Amtsgericht Schwäbisch Hall
FAMILIENGERICHT
Beschluss
In der Familiensache
...
- Antragsteller -
Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwälte ...
gegen
...
- Antragsgegnerin -
Verfahrensbevollmächtigter:
Rechtsanwalt ...
wegen Regelung des Umgangs
hat das Amtsgericht Schwäbisch Hall durch die Richterin am Amtsgericht Dr. Feltes am 28.07.2022 beschlossen:
1. Die zwischen den Beteiligten geschlossene Umgangsvereinbarung, dessen Zustandekommen das Gericht mit Beschluss vom 27.07.2022 festgestellt hat, wird familiengerichtlich gebilligt, da diese dem Wohl der Kinder nicht widerspricht.
2. Die Beteiligten werden darauf hingewiesen, dass bei schuldhafter Zuwiderhandlung gegen die sich aus der Vereinbarung ergebenden Verpflichtung das Gericht gegenüber dem Verpflichteten Ordnungsgeld bis zu einer Höhe von 25.000 € und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft bis zu 6 Monate anordnen kann. Die Festsetzung eines Ordnungsmittels unterbleibt nur dann, wenn der Verpflichtete Gründe vorträgt, aus denen sich ergibt, dass er die Zuwiderhandlung nicht zu vertreten hat.
I.
Vorliegend handelt es sich um ein hochstrittiges Umgangsverfahren.
Der Antragsteller (Kindsvater) ist in Deutschland aufgewachsen. Von seiner Schwester hat er 1997 erfahren, dass der gemeinsame Vater sich an ihr seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr sexuell vergangen hat. Der Vater wurde zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er von 2001 bis 2009 absitzen musste. Die Antragsgegnerin (Kindsmutter) kommt aus Sibirien. Sie ist sehr sprachbegabt und ist daher als Übersetzerin tätig. Die Kindseltern lernten sich 2005 kennen. Das erste Kind M... kam am ...2007 auf die Welt. Die Kindseltern haben schließlich am ...2009 die Ehe miteinander geschlossen. Das zweite Kind A... ist am ...2010, das dritte Kind A... am ...2012 und das vierte Kind J... ist am ...2016 geboren worden. Die Kindseltern habe sich 2016 innerhalb der Ehewohnung getrennt. Am 15.08.2017 ist die Kindsmutter mit allen vier Kindern in den Sommerferien zu ihrer Mutter nach Sotschi (Russland) geflogen. Gegenüber dem Kindsvater hatte die Kindsmutter angegeben, dass lediglich ein Urlaub geplant sei. Am 09.09.2017 sollte der Rückflug nach Deutschland stattfinden, doch an diesem Tag wartete der Kindsvater vergeblich auf die Rückkehr seiner Kinder. Die Kindsmutter teilte dem Kindsvater in der Folge mit, dass sie sich von ihm scheiden lassen und mit den Kindern bei ihrer Mutter in Sotschi bleiben werde. Um den Kontakt zu seinen Kindern nicht zu verlieren, begab sich der Kindsvater nach Russland. In Russland führten die Kindseltern hochstreitige Sorgerechtsverfahren, die von den dortigen Medien begleitet wurden. Die Kindsmutter erhob gegen den Kindsvater einen sexuellen Missbrauchsvorwurf in Bezug auf das damals 5-jährige Kind A... . Der Kindsvater geht davon aus, dass die Kindsmutter den sexuellen Missbrauchsverdacht instrumentalisiert hat, um ihm die Kinder zu entziehen. Die Kindsmutter habe - laut Angaben des Kindsvaters - gewusst, dass es innerhalb seiner Familie einen sexuellen Missbrauch gegeben hätte und hätte ihm dann nach dem Motto: "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", einen sexuellen Missbrauch unterstellt.
