Amtsgericht Schwäbisch Hall
FAMILIENGERICHT
Beschluss
In der Familiensache
...
- Betroffene -
Verfahrensbeistand:
...
Weitere Beteiligte:
Vater:
...
Verfahrensbevollmächtigte :
...
wegen Kindeswohlgefährdung gem. §§ 1666, 1666 a BGB
hat das Amtsgericht Schwäbisch Hall durch die Richterin am Amtsgericht Dr. F... am 25.10.2021 beschlossen:
1. Familiengerichtliche Maßnahmen sind derzeit nicht erforderlich.
2. Von einer Erhebung der Gerichtskosten wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens werden nicht erstattet.
3. Der Verfahrenswert wird auf 3.000,00 € festgesetzt.
I.
Mit Schreiben vom 19.03.2020 hat das Jugendamt gegenüber dem Gericht eine Kindeswohigefährdung nach § 1666 BGB angezeigt. Inhaltlich wird darauf Bezug genommen.
Seit dem Tod seiner Ehefrau, die 2012 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist, kümmert sich der Kindsvater allein um die beiden Kinder A... (geb. am ...2007) und ... M... (geb. am ...2004). Der Sohn leidet an Autismus.
Bereits 2017 hat die Schule dem Jugendamt mitgeteilt, dass die damals 10-jährige A... ein Bild gemalt hat, das Abbildungen von sexuellen Handlungen zeigt. Auf dem Bild wird der Oralverkehr dargesteilt. Weiter wurde zweimal der Name "E..." auf das Bild geschrieben. Auch im Übrigen hat A... in der Vergangenheit bereits mit 10 Jahren eine sexuelle Sprache ("ficken", "Penis") gezeigt, die Mitarbeiter der Flexiblen Hilfen als auffällig eingestuft haben. Ebenso wurde das Verhalten von A... gegenüber einem Jungen, weil es als "flirten" interpretiert wurde, als auffällig empfunden.
Gegen den Kindsvater wurde in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Az.: 43 Js 24440/19 der Staatsanwaltschaft Heilbronn - Zweigstelle Schwäbisch Hall - ein Strafbefehl vom 08.10.2019 wegen sexueller Belästigung in sechs tatmehrheitlichen Fällen gern. §§ 184 i Abs. 1, Abs. 3, 53 StGB erlassen. Diesem Strafbefehl liegt der Sachverhalt zugrunde, dass der Kindsvater im Zeitraum zwischen dem 15.09.2017 bis 18.05.2018 als Busfahrer bei der Firma ... beschäftigt war. Dem Kindsvater wurde zum Vorwurf gemacht, dass er als Busfahrer Kinder sexuell belästigt haben soll. Der Vorwurf wurde letztendlich von den Eltern der Kinder erhoben, die sich über ihn beschwert hatten. Dem Kindsvater wurde daraufhin von seinem Arbeitgeber gekündigt. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist durch ein anonymes Schreiben in Gang gesetzt worden. Im zeitlichen Zusammenhang erhielt der ehemalige Arbeitgeber des Kindsvaters mehrere E-Mails von einem anonymen Absender mit beleidigendem Inhalt und Drohungen.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft in dem Strafbefehl vom 08.10.2019 in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren Az.: 43 Js 24440/19 bestand darin, dass der Kindsvater zwei Mädchen jeweils bei mindestens zwei unterschiedlichen Gelegenheiten an deren nackten Oberschenkeln gestreichelt haben soll, um sich sexuell zu erregen. Gegen den Kindsvater wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten verhängt. Dem Kindsvater wurde durch das Strafgericht ein Pflichtverteidiger bestellt, der zunächst Einspruch gegen diesen Strafbefehl eingelegt hat. In der öffentlichen Sitzung vom 30.01.2020 des Amtsgerichts Schwäbisch Hall - Jugendrichter als Jugendschutzgericht - hat der Kindsvater jedoch seinen Einspruch auf Anraten seines Anwalts zurückgenommen.
