die Ausführungen des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen -OVG NW- in dessen
Beschluß vom 12. Juni 1996 - 20 B 2250/95 -, an welchen sie wegen der
Vorläufigkeit der damaligen Entscheidung im vorliegenden Verfahren nicht gebunden
ist - weiterhin der Auffassung, daß die Indizierungsentscheidung schon deshalb
rechtswidrig ist, weil sie unter Verstoß gegen § 12 des Gesetzes über die Verbreitung
jugendgefährdender Schriften -GjS- zustande gekommen ist. Wegen der Einzelheiten
der Begründung nimmt die Kammer auf ihre Ausführungen in dem angesprochenen
Beschluß Bezug.
Entscheidend ist nach Auffassung der Kammer nicht, ob sich die Pflicht,
eingeholte Gutachten den Betroffenen zur Einsichtnahme zu übersenden,
ausdrücklich aus dem GjS ergibt oder nicht: Sie ist nach dem GjS nicht erforderlich.
Die Verletzung des rechtlichen Gehörs der Klägerin ergibt sich vielmehr daraus, daß
durch das Verhalten der BPS bei der Klägerin notwendigerweise ein falsches Bild
über die Entscheidungsgrundlagen der BPS entstehen mußte und sie deshalb das
ihr eingeräumte Anhörungsrecht nicht uneingeschränkt wahrnehmen konnte.
Die in § 12 GjS mit Rücksicht auf die rechtsstaatliche Ausgestaltung des
Verwaltungsverfahrens eröffnete Chance der Einflußnahme auf die Entscheidung der
BPS kann nur dann effektiv genutzt werden, wenn dem Betroffenen ein zutreffendes
Bild von den im Entscheidungsfindungsprozeß bedeutsamen Umständen vermittelt
wird. Die zentrale Bedeutung von Gutachten in diesem Zusammenhang hat der
Gesetzgeber in § 66 VwVfG eigens hervorgehoben. Wenn es sich auch bei dem
Verfahren der BPS nicht um ein förmliches Verfahren im (engeren) Sinne des § 63
VwVfG handelt, zeigt die Ausgestaltung der §§ 8 ff GjS jedoch deutlich, daß es sich
um ein förmliches Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne handelt -
vgl. Stelkens/Bonk/Leonhardt,
Verwaltungsverfahrensgesetz, 4. A., § 63 Rz 9 -,
so daß an der, im übrigen auch nicht bestrittenen Pflicht der BPS, vorhandene
Gutachten "zugänglich" zu machen, kein Zweifel bestehen kann. Entscheidet sich die
BPS für ein Zugänglichmachen umfangreicher Gutachten in Form der Óbersendung -
was, wie die Beklagte zutreffend ausführt, regelmäßig richtig und zweckmäßig sein
dürfte - korrespondiert dem Anhörungsrecht des Betroffenen auf seiten der BPS die
Pflicht, entweder alle eingeholten Gutachten zu übersenden oder einen Hinweis
darauf zu geben, daß nicht alle vorhandenen Gutachten übersandt worden sind, da
ansonsten die Gefahr besteht, daß bei den Betroffenen ein unzutreffendes Bild über
die tatsächlichen Entscheiungsgrundlagen entsteht. Nur bei einer umfassenden
Unterrichtung auf dem einmal von der Behörde gewählten Wege ist eine effektive
Wahrnehmung des Anhörungsrechts überhaupt möglich.
Da jedoch jeglicher Hinweis auf die Existenz des zweiten Gutachtens fehlte, war es
der Klägerin in diesem Verfahrensstadium einerseits nicht möglich, hierzu Stellung zu
nehmen. Andererseits durfte sie mangels anderslautender Hinweise darauf
vertrauen, daß ihr mit der Óbersendung tatsächlich alle vorhandenen Gutachten
"zugänglich" gemacht worden waren. Ob die Klägerin die ihr gebotene
Außerungsmöglichkeit in einem von der Beklagten gutgeheißenen Umfang
wahrgenommen hat oder dies bei Óbersendung auch des zweiten Gutachtens getan
hätte, und wie sie sich im weiteren Verlauf des Verfahrens verhalten hat oder nach
Ansicht der Beklagten hätte verhalten müssen, ist demgegenüber ohne Belang.