Die Kindsmutter unterzog sich 2018 freiwillig in Russland einer psycho-physiologischen Untersuchung. Der Kindsmutter wurden unter anderem beim Kontrollfragentest folgende verdachtsbezogene Fragen gestellt: "Verleumden Sie Ihren Mann in Ihren Aussagen?", "Haben Sie sich die Geschichte mit der sexuellen Belästigung seitens Ihres Mannes ausgedacht?", "Haben Sie sich an uns gewandt, um Ihren Mann loszuwerden?". Die Kindsmutter hat die Fragen jeweils mit "Nein" beantwortet. Bei der Auswertung erhielt der Gutachter gleich stark ausgeprägte psycho-pysiologische Reaktionen sowohl auf die verdachtsbezogenen Fragen als auch auf die Kontrollfragen, infolgedessen dieser Test nicht berücksichtigt werden konnte bzw. nicht auswertbar war. Es konnte keine eindeutige Schlussfolgerung gezogen werden. Der Kindsvater hat in dem hiesigen Verfahren dem Gericht ein übersetztes Gutachten vorgelegt. Aufgrund der sprachlichen Barriere konnte der Kindsvater sich in Russland der psychophysiologischen Untersuchung nicht unterziehen, so dass der sexuelle Missbrauchsvorwurf bislang nicht ausgeräumt war.
Die Ehe der Kindseltern wurde schließlich Anfang 2019 in Russland geschieden und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die gemeinsamen Kinder wurde allein auf die Kindsmutter übertragen. Anfang/Mitte 2020 versöhnten sich die Kindseltern wieder und kehrten mit den vier gemeinsamen Kindern nach Deutschland zurück. Am 16.01.2021 trennte sich die Kindsmutter erneut vom Kindsvater und teilte ihm - zumindest aus dessen Sicht - plötzlich und unvermittelt mit, dass sie mit allen vier Kindern nach G... ziehen werde. Die älteste Tochter ist zwar zunächst mit der Kindsmutter umgezogen, zwischenzeitlich hat sie sich jedoch entschieden, beim Kindsvater zu leben. Die drei Brüder leben weiterhin bei der Kindsmutter. Da es hinsichtlich der Umgangsfragen zwischen den Kindseltern nach wie vor streitig ist, hat der Kindsvater bei Gericht einen Antrag gestellt. Im Rahmen der verschiedenen Sorge- und Umgangsverfahren wurde der sexuelle Missbrauchsverdacht von der Kindsmutter wieder thematisiert. Daher wurde dem Kindsvater angeboten, sich ebenfalls einer psychophysiologischen Untersuchung zu unterziehen, damit dieser Vorwurf ausgeräumt und nicht immer wieder "aufgekocht" werden kann. Im Rahmen der psycho-physiologischen Untersuchung wurden dem Kindsvater folgende verdachtsbezogene Fragen gestellt, die der Kindsvater jeweils verneint hat: "Haben Sie jemals an einem oder mehreren Ihrer Kinder irgendeine sexuelle Handlung begangen?" (Wert + 9), "Haben Sie jemals eines oder mehrere Ihrer Kinder veranlasst, an Ihnen sexuelle Handlungen vorzunehmen?" (Wert + 14). "Haben Sie jemals eines oder mehrere Ihrer Kinder in sexualbezogener Weise berührt?" (Wert + 5). Die Sachverständige Dipl.-Psych. K... ist in ihrem Gutachten vom 13.03.2022 zu dem Ergebnis gelangt, dass die vom Kindsvater erzielten Testergebnisse ein Höchstmaß an Gewähr dafür bieten, dass der Kindsvater die Vorwürfe wahrheitsgemäß bestreitet.
Das Gericht hat für die Kinder einen Verfahrensbeistand bestellt und die Kinder angehört. Die Kindsmutter erklärte gegenüber der Verfahrensbeiständin, dass sie die möglichen gerichtlichen Regelungen in Deutschland nicht gut finden würde. In Russland sei dies anders, da würden die Gerichte sehen, dass Mütter die Hauptbezugspersonen der Kinder seien und dort würden die Gerichte zum Wohle der Kinder entscheiden. In Russland denke man traditioneller und wisse einfach, wie wichtig die Bindung zu den Müttern wäre und, dass Mütter die Hauptaufgabe bei der Erziehung der Kinder übernehmen würden.