Um eine mögliche Kindeswohlgefährdung in Bezug auf die Kinder des Kindsvaters abzuklären, hat das Familiengericht ein psychologisches Gutachten durch die Sachverständige Dipl.-Psych. K... in Auftrag gegeben und für A... einen Verfahrensbeistand bestellt. Anfang März 2021 hat die Sachverständige Dipl.-Psych. K... den Kindsvater und auch A... psychologisch exploriert. Auf freiwilliger Basis hat der Kindsvater sich zudem einer polygraphischen Untersuchung (im Volksmund "Lügendektor") unterzogen. Am 04.03.2021 wurde A... gerichtlich in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin angehört. In der nichtöffentlichen Sitzung am 05.03.2021 hat die Sachverständige Dipl.-Psych. K... den Beteiligten u.a. ihre gutachterlichen Ergebnisse dargetan und Fragen der Beteiligten beantwortet. Mit Gutachten vom 10.10.2021 hat die Sachverständige ihre Ergebnisse zusätzlich noch verschriftlicht. Auf das Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. K... vom 10.10.2021 wird vollumfänglich Bezug genommen.
II.
Familiengerichtliche Maßnahmen waren derzeit mangels gegenwärtiger, konkreter Kindeswohlgefährdung nicht zu veranlassen.
Eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgesteilt wird, dass bei einer weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohles des Kindes zu erwarten ist (BGH, Beschluss vom 06.02.2019 - XII ZB 408/18 -, NZFam, 2019, 342 (342); BGH, Beschluss vom 23.11.2016 - XII ZB 149/16 -, NJW 2017, 1032 (1032)). Dabei kann das erforderliche Maß der Gefahr nicht abstrakt generell festgelegt werden. Denn der Begriff der Kindeswohlgefährdung erfasst eine Vielzahl von möglichen, sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen. Erforderlich ist daher eine Konkretisierung mittels Abwägung der Umstände des Einzelfalles durch den mit dem Fall befassten Tatrichter (BGH, Beschluss vom 06.02.2019 -XII ZB 408/18 -, NZFam, 2019, 342 (344); BGH, Beschluss vom 23.11.2016 - XII ZB 149/16 NJW 2017, 1032(1033)).
Ein Sorgerechts- oder Teilsorgerechtsentzug lässt sich vorliegend mangels konkreter Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung rechtlich nicht rechtfertigen. Das Gericht hat sämtliche Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft, um einen etwaigen sexuellen Missbrauchsverdacht aufzuklären.
Zwar hält der Bundesgerichtshof in Strafsachen (BGH, Urteil vom 16.02.1954 - 1 StR 578/53 NJW 1954, 649; BGH, Urteil vom 17.12.1998 - 1 StR 156 - 98 -, NJW 1999, 657; BGH, Beschluss vom 30.11.2010 - 1 StR 509/10 NStZ 2011, 474, kritisch dazu Putzke, ZJS 6/11, 557) die sog. Polygraphiemethode für ein völlig ungeeignetes Beweismittel. Dieser Sicht hat sich auch der Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH; Beschluss vom 24.06.2003 - VI ZR 327/02 -, NJW 2003, 2527, kritisch Dettenborn, FPR 2003, 559) angeschlossen. Eine entsprechende ablehnende Entscheidung des Familiensenats des Bundesgerichtshofs liegt jedoch bislang -soweit ersichtlich - nicht vor.
Zunächst hat der Bundesgerichtshof in Strafsachen (BGH, Urteil vom 16.02.1954 - 1 StR 578/53 NJW 1954, 649) die Untersuchung mit dem "Polygraphen" ohne Rücksicht auf die Zustimmung des Beschuldigten als Verletzung der Menschenwürde i.S.d. Art. 1 Abs. 1 GG und unzulässige Vernehmungsmethode i.S.d. § 136 a StPO angesehen. In dem Fall der dem Bundesgerichtshof im Jahre 1954 zugrunde lag, wurde der Angeklagte wegen Untreue in Tateinheit mit Unterschlagung und wegen Vortäuschung einer Straftat verurteilt, nachdem er sich einer polygraphischen Begutachtung unterzogen und diese Testung nicht bestanden hatte. Nachdem die Vorinstanz - das Landgericht Zweibrücken - die polygraphische Untersuchung zulasten des Angeklagten herangezogen und diesen verurteilt hatte, hat dieser Revision gegen das Urteil des Landgerichts Zweibrücken eingelegt. Seine Revision beim Bundesgerichtshof hatte Erfolg. Die Verfahrensrüge führte zur Aufhebung und Zurückweisung.