b) Die Kammer hält ebenso an ihrer Rechtsauffassung fest, daß die
Indizierungsentscheidung auch deshalb rechtswidrig und aufzuheben ist, weil das
Zwöfergremium falsch besetzt war. Obwohl kein Vertretungsfall vorlag, ist ein
planmäßig vorgesehener Beisitzer durch jemand anderes ersetzt worden. Dieses
Vorgehen trägt im vorliegenden Fall deutliche Züge der Willkür.
Aus dem Schreiben des Herrn X. ergibt sich nämlich unmittelbar, daß er
keineswegs verhindert war, an der Sitzung teilzunehmen, sondern schlicht nicht zu
erscheinen wünschte. Es lag mithin kein Verhinderungsgrund vor. Insoweit bestand
auch kein Anlaß, der zu der Beiziehung eines Vertreters berechtigt hätte. Auch das
von Herrn X. erwähnte "schwerwiegende Zerwürfnis" stellte nach Auffassung der
Kammer keinen Hinderungsgrund dar. Die pluralistische Zusammensetzung der BPS
bringt es mit sich, daß in der Sache durchaus Meinungsverschiedenheiten entstehen
können. In diesem Lichte erscheint es geradezu pflichtwidrig, wenn sich ein Beisitzer
gegebenenfalls aus sachfremden persönlichen Gründen einer
Sachauseinandersetzung entzieht, deren Austragungsort gerade die Sitzung der
BPS sein sollte. Unter diesen Umständen sieht es die Kammer als Pflicht der BPS
an, zumindest den Versuch zu unternehmen, den Beisitzer auf seine Pflichten
hinzuweisen und zu einer Teilnahme zu bewegen.
Ob die eingeladene Vertreterin tatsächlich zu einer Vertretung berufen war, kann
deshalb dahinstehen. Zur weiteren Begründung verweist die Kammer auf ihre
diesbezüglichen Ausführungen in ihrem Beschluß vom 17. Juli 1995 im Verfahren 17
L 776/95.
2. Die Indizierungsentscheidung ist darüber hinaus rechtswidrig, weil sie zum
einen von einer unzulässigen Verengung der notwendigen Gesamtwertung des
Romans auf eine "Stellenlektüre" ausgeht (a.) und zum anderen - selbst wenn eine
Indizierung auf der Grundlage einer "Stellenlektüre" entgegen der Auffassung der
Kammer grundsätzlich zulässig sein sollte - nicht erkennen läßt, daß die von der
Rechtsprechung geforderte Abwägung zwischen den Belangen des Jugendschutzes
und denen der Kunstfreiheit tatsächlich stattgefunden hat (b.).
a. Die Begründung einer Indizierungsentscheidung allein mit der
Jugendgefährdung einiger "Stellen" eines Romans ist nicht zulässig und die
Entscheidung deshalb rechtswidrig.
Gemäß § 1 Abs. 1 GjS sind Schriften, die geeignet sind, Kinder oder Jugendliche
sittlich zu gefährden, in eine Liste aufzunehmen. Dazu zählen vor allem unsittliche,
verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeiten, Verbrechen oder Rassenhaß anreizende
sowie den Krieg verherrlichende Schriften. Eine Schrift darf gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2
GjS jedoch unter anderem dann nicht in die Liste aufgenommen werden, wenn sie
der Kunst dient.