Das Gericht hat mit den Kindseltern in den verschiedenen Verfahren mehrere mündliche Verhandlungen durchgeführt. Das Gericht hat den Beteiligten schließlich einen Vergleichsvorschlag zur Regelung des Umgangs vorgeschlagen, dem die Kindseltern und die Verfahrensbeiständin zugestimmt haben. Das Zustandekommen dieser Umgangsvereinbarung wurde mit Beschluss vom 27.07.2022 festgestellt.
II.
1. Die zwischen den Kindseltern geschlossene Vereinbarung war familiengerichtlich nach §156 Abs. 2 FamFG zu billigen, da diese dem Wohl der Kinder nicht widerspricht.
Die Kindseltern konnten nunmehr nach einem längeren Schlichtungsprozess - trotz der schwierigen Vorgeschichte - eine einvernehmliche Umgangsregelung finden. Dies ist deshalb so erfreulich, da in derartigen Fallkonstellationen häufig zu beobachten ist, dass es zu einem endgültigen Bindungsabbruch des Kindes mit einem Elternteil kommt. Ein (grundloser) Bindungsabbruch steht jedoch nicht im Einklang mit dem gesetzlichen Leitbild. Nach § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB gehört zum Wohl des Kindes in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen. Entsprechend soll das Familiengericht nach § 156 Abs. 1 Satz 1 FamFG in Kindschaftssachen, die die elterliche Sorge bei Trennung und Scheidung, den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken, wenn es dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.
2. Dem Wohl des Kindes entspricht es nicht, wenn das Familiengericht sehenden Auges eine Kindeswohlgefährdung in Kauf nehmen würde. Eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei einer weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohles des Kindes zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18 -, NZFam, 2019, 342 (342); BGH, Beschluss vom 23.11.2016 - XII ZB 149/16 -, NJW 2017, 1032 (1032)). Dabei kann das erforderliche Maß der Gefahr nicht abstrakt generell festgelegt werden. Denn der Begriff der Kindeswohlgefährdung erfasst eine Vielzahl von möglichen, sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen. Erforderlich ist daher eine Konkretisierung mittels Abwägung der Umstände des Einzelfalles durch den mit dem Fall befassten Tatrichter (BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18 -, NZFam, 2019, 342 (344); BGH, Beschluss vom 23.11.2016 - XII ZB 149/16 -, NJW 2017, 1032 (1033)).
Ein realer sexueller Missbrauch stellt eine solche Kindeswohlgefährdung dar und grundsätzlich einen Grund, den Umgang des Kindes mit dem missbrauchenden Elternteil zum Schutze des Kindes zu beschränken bzw. auszusetzen. Eine gleiche psychologische Schädigung des Kindes steht im Raum, wenn ein sexueller Missbrauchsverdacht nicht hinreichend vom Familiengericht aufgeklärt worden ist und das Kind in Ungewissheit darüber bleibt, ob es vom eigenen Elternteil (in der Regel der Vater) missbraucht worden ist. Denn in diesem Fall würde das Kind Gefahr laufen, immer wieder von dem überzeugten Elternteil mit diesem Missbrauchsverdacht konfrontiert zu werden. Psychologisch ist nicht zu erwarten, dass die daraus erwachsenen Folgen weniger schwerwiegend sind als diejenigen tatsächlicher Missbrauchserlebnisse. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung können sich vielmehr auch auf der Basis der subjektiven Annahme über vermeintlich, objektiv nicht stattgefundene traumatische Erlebnisse ausbilden (Niehaus, in: Stadt Wien (2019), Zwischen Verdacht und Vertrauen -Forensische Aspekte der Jugendamtspsychologie. Bericht über die 66. Tagung der österreichischen Kinder- und Jugendhilfepsycholog(inn)en, Im Interesse kindlicher Opfer, S. 147-162). Für diese Form der Kindeswohlgefährdung kommt es gerade nicht darauf an, ob tatsächlich objektive Anhaltspunkte für einen sexuellen Missbrauchsverdacht vorliegen. Vielmehr kommt es auf die subjektive Einstellung des Elternteils (in der Regel die betreuende Kindsmutter) an, der von dem sexuellen Missbrauch überzeugt ist (vgl. dazu AG Schwäbisch Flall, Beschluss vom 31.03.2022 - 2 F 447/19 -, BeckRS 2022, 11737). Selbst wenn die Verdachtsmomente nur sehr vage sind oder gar das subjektive Überzeugungsbild objektiv betrachtet irrational ist, besteht diese Gefahr. Diese Gefahr besteht letztendlich auch, wenn der Missbrauchsverdacht bewusst der Wahrheit zuwider behauptet wurde. Denn es kann nicht erwartet werden, dass ein Elternteil, der einen sexuellen Missbrauchsverdacht bewusst der Wahrheit zuwider instrumental hat, dies einräumt und sich davon - ohne gerichtliche Sachverhaltsaufklärung - distanziert. Daher steht die Aufklärung des sexuellen Missbrauchsverdachts nicht zur Disposition des Familiengerichts. Bei diesen Fallkonstellationen ist eine Sachverhaltsaufklärung jedoch äußert schwierig.