Die gegen den Einsatz polygraphischer Untersuchungsverfahren vorgebrachten rechtlichen Einwände hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 17.12.1998 - 1 StR 156-98 - (NJW 1999, 657) aufgegeben. Der Bundesgerichtshof sieht in der Verwertung polygraphischer Testergebnisse keinen Verstoß mehr gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und auch keinen Verstoß gegen die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung (§ 136 a StPO). Trotz der hohen Trefferquote von ca. 70 % bis 90 % (teilweise sogar bis zu 98,5 %) hält der Bundesgerichtshof in Strafsachen jedoch nach wie vor daran fest, dass es sich hierbei um ein völlig ungeeignetes Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 3 Alt. 4 StPO handelt.
Wegen der hohen Trefferquote hatte Schwabe (NJW 1982, 367) bereits 1982 die Entscheidung eines Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 18.08.1981 -2 BvR 166/81 -, NJW 1982, 375) kritisiert und von einer "brüchigen Logik" gesprochen. Denn wenn ein Beweismittel mit einer Treffergenauigkeit von 90 % nicht ausreiche, so müsste man folglich allen Beweismitteln, deren Treffergenauigkeit sich nicht über die 90 %-Marke erhebt, ihren Beweiswert absprechen und als völlig ungeeignetes Beweismittel einstufen. Letztendlich ist in der Gerichtspraxis bekannt, dass der Zeugenbeweis hinsichtlich der Trefferquote "Lüge" oder "Irrtum" besonders unzuverlässig ist. Dennoch gehört die Zeugenvernehmung zu dem Beweismittel, welches in der gerichtlichen Praxis am häufigsten erhoben wird. Würden entsprechende Anforderungen hinsichtlich der Treffergenauigkeit auch an andere Beweismittel gestellt werden, bliebe letztendlich wohl nur das DNA-Abstammungsgutachten mit 99,9 %-Trefferquote als geeignetes Beweismittel für die Gerichtspraxis übrig.
Entsprechend teilen andere Gerichte - OLG Bamberg, Beschluss vom 14.03.1995 - 7 WF 122/94 -, NJW 1995, 1684; OLG München, Beschluss vom 25.11.1998 - 12 UF 1147/98 BeckRS 1998, 31148381; OLG Dresden, Beschluss vom 14.05.2013 - 21 UF 787/12, BeckRS 2013, 16540; AG Bautzen, Urteil vom 26.03.2013 - 40 Ls 330 Js 6351/12, BeckRS 2013, 8655; AG Bautzen, Urteil vom 26.10.2017 - 42 Ds 610 Js 411/15 jug., BeckRS 2017, 138202 - nicht die Auffassung, dass es sich bei der polygraphischen Begutachtung um ein völlig ungeeignetes Beweismittel handelt. Auch in der Literatur (Undeutsch, FamRZ 1996, 329; Putzke/Scheinfeld/Klein/Undeutsch, ZStW 121 (2009), 607; Putzke/Scheinfeld, StraFo 2/2010, 58; Dettenborn, Praxis der Rechtspsychologie, Die Beurteilung des Verdachts auf sexuellen Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren, 17 (32); Putzke, NJW-aktuell 42/2013, S. 14) mehren sich die Stimmen, die sich für die Zulässigkeit des Polygraphen aussprechen. Letztendlich auch vor dem Hintergrund, dass neue Forschungsergebnisse vorliegen, die die Zuverlässigkeit des Polygraphen beweisen.
Soweit der Polygraph im gerichtlichen Verfahren als zulässiges Beweismittel anerkannt wird, muss jedoch ebenso wie bei den aussagepsychologischen Sachverständigengutachten (vgl. dazu: BGH-Urteil vom 30.07.1999 - 1 StR 618/98 - NJW 1999, 2746) sichergestellt werden, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige die entsprechende fachliche Qualifikation aufweist und die wissenschaftlichen Anforderungen an die polygraphische Begutachtung erfüllt.