Dies bedeutet indessen nicht, daß derartige "schlicht" jugendgefährdende Schriften
generell von einer Indizierung ausgeschlossen wären. Vielmehr sind sie dann in die
Liste aufzunehmen, wenn eine Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz
einen Vorrang der Belange des Jugendschutzes ergibt. Die Bundesprüfstelle für
jugendgefährdende Schriften muß sich zur Vorbereitung der Abwägung im Rahmen
des verfahrensrechtlich Möglichen Gewißheit darüber verschaffen, ob der
Schutzbereich der Kunstfreiheit im Einzelfall betroffen und - sollte dies zu bejahen
sein - wie dieser Belang im einzelnen zu gewichten ist. Bei dieser Abwägung stehen
sich die Belange des Jugend- und des Kunstschutzes im Ansatz gleichwertig
gegenüber, das bedeutet, daß sich die Annahme eines generellen Óbergewichtes
des Kunstschutzes ebenso verbietet, wie eine Prärogative zugunsten des
Jugendschutzes. Gleichfalls unzulässig ist eine bloße Niveaukontrolle des in Frage
stehenden Kunstwerkes. Die Annahme eines wie auch immer gearteten
Beurteilungsspielraumes der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in
diesem Bereich ist nicht gerechtfertigt. Was zur Herstellung praktischer Konkordanz
in die jeweilige Waagschale zu werfen ist, unterliegt also uneingeschränkter
richterlicher Kontrolle.
vgl. Bundesverwaltungsgericht -BVerwG-, Urteile vom
26. November 1992 - 7 C 20.92 -, Buchholz, Sammlung der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts -Buchholz-,
436.52 § 1 GjS Nr. 18, - 7 C 22. 92 -, Buchholz, a.a.O.,
Nr. 19.
Zu der Beurteilung, mit welchem Gewicht der Kunstschutz in die Abwägung
eingeht, ist eine wertende Einschätzung der Folgen der Indizierung für die
Bereitschaft, von dem Grundrecht der Kunstfreiheit Gebrauch zu machen, gefordert.
Das heißt, es ist nach Möglichkeit festzustellen, in welchem Maße die Indizierung
eines Kunstwerkes geeignet ist, die Bereitschaft zu künstlerischer Äußerung zu min-
dern.
Für eine solche Gewichtung der Reichweite des Kunstvorbehaltes kann unter
anderem von Bedeutung sein, in welchem Maße jugendgefährdende Schilderungen
in ein künstlerisches Gesamtkonzept eingebunden sind. Die Kunstfreiheit umfaßt
auch die Wahl eines jugendgefährdenden, insbesondere Gewalt und Sexualität
thematisierenden Sujets sowie dessen Be- und Verarbeitung nach der von dem
Künstler selbst gewählten Darstellungsart. Sie wird um so eher Vorrang
beanspruchen können, je mehr die jugendgefährdenden Darstellungen künstlerisch
gestaltet und in die Gesamtkonzeption des Kunstwerkes eingebettet sind. Die
Prüfung, ob jugendgefährdende Passagen eines Werkes nicht oder nur lose in ein
künstlerisches Konzept eingebunden sind, erfordert eine werkgerechte Interpretation.
Weiterhin kann für eine Bestimmung des Gewichtes, das der Kunstfreiheit bei der
Abwägung mit den Belangen des Jugendschutzes im Einzelfall beizumessen ist,
auch das Ansehen, das ein Werk beim Publikum genießt, indizielle Bedeutung
zukommen, auch Echo und Wertschätzung, die es in Kritik und Wissenschaft
gefunden hat, können Anhaltspunkte für die Beurteilung ergeben, ob der
Kunstfreiheit Vorrang einzuräumen ist;
vgl. Bundesverfassungsgericht -BVerfG-, Beschluß vom
27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, Amtliche Sammlung der
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts -BVerfGE-,
Bd. 83, S. 131 (147).
Künstlerische Äußerungen sind interpretationsfähig und interpretationsbedürftig;
ein unverzichtbares Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werkes.
Es verbietet sich daher, einzelne Teile des Kunstwerks aus dessen Zusammenhang
zu lösen und gesondert zu untersuchen;
vgl. BVerfG, Beschluß vom 17. Juli 1984 - 1 BvR 816/82
- BVerfGE 67, 208, 228.
Eben dies hat die BPS jedoch getan. Eine werkgerechte Interpretation unter
Berücksichtigung der Gesamtkonzeption findet in der Indizierungsentscheidung nicht
statt.