3. Das Gericht ist im Einklang mit der Rechtsprechung des OLG Dresden (Beschluss vom 14.05.2013 - 21 UF 787/12 -, BeckRS 2013, 16540), aber auch mit anderen Gerichten (wie OLG Bamberg, Beschluss vom 14.03.1995 - 7WF 122/94 -, NJW 1995, 1684; OLG München, Beschluss vom 25.11.1998 - 12 UF 1147/98 -, BeckRS 1998, 31148381; AG Bautzen, Urteil vom 26.03.2013 - 40 Ls 330 Js 6351/12, BeckRS 2013, 8655) der Auffassung, dass der Polygraph in diesen Fallkonstellationen ein zulässiges und geeignetes Beweismittel ist. Nicht zuletzt ist der Polygraph in anderen Ländern z.B. Russland, Ukraine, verschiedene US-Bundesstaaten, Belgien, Polen und Israel als Beweismittel anerkannt.
Bedauerlicherweise begründen die juristischen Gegner des Polygraphen (Bruns, NZFam 2022, 129; Volke, NZFam 2022, 654) ihre ablehnende Haltung nicht mit Sachargumenten, sondern mit einem Scheinargument. Es wird sich im Ergebnis - ohne weitere inhaltliche Auseinandersetzung - auf eine höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und zwar der Strafsenate (BGH, Urteil vom 16.02.1954 - 1 StR 578/53 -, NJW 1954, 649; BGH, Urteil vom 17.12.1998 -1 StR 156 - 98 -, NJW 1999, 657; BGH, Beschluss vom 30.11.2010 - 1 StR 509/10 -, NStZ 2011, 474, kritisch dazu Putzke, ZJS 6/11, 557) und des Zivilsenats (BGH, Beschluss vom 24.06.2003 - VI ZR 327/02 -, NJW 2003, 2527, kritisch dazu Dettenborn, FPR 2003, 559) zurückgezogen. Dabei wird die polygraphische Begutachtung ohne weitere Begründung als "völlig ungeeignet" stigmatisiert. Letztendlich wird durch diese Vorgehensweise der Widerwille deutlich, sich mit der eigentlichen familienrechtlichen Problematik und der Funktionsweise des Beweismittels "Polygraph" auseinanderzusetzen (zur Funktionsweise des Polygraphen ausführlich: Putzke/Scheinfeld/Klein/Undeutsch, ZStW 121 (2009) 607 ff.). Die Tabuisierung der psycho-physiologischen Aussagebegutachtung (Polygraphie) ist häufig jedoch auf Unwissenheit begründet (vgl. Salzgeber/StadlerA/ehrs, Praxis der Rechtspsychologie, November 1997, Die psychophysiologische Aussagebegutachtung im Rahmen des Familiengerichtsverfahrens, 213 (216)). Anstatt von einem "Revival" zu sprechen, sollte in Bezug auf den Polygraphen eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Materie als konstruktive Alternative zur uneingeschränkten Verdammung dieser Begutachtungsmethode stattfinden. Denn im Straf- und Zivilverfahren gelten andere Beweisgrundsätze und Zielsetzungen als im Familienrecht, weshalb eine Differenzierung geboten ist. Während im familiengerichtlichen Verfahren das betroffene Kind im Fokus steht, geht es im Strafverfahren um die strafrechtliche Verfolgung eines Täters. Die Strafverfolgungsbehörden müssen dem Beschuldigten die Tat nachweisen; gelingt der Tatnachweis nicht, kommt es gar nicht erst zur Anklage. In Zivilverfahren geht es um die Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen. Es gilt die Parteimaxime: Der Richter ermittelt nicht von sich aus den Sachverhalt, sondern überlässt dies den Parteien. Es gilt also - anders als im Familienrecht - nicht der Amtsermittlungsgrundsatz, sondern die Parteien unterliegen einer Darlegungs- und Beweislast. Kann eine Partei ihre (substantiierten) Behauptungen nicht beweisen, unterliegt sie im Zivilverfahren. Ausgehend von diesen Beweisgrundsätzen bedarf es damit im Straf- und Zivilverfahren vom Grundsatz her gar keines Unschuldsbeweises (dazu bereits: AG Schwäbisch Hall, Beschluss vom 25.10.2021 - 2 F 150/20-, BeckRS 2021,37552).
Daher ist im Familienrecht ein entsprechendes Beweisangebot möglich, wenn die Kindseltern sich freiwillig einer polygraphischen Begutachtung unterziehen (vgl. dazu Momsen, KriPoZ 2018, 142 (142 Fn. 8)). Während der eine Elternteil in Verdacht steht, das Kind sexuell missbraucht zu haben, steht der andere Elternteil in Verdacht, den Missbrauchsvorwurf bewusst der Wahrheit zuwider behauptet zu haben, um das alleinige Sorgerecht zu erhalten und/oder einen Umgangsausschluss zu erreichen. Möglich ist in dieser Konstellation - was sogar häufig in der Praxis vorkommt -, dass beide Eltern wahrheitsgemäß vortragen: das Kind also weder missbraucht wurde, noch der andere Elternteil den Missbrauchsvorwurf bewusst der Wahrheit instrumentalisiert hat, sondern subjektiv davon überzeugt ist, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat (vgl. dazu AG Schwäbisch Hall, Beschluss vom 31.03.2022 - 2 F 447/19 -, BeckRS 2022, 11737). Der Polygraph bietet in dieser Konstellation die Möglichkeit, die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, was zu einer Befriedung zwischen den Eltern beitragen kann.
Bislang ist (noch) keine Entscheidung des Familiensenats des Bundesgerichtshofs zur Un- oder Zulässigkeit des Polygraphen ergangen. Für die Familiengerichte ist vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung des OLG Dresden (Beschluss vom 14.05.2013 - 21 UF 787/12 -, BeckRS 2013, 16540) richtungsweisend, wonach der Polygraph im familiengerichtlichen Verfahren für zulässig erachtet wird. Bei der Frage der Zulässigkeit des Polygraphen als Beweismittel im familiengerichtlichen Verfahren ist zu berücksichtigen, dass der Kinderschutz im Vordergrund steht. Arbeitseffiziente Erwägungen einen Fall statistisch möglichst schnell abzuschließen, dürfen nicht zum Nachteil des Kindes gehen. In besonderer Weise ist das Familiengericht gehalten, die vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen und auf diese Weise nach Möglichkeit zu vermeiden, dass sich die Grundsätze der Feststellungslast zu Lasten des Kindes auswirken (BGH, Beschluss vom 17.02.2010 - XII ZB 68/09 -, NJW 2010, 1351 (1353)). Entsprechend trifft das Familiengericht nach § 26 FamFG eine Amtsermittlungspflicht. Auch die Beweiserhebung ist nicht derart rigide wie im Straf- oder Zivilverfahren, sondern es gilt der Freibeweis nach § 29 FamFG.