Letztendlich kann vorliegend aber auch dahinstehen, ob im Strafverfahren oder in einem Zivilprozess die polygraphische Methode als zulässig erachtet wird. Denn in diesen Verfahrensordnungen ist der Strengbeweis zu beachten, während in Kindschaftssachen der Freibeweis dominierend ist. Während also im Straf- und Zivilverfahren die Gerichte den Sachverhalt in einem formalisierten Verfahren mit begrenzten Beweismitteln festzustellen haben, hat das Familiengericht im Wege des Freibeweises mit allen vom Gericht für erforderlich gehaltenen Mitteln und weitgehend ohne formelle Vorgaben die beweiserheblichen Tatsachen feststellen. Schließlich gilt im Strafverfahren die sog. Unschuldsvermutung, d.h. dem Beschuldigten muss durch die Staatsanwaltschaft die Schuld erst nachgewiesen werden. Des Weiteren gilt im Strafprozess der Grundsatz "In dubio pro reo" ("Im Zweifel für den Angeklagten"). Danach darf ein Angeklagter nicht verurteilt werden, wenn dem Gericht Zweifel an seiner Schuld verbleiben. Korrespondierend gilt im Zivilprozess nach der Zivilprozessordnung die sog. Darlegungs- und Beweislast, d.h. jede Partei hat zu den Tatsachen vorzutragen und die zu beweisen, die für sie günstig sind. Die beweisbelastete Partei trägt insoweit das Risiko der Nichterweislichkeit.
Nachdem im Strafverfahren der Grundsatz "In dubio pro reo" gilt und im Zivilverfahren die Beweislastregelung zu beachten sind, bedarf es - von diesen Prinzipien ausgehend - in diesen Verfahrensordnungen (zumindest in der Theorie) keines "Unschuidsbeweis", wie er durch den Polygraphen erbracht werden kann. Dennoch lassen sich in Praxis bedauerlicherweise Fehlurteile finden (z.B. Justizirrtümer "Harry Wörz11, "Horst Arnold", "Ralf Witte" und "Norbert Kuss").
In Kindschaftssachen ist das Kindeswohl oberste Richtschnur. Ein sexueller Kindesmissbrauch stellt eine akute Kindeswohlgefährdung dar, die familiengerichtliche Maßnahmen zum Schutze des Kindes dringend erfordert. Allerdings ist das Familiengericht regelmäßig mit der Problematik konfrontiert, dass gerade nicht feststeht, ob ein sexueller Kindesmissbrauch stattgefunden hat und es häufig nur vage Verdachtsmomente sowie Mutmaßungen gibt. In der Literatur (Dettenborn, Praxis der Rechtspsychologie, Die Beurteilung des Verdachts auf sexuellen Missbrauch in familiengerichtlichen Verfahren, 17 (25 ff.)) wird auf dieses Kindeswohldilemma bei einem sexuellen Missbrauchsverdacht hingewiesen. Der Kindeswohlaspekt 1 betrifft den Schutz des Kindes vor sexuellem Missbrauch. Demgegenüber betrifft der Kindeswohlaspekt 2 den Schutz des Kindes vor deplatzierten familiengerichtlichen Interventionen. Jede Kindesherausnahme geht mit einer sekundären Kindeswohlgefährdung einher, denn eine solche erzeugt regelmäßig beim Kind eine Traumatisierung und produziert einen Trennungsschaden. Vor diesem Hintergrund hat beispielsweise die vorschnelle Herausnahme der Kinder in den sog. "Wormser Prozessen" ebenfalls eine gravierende Fehlentscheidung der Jugendämter dargestellt.