Der auf Seite 3 beginnende Absatz der Begründung legt dar, daß es sich bei
dem indizierten Roman um eine Kunstwerk handelt und daß weite Teile des Werkes
auf das voyeuristische Interesse des Lesers an besonders blutigen Grausamkeiten
spekulieren. Die Gesamtwürdigung des Romans beschränkt sich auf die
Feststellung, daß das Werk seitenweise Langeweile verbreite und deshalb zur
Stellenlektüre verleite, wonach wörtliche Zitate von vier "Stellen" folgen (S. 5 bis 8
Mitte).
Die daran anschließende Behauptung, diese ließen sich "beliebig" ergänzen, ist
angesichts der beschränkten Anzahl der in Frage kommenden "Stellen" offenkundig
unzutreffend. An dieser Stelle der Begründung wird jedoch die begrenzte Reichweite
des von der BPS gewählten Ansatzes deutlich. Die Fragestellung verschiebt sich
unzulässigerweise ins Quantitative: Wieviele "Stellen" darf ein Roman von 500 Seiten
haben, damit er nicht indiziert wird - oder genügt zur Indizierung schon eine,
möglicherweise außergewöhnlich grausame "Stelle"? Es liegt auf der Hand, daß es
nicht auf die Frage ankommen kann, welchen Umfang ein Buch haben muß, damit es
trotz einer oder mehrerer "Stellen" nicht indiziert werden kann. Ein Roman mit
wenigen "Stellen" ist von Art. 5 Abs. 3 GG nicht alleine deshalb schon besser
geschützt als ein solcher mit vielen.
Hingegen beinhaltet die weitere Óberlegung,
"Inwieweit vom Gesamtkonzept des Buches losgelöst diesen
Szenen eine abstrakte und künstliche Wirkungsweise
nachgesagt werden kann, bleibt fraglich. Das Abstrakte und
Künstliche erhält das Buch nur durch die langwierigen
Ausschweifungen über ein vollkommen ödes Yuppie-Leben,
diese Wirkung kann aber nur erzielt werden, wenn das Buch
vollständig gelesen wird.",
den fehlenden qualitativen Ansatz der geforderten werkgerechten Interpretation.
Hieraus ergibt sich nämlich, daß auch die BPS durchaus gesehen hat, daß die
herausgesuchten Passagen im Gesamtzusammenhang einen völlig anderen
"Stellenwert" haben, als bei einer isolierten Betrachtungsweise. Daß die
Stellenlektüre die Wahrnehmung des Gesamtwerkes entscheidend verzerrt und ihm
deshalb keinesfalls gerecht werden kann, wird hier überdeutlich.
Die korrekte Einordnung von "Stellen" kann nur über die Beantwortung der - im
übrigen in beiden von der BPS in Auftrag gegebenen Gutachten in hinreichender
Deutlichkeit angesprochenen - Frage gelingen, welche Bedeutung sie im
Gesamtzusammenhang der Erzählung haben. Entscheidend sind nämlich Fragen
wie, ob die Passagen Selbstzweck sind oder ob der Rest der Erzählung mögli-
cherweise nur Vorwand für den Autor ist, um eine entsprechende Leserklientel mit
diesen "Stellen" zu versorgen. Es kommt wesentlich darauf an, ob sie integrativer,
notwendiger Bestandteil der Erzählung sind oder erkennbar aufgesetztes, für den
Roman verzichtbares Beiwerk.
b. Unabhängig davon, ob eine Indizierung ausschließlich mit Blick auf einzelne
jugendgefährdende "Stellen" überhaupt zulässig ist, ist die Entscheidung auch
deshalb aufzuheben, weil in der schriftlichen Begründung der angefochtenen
Entscheidung eine nachvollziehbare Darlegung der oben aufgezeigten, von der
höchstrichterlichen Rechtsprechung geforderten Abwägungsmomente fehlt.