Insoweit sind zwei Kindeswohlaspekte zu berücksichtigen. Das Kind ist sowohl vor sexuellem Missbrauch zu schützen, als auch vor deplatzierten familiengerichtlichen Maßnahmen, wie etwa einer vorsorglichen Umgangsaussetzung (zum familiengerichtlichen Kinderschutzdilemma: Dettenborn, Praxis der Rechtspsychologie, Die Beurteilung des Verdachts auf sexuellen Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren, 17 (25 ff.)). Eine prophylaktische Umgangsaussetzung oder vorsorgliche Trennung des Kindes von seinen Eltern verbietet sich bereits aus (verfassungsrechtlichen Gründen, weil dem Kind dann ggfs, grundlos eine wichtige Bezugsperson genommen oder gar ein vermeidbarer Trennungsschaden zugefügt würde.
Der sexuelle Kindesmissbrauchsverdacht wiegt in beide Richtungen im familiengerichtlichen Verfahren äußerst schwer und ist zum Schutze des Kindes mit allen dem Familiengericht möglichen Beweismitteln aufzuklären. Dies ergibt sich bereits aus der Amtsermittlungspflicht des Familiengerichts und dem Freibeweisverfahren. Ein (realer) sexueller Missbrauch führt zu einer massiven Schädigung des Kindes; aber auch der grundlose Bindungsabbruch zu einer wichtigen Bezugsperson hat schwere (insb. psychische) Folgen für das Kind. Soweit dieser Verdacht im familiengerichtlichen Verfahren nicht nach bestem Wissen und Gewissen des Gerichts aufgeklärt wird, läuft das Kind Gefahr, zu Unrecht in dem Glauben aufzuwachsen, vom eigenen Vater sexuell missbraucht worden zu sein, was ähnliche Folgen haben kann, als hätte tatsächlich ein sexueller Missbrauch stattgefunden (vgl. dazu OLG Stuttgart, Beschluss vom 19.12.2018 - 17 UF 96/18 - BeckRS 2018, 39645). Insoweit ist in familiengerichtlichen Verfahren zu beobachten, dass ein einmal aufgekommener sexueller Missbrauchsvorwurf immer wieder in den verschiedenen Sorge- und Umgangsverfahren in den Raum gestellt wird, wenn er nicht vollständig aufgeklärt wurde.
Wenn es um den Kinderschutz geht, können Kostengründe ebenfalls keine Rolle spielen (so aber Bruns, NZFam 2022, 129). Eine derartige Argumentation ist ohnehin der gerichtsforensischen Praxis fremd. Ein Gericht - ob im Straf- oder Zivilverfahren - kann ein Beweismittel nicht deshalb ablehnen, weil es "unökonomisch" wäre. Eine derartige Denkweise kann erst recht nicht im Bereich des Kinderschutzes in einem familiengerichtlichen Verfahren gelten.
Aufgrund der medialen Berichterstattung über sexuelle Missbrauchsskandale und dem Bestreben, die Bevölkerung für das Thema sexuellen Kindsmissbrauch zu "sensibilisieren", ist in der familiengerichtlichen Praxis zu beobachten, dass wieder vermehrt in Sorge- und Umgangsverfahren der Verdacht des sexuellen Kindesmissbrauchs geäußert wird. In Kindschaftssachen besteht in der familiengerichtlichen Praxis jedoch deshalb ein Beweisproblem, weil es schwierig ist, etwas zu beweisen, was nicht stattgefunden hat. Der beschuldigte Elternteil muss also eine negative Tatsache beweisen. Häufig sind die Verdachtsmomente in diesen Fällen nur sehr vage. Dennoch kann das Familiengericht daraus nicht schließen, dass kein sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Auch ist es aufgrund der Konfliktdynamik, die in familiengerichtlichen Verfahren zu beobachten ist, wenig ratsam, reale Ängste einer Mutter nicht ernst zu nehmen. Keinesfalls kann nämlich pauschal unterstellt werden, dass jeder Missbrauchsverdacht der Wahrheit zuwider erhoben wurde, um das alleinige Sorgerecht zu erhalten oder den Umgang des Kindes mit dem Vater auszusetzen. Ohne den Einsatz des Polygraphen als Beweismittel wird sich dieses familienrechtliche Praxisproblem nicht lösen lassen. Die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens wird in vielen Fällen nicht ausreichend sein, weil die betroffenen Kinder häufig nicht aussagetüchtig sind oder bereits zahlreiche laienhafte Vorbefragungen stattgefunden haben, so dass die Suggestionshypothese nicht zurückgewiesen werden kann.