Das Familiengericht hat bei vagen Verdachtsmomenten die Problematik, dass Kinder auf der einen Seite im Hinblick auf einen Trennungsschaden nicht vorschnell aus der Familie herausgenommen werden dürfen, auf der anderen Seite ein sexueller Kindesmissbrauch im Hinblick auf die schwerwiegenden Schädigungsfolgen nicht übersehen werden darf. Die Familiengerichte sind sich - nicht zuletzt im Hinblick auf den Staufener Missbrauchsfall - ihrer hohen Verantwortung in derartigen Fällen bewusst. Dabei verpflichtet der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 26 FamFG die Familiengerichte in Kindschaftsverfahren im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens alle zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Ermittlungen anzustellen. In besonderer Weise ist das Familiengericht gehalten, die vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen und auf diese Weise nach Möglichkeit zu vermeiden, dass sich die Grundsätze der Feststellungslast zu Lasten des Kindes auswirken (BGH, Beschluss vom 17.02.2010 - XII ZB 68/09 -, NJW 2010, 1351 (1353)). Dies ist letztendlich der entscheidende Aspekt, warum der Polygraph im familiengerichtlichen Verfahren zuzulassen ist, da er - ungeachtet des Meinungsstreits - die Wahrscheinlichkeit zum Wohl des Kindes erhöht, dass das Famiiiengericht weder in Bezug auf den Kindeswohlaspekt 1 noch in Bezug den Kindeswohlaspekt 2 eine Fehlentscheidung trifft. Denn das Familiengericht trifft letztendlich in derartigen Fällen Entscheidungen, die das Leben eines minderjährigen Kindes betreffen und entscheidende "Weichen" für die Zukunft dieses jungen Menschen stellen.
Ein Beweismittel neben den anderen Beweismitteln (Sachverständiger, Parteivernehmung, Urkunde, Zeuge - Stichwort "SAPUZ") stellt die polygraphische Exploration dar. Eindeutig lässt sich ein sexueller Missbrauch zum Nachteil kleiner Kinder fast nur dann nachweisen, wenn von der Tat Bilder oder Videoaufnahmen existieren. Derartige Beweismittel liegen aber in der Regel nicht vor. Das Familiengericht hat im Übrigen das Problem, dass bei dem Verdacht des sexuellen Kindesmissbrauchs regelmäßig dritte Zeugen fehlen, weil es sich hierbei grundsätzlich um heimliche Taten handelt. Soweit Kleinkinder betroffen sind, besteht die Problematik, dass diese häufig zu jung sind, um eine belastbare, aussagekräftige Aussage zu tätigen, die für eine Anklageerhebung ausreicht. Häufig fallen die Angaben der Kinder telegrammartig aus und es bleibt ungeklärt, was sich tatsächlich zugetragen hat. Soweit das strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingestellt wird, bleibt der Verdacht für das familiengerichtliche Verfahren weiterhin ungeklärt. Des Weiteren besteht die Problematik, dass insbesondere in hochkonflikthaften Elternstreitigkeiten die Kinder durch den betreuenden Elternteil oftmals in unfachmännischer Weise suggestiv nach den Umgangskontakten befragt werden und dadurch die Aussage des Kindes häufig unbrauchbar wird.
In dem vorliegenden Fall lag in Bezug auf die zwei betroffenen Mädchen die Besonderheit vor, dass der Vater dieser Kinder - der Zeuge H... - in einem streitigen Verhältnis zu deren Mutter bzw. seiner Ex-Frau stand und diese ebenfalls als Busfahrerin tätig bzw. die Kollegin des vorliegend betroffenen Kindsvaters war. Letztendlich wurden die Kinder durch den Vater - den Zeugen H... - im Vorfeld befragt. Dabei haben die Kinder keine konkreten Angaben gemacht, die auf ein eindeutiges sexuelles Motiv des damals Beschuldigten haben schließen lassen. Der Zeuge H... hat insoweit am 10.04.2019 gegenüber der Kriminalpolizei folgendes angegeben:
"ich kann dazu nur so viel sagen, dass letztes Jahr war mit dem Busfahrer ... und den Kindern, Die N... und die F... gehen auf die W...-Schule. Der S... geht nicht auf die und die W...-Schule und die K... wird vom S... abgeholt. Dort gibt es einen Fahrdienst in die Sprachheilschule. Die haben öfters von dem Herrn ... erzählt, der wäre so toll und der wäre so cool. Er hat ihnen auch immer irgendwelche Süßigkeiten geben und hat mit ihnen im Auto Kuppel-Spiele gemacht. Soweit so gut.