Zur Frage der Jugendgefährdung wird auf Seite 4 oben der Begründung
ausgeführt, die besagten Passagen leisteten für sich gesehen einer Verrohung im
Umgang mit anderen Menschen Vorschub. Die Mitleidensfähigkeit werde nicht nur
herabgesetzt sondern durch die nüchterne Schilderung von Einzelheiten der
Folterungs- und Tötungsvorgänge ganz ausgeschaltet. Dies sei jugendgefährdend.
Ausführungen zum Grad der Jugendgefährdung fehlen völlig. Selbst wenn man die
Reduzierung des Romans auf die beispielhaft angeführten Passagen für zulässig
erachten wollte, hätte es, um den Anforderungen der Rechtsprechung gerecht zu
werden, der nachvollziehbaren Darlegung bedurft, daß und warum gerade die (bei-
spielsweise) angeführten "Stellen" in einem so hohen Maße jugendgefährdend sind,
daß demgegenüber der grundrechtlich verbürgte Schutz des Kunstwerks zurück-
zutreten hat.
Die möglicherweise fruchtbare inhaltliche Auseinandersetzung mit dem für diese
Frage relevanten Gutachten L. wird auf die rein quantitative These reduziert, der
Gutachter hätte möglicherweise eine Jugendgefährdung angenommen und eine
Indizierung empfohlen, wenn das Buch nicht so dick und/oder billiger gewesen wäre.
Eben dies hat der Gutachter indessen eindeutig nicht getan. Das
streitgegenständliche Buch hat in jeder der vorliegenden Ausgaben 549 Seiten und
nur dieses ist Gegenstand des Verfahrens. Wie zu entscheiden gewesen wäre, wenn
das Buch einen anderen oder weniger Inhalt gehabt hätte, ist nicht von Bedeu-
tung.
Auch die Frage, ob es sich bei den herausgegriffenen "Stellen" um vom
Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG erfaßte Kunst handelt, und mit welchem Gewicht
der Kunstcharakter dieser "Stellen" in die Abwägung einzustellen ist, wird nicht
einmal gestellt, geschweige denn beantwortet. Abgesehen davon, daß dies nach An-
sicht der Kammer nur mit Rücksicht auf das Gesamtwerk überhaupt gelingen kann,
fehlt sowohl die Feststellung, daß die zitierten Passagen einen so geringen
künstlerischen Wert haben, daß ihr grundgesetzlicher Schutz dem Jugendschutz zu
weichen hat, als auch eine Begründung hierfür. Der einzige, unausgeführte Ansatz
hierzu findet sich in der vorstehend zitierten Passage aus der angefochtenen
Entscheidung, die sich zu der abstrakten und künstlichen Wirkungsweise der
angeführten "Stellen" verhält. Óber das künstlerische "Gewicht" der Stellen schweigt
die Begründung.
Die gegen Ende der Begründung aufgeworfene, in der Tat zentrale Frage, ob der
Roman aufgrund der Tatsache, daß er als "Stellenlektüre" jugendgefährdend ist,
indiziert werden könne, bleibt unbeantwortet. Es wird lediglich festgestellt, daß es
eine Reihe von Anhaltspunkten dafür gebe, daß der Erzählstil zur Stellenlektüre
verführe, woran sich die Mitteilung des Abstimmungsergebnisses anschließt.
Die möglicherweise fruchtbare inhaltliche Auseinandersetzung mit dem für diese
Frage relevanten Gutachten N. wird auf die These reduziert, daß wenn das Buch
den von dem Gutachter vermißten didaktischappellativen Charakter hätte, dieser
wohl eine Indizierung befürwortet hätte. Das streitgegenständliche Buch hat diesen
Charakter indessen unstreitig nicht und ist ausschließlich in der vorliegenden Form
und dem gegebenen Inhalt Gegenstand des Verfahrens.
Da die Entscheidung aus jedem der vorstehend ausgeführten Gründen
aufzuheben ist, kommt es auf die weiteren Fragen, ob tatsächlich sämtliche
Rezensionen an die Beisitzer übersandt worden sind, und ob Frau H. vor der
Sitzung das Buch erhalten und gelesen hat, nicht mehr an. Eine Beweisaufnahme zu
diesen Themen erübrigte sich deshalb.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.