Im Gegensatz zu der "Welle" in den 80er und 90er-Jahren (vgl. dazu Dettenborn, Praxis der Rechtspsychologie, Die Beurteilung des Verdachts auf sexuellen Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren, 17 (19)) werden diese familiengerichtlichen Verfahren heute teilweise mit einer hohen Medienpräsenz begleitet. Familiengerichtliche Verfahren werden ohnehin hochemotional von den Kindseltern geführt. Dies gilt erst recht, wenn ein sexueller Kindesmissbrauch in den Raum gestellt wurde und sich nichtverfahrensbeteiligte Dritte in das laufende Verfahren einschalten. Da sich in den sozialen Netzwerken (wie Facebook, Instagram, Twitter) hauptsächlich Laien über laufende Verfahren äußern, wird die Diskussion regelmäßig unsachlich geführt. Bei laufenden Verfahren werden Familienrichter*innen persönlich angegriffen und diffamiert. Es wird bewusst versucht, auf den gerichtlichen Entscheidungsprozess einzuwirken. Um familiengerichtliche Entscheidungen sogar zu "kippen", wird noch nicht einmal davor zurückgeschreckt, mit dem Kind unterzutauchen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 22.12.2005 - 1 BvR 2349/05 -, FamRZ 2006, 537 ff.). Weitere Praxisfälle von Selbstjustiz werden damit begründet, das Kind vor sexuellem Missbrauch durch den Vater schützen zu müssen (siehe Fall Claudia K., Spiegel Panorama, "Zwischen Mutterliebe und Selbstjustiz" (28.11.2017) und Fall "Wiebke "Rill", Das missbrauchte Kind, DER SPIEGEL Nr. 47/20.11.2021).
Aktuell berichten mehrere Pressevertreter unter dem Pseudonym "Anna Korn" bzw. "Elke D." über den Fall einer Kindsmutter, die seit Monaten mit ihrem Kind untergetaucht ist, obwohl sie nicht mehr Inhaberin des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist. Sie gibt vor, ihr Kind vor sexuellem Missbrauch durch den Vater schützen zu müssen. Der zuständigen Familienrichterin, die mittlerweile namentlichen in der Presse sowie im Internet von nicht beteiligten Privatpersonen genannt wird, wird der Vorwurf gemacht, den (vagen) Missbrauchsverdacht nicht hinreichend aufgeklärt zu haben.
Nicht jeder/jede Familienrichter/Familienrichterin wird als Einzelrichter diesem sozialen Druck in der Praxis standhalten. Dies bedeutet aber eine Gefährdung für den Rechtsstaat, weil der sexuelle Missbrauchsverdacht ohne Zulassung eines Unschuldsbeweises zur ultimativen Waffe im Kampf um das Kind wird.
Zuletzt bleibt noch anzumerken, dass selbst die Straf- und Zivilsenate des Bundesgerichtshofs die hohe Trefferquote des Polygraphen von über 90 % nicht in Frage stellen. Nur das DNA-Gutachten weist mit einer über 99,9 %-igen Wahrscheinlichkeit eine höhere Trefferquote auf; alle anderen Beweismittel liegen unterhalb der 90 %-Marke. Demgegenüber ist bekannt, dass der Zeugenbeweis, der letztendlich am häufigsten in der forensischen Praxis herangezogen wird, das unsicherste Beweismittel ist. Dennoch würde kein Jurist ernsthaft in Erwägung ziehen, den Zeugenbeweis als "völlig ungeeignet" i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 4 StPO abzulehnen (zu dieser "brüchigen" Logik bereits: Schwabe, NJW 1982, 367). Vielmehr ist die Begrifflichkeit der "völligen Ungeeignetheit" dem Umstand geschuldet, dass es sich hierbei um die strafprozessuale Voraussetzung i.S. eines Tatbestandsmerkmals handelt, um einen Beweisantrag im Strafverfahren abzulehnen.