Da klingeln bei mir schon mal sämtliche Alarmglocken. Wir hatten in der Vergangenheit schon einige Probleme, insbesondere wegen irgendwelchen Freunden meiner Ex-Frau. Ich war damit hier auch schon bei der Polizei vorstellig (...).
Eines Tages kamen die Kinder und sagten, der Herr ... will am Wochenende anrufen (...)
Er will einen Ausflug mit dem Motorrad und den Kindern machen. ich sagte dann, nein das geht nicht. Ich habe nie gedacht, dass der anruft. Die F... hat auch gesagt, dass er sie irgendwo am Knie angefasst hat. Ich habe mir dann gedacht, so geht es ja nicht (...)"
(...) Die Kinder sind so massiv beeinflusst. Die sagen einmal das und einmal das. Sich da ein Bild daraus zu machen, was der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht (...)
Die Frau K..., die letzte Sachbearbeiterin vom Jugendamt, die hat es ziemlich treffend formuliert. Solche Leute, die übertrieben nett zu den Kindern sind, mit Süßigkeiten, irgendwelchen Handyspielen, das ist genau das. (...)"
In Bezug auf die leibliche Tochter des damals Beschuldigten handelt es sich bei A... um ein heute 14-jähriges Mädchen, das durch die Sachverständige Dipl.-Psych. K... befragt wurde. Gegenüber der Psychologin hat sich A... dahingehend geäußert, dass weder mit ihrem Vater noch mit ihrem Bruder in sexueller Hinsicht etwas vorgefallen sei. Weiter hat sich A... dahingehend geäußert, dass der Vater sich sehr gut um sie und ihren Bruder kümmern würde und sie dies zu schätzen wisse. A.. hat hat ihren Vater im Übrigen in positiver Weise charakterisiert, ohne ihn zu idealisieren. A... offenbarte der Sachverständigen, dass sie bereits mit 10 Jahren zusammen mit ihrer Freundin "Aufklärungsfilme" gesehen habe. Auf Nachfrage der Sachverständigen räumte das Kind ein, dass es sich hierbei um "Pornofilme" gehandelt und sie dies heimlich gemacht habe, ohne, dass es der Vater gemerkt habe. In Bezug auf das gemalte Bild angesprochen, hat sich A... dahingehend eingelassen, dass sie sich zusammen mit ihrer Freundin T... über ein anderes Mädchen namens "E..." geärgert hätte und sie ihren Ärger über E... haben "Luft" machen wollen, indem sie diese in einer demütigenden Pose gemalt haben. Die Sachverständige Dipl.-Psych. K... hat ausgeführt, dass diese Aussage des Kindes konstant zu ihren früheren Angaben ist, zumal der Name "E..." auch auf das Bild geschrieben wurde. Schließlich wurde A... in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin auch gerichtlich angehört. Auch im Rahmen der Kindsanhörung belastete ihren Vater nicht, sondern äußerte sich sehr positiv über ihn.
Bei der weiteren Beweiswürdigung war in Erwägung zu ziehen, dass Kinder in einem Loyalitätskonflikt gegenüber ihren Eltern stehen und ggfs. auch aus Angst vor einer Unterbringung in einem Kinderheim ein strafbares Verhalten eines Elternteils decken. Vor diesem Hintergrund kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sich ein misshandeltes Kind aufgrund dieses Loyalitätskonflikts oder sogar im Hinblick auf eine auferlegten "Schweigepflicht" gegenüber dem Gericht oder der Sachverständigen offenbart. Damit konnte die Beweisaufnahme allein mit der Befragung des betroffenen Kindes nicht als abgeschlossen angesehen werden.
Um sämtliche Beweismittel auszuschöpfen, war daher der Kindsvater zu befragen. Dieser hat jedoch bestritten, dass er in Bezug auf die im Strafbefehl vorgeworfenen Handlungen in sexueller Absicht gehandelt hat. Ebenso hat der Kindsvater bestritten, entsprechende Handlungen bei seiner Tochter vorgenommen zu haben. Der Strafbefehl enthält insoweit eine Geständnisfiktion, insbesondere bezüglich der subjektiven Motive. Da der Kindsvater seinen Einspruch gegen den Strafbefehl zurückgenommen hat, hat keine strafprozessuale Beweisaufnahme stattgefunden, die die strafrechtlichen Vorwürfe hätte aufklären können.
Die Problematik ist, dass dem Bestreiten des Kindsvaters im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt letztendlich kaum ein Beweiswert zukommt, da er sich gegebenenfalls selber belasten müsste. Der Kindsvater hat sich auf freiwilliger Basis einer polygraphischen Exploration und Untersuchung unterzogen, um zu beweisen, dass sein Bestreiten der Wahrheit entspricht. Dem Kindsvater wurden folgende verdachtsbezogene Fragen gestellt, die er jeweils verneint hat:
"Haben Sie jemals eines oder mehrere Kinder zu Ihrer sexuellen Stimulierung berührt?"
(erzielter Wert + 10)
"Haben Sie jemals ein Kind oder mehrere Kinder zu deren sexuellen Stimulierung berührt?"
(erzielter Wert + 9)
"Haben Sie jemals ein Kind oder mehrere Kinder veranlasst, Sie sexuell zu stimulieren?"
(erzielter Wert + 4)
Die Sachverständige Dipl.-Psych. K... ist bei der polygraphischen Begutachtung zu dem Ergebnis gelangt, dass die erzielten Testergebnisse ein sehr hohes Maß an Gewähr dafür bieten würden, dass der Kindsvater jede einzelne der ihm gestellten verdachtsbezogenen Fragen wahrheitsgemäß verneint hat. Zwar bleibt durch das Familiengericht festzuhalten, dass der vorliegend betroffene Vater sich gegenüber den Schulkindern, die er als Busfahrer gefahren hat, in grenzverletzender Weise verhalten hat, da es sich hierbei um fremde Kinder gehandelt hat und ein solches Verhalten eines Busfahrers unangebracht ist; das Ergebnis der polygraphischen Begutachtung beweist jedoch, dass subjektiv kein Wille zur Tatbestandsverwirklichung bestanden hat.
Da das Gericht die polygraphische Begutachtung als zulässiges Beweismittel zugelassen hat, stellt dieses Testergebnis einen Entlastungsbeweis mit hoher Trefferquote dar. Die Frage der Zulässigkeit der polygraphischen Exploration als Entlastungsbeweis kann letztendlich sogar offenbleiben, da sämtliche Beweismittel ausgeschöpft wurden und sich ein sexueller Missbrauchsverdacht in Bezug auf die eigenen Kinder nicht erhärtet lässt. Denn dem Familiengericht ist es nicht gestattet, aufgrund lediglich von vagen Verdachtsmomenten bzw. letztendlich Mutmaßungen derartig schwerwiegende Eingriffe in die elterliche Sorge zu treffen, die mit der Trennung von einem Kind von seinem (betreuenden) Elternteil verbunden sind. Auch ohne Einsatz der polygraphischen Methode würde bei einer Risikoabwägung der Trennungsschaden bei Herausnahme des Kindes aus dem väterlichen Haushalt überwiegen. Nicht zuletzt haben A... und ihr Bruder bereits auf tragische Weise ihre Mutter verloren. Die polygraphische Begutachtung führt letztendlich im familiengerichtlichen Verfahren dazu, dass ein höheres Maß an Gewissheit besteht, dass der Kindsvater wahrheitsgemäß entsprechende Vorwürfe bestritten hat. Damit wurden sämtliche dem Gericht zur Verfügung stehende Beweismittel ausgeschöpft, um zu verhindern, dass sich die Grundsätze der Feststellungslast - sei es in Bezug auf den Kindeswohlaspekt 1 oder auf den Kindeswohlaspekt 2 - zu Lasten des Kindes auswirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf § 45 FamGKG.