4. Nicht zuletzt kommt der Befriedungsfunktion des Familiengerichts wegen § 156 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine besondere Bedeutung zu. Dem Kindeswohl ist am besten gedient, wenn es dem Gericht gelingt, zwischen den Eltern zu schlichten. Dazu gehören jedoch auch unberechtigte Vorwürfe auf beiden Seiten auszuräumen, prozessuale Waffengleichheit herzustellen und ein faires Verfahren zu führen. Der Einsatz des Polygraphen kann zu einer solchen Befriedung zwischen den Kindseltern beitragen.
In dem vorliegenden Fall wurde der Kindsmutter, die fließend Russisch spricht, in Russland die Möglichkeit eingeräumt, sich einer polygraphischen Begutachtung zu unterziehen. Die Testung ist jedoch bei der Kindsmutter nicht auswertbar gewesen. Im Hinblick auf § 156 Abs. 1 Satz 1 FamFG bleibt dies vorliegend von Seiten des Gerichts unkommentiert.
Der Kindsvater konnte sich in Russland aufgrund der Sprachbarrieren nicht der polygraphischen Begutachtung unterziehen. Dies wurde in Deutschland bereits aufgrund des Gebots der prozessualen Waffengleichheit nachgeholt. Der Kindsvater hat sich freiwillig einer polygraphischen Untersuchung unterzogen und hat diese Testung bestanden. Der sexuelle Missbrauchsverdacht konnte damit abschließend ausgeräumt werden und wird von der Kindsmutter seitdem auch nicht mehr als Begründung für eine Umgangsbeschränkung vorgebracht.
Zwar konnten die rechtlichen Voraussetzungen für ein Wechselmodell - so wie es der Kindsvater sich gewünscht hatte - nicht geschaffen werden, da das Konfliktniveau zwischen den Eltern trotz allem noch hoch ist. Die Kindseltern haben jedoch im Sinne ihrer Kinder einen Weg in die richtige Richtung beschritten, so dass den Kindern beide Elternteile erhalten bleiben konnten.
5. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 81 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswerts ergibt sich aus § 45 FamGKG.
6. Abschließend ist anzumerken, dass das Gericht bewusst davon abgesehen hat, in einem juristischen Duktus den gerichtlichen Billigungsbeschluss abzufassen. Zwar handelt es sich bei der Regelung des Umgangs und des Sorgerechts um Rechtsfragen. Die hinter diesen Rechtsfragen eigentlich stehenden Konflikte der Eltern lassen sich jedoch weder mit juristischen Ausführungen erklären, noch mit der Zitierung von Paragraphenketten lösen. Erst recht ist der Jurist häufig nicht in der Lage, den unbestimmten Rechtsbegriff der Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 BGB sich eigenständig zu erschließen, geschweige denn eine Kindeswohlgefährdung ohne Flinzuziehung eines Sachverständigen zu erkennen, da es mannigfaltige Formen der Kindeswohlgefährdung gibt. Nicht grundlos haben die Familiengerichte regelmäßig in diesen Verfahren Sachverständige hinzuzuziehen, weil für das Verständnis der Konfliktdynamik in Trennungs- und Scheidungsfällen, das Aufkommen falscher sexueller Missbrauchsvorwürfe, der Vernehmung kindlicher Opfer und bei Fällen der Eltern-Kind-Entfremdung psychologischer Sachverstand erforderlich ist. Diese Problematik besteht letztendlich auch für die Polygraphie, da vielen Juristen der Zugang für diese wissenschaftliche Methode fehlt.