OLG Rostock, Urteil vom 05.11.2021 - 5 U 119/13
Fundstelle
openJur 2021, 40305
  • Rkr:

1. Zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme gehört es, Regelwidrigkeiten bei der Geburt zu erkennen und bei pathologischen Auffälligkeiten einen Arzt hinzuzuziehen.

2. Erfährt eine Hebamme, dass es bei der Schwangeren zu Blutungen gekommen ist, stellt es einen groben Befunderhebungsfehler dar, wenn sie zu spät die Vorlage kontrolliert.

3. Zur Höhe des Schmerzensgeldes bei schwersten Behinderungen nach einem Sauerstoffmangel unter der Geburt.

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Rostock vom 07.08.2013, Az. 10 O 445/10, abgeändert und wie folgt gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.02.2011 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung vom 27.10.2007 entstehen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 1.466,08 € nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15.02.2011 für vorgerichtliche Anwaltsgebühren zu zahlen.

2. Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwendet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis 125.000,00 € festgesetzt.

In Abänderung des Beschlusses des Landgerichts Rostock vom 13.08.2013, Az: 10 O 445/10, wird der Streitwert für die I. Instanz auf bis 125.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der am xx.10.2007 geborene Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche auf Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Ersatzpflicht von immateriellen und materiellen Zukunftsschäden im Zusammenhang mit seiner Geburt geltend. Die Beklagte zu 1) ist Trägerin des S.; die Beklagte zu 2) ist die dort angestellte Hebamme, die die Mutter des Klägers vor dessen Geburt betreut hat.

Streitig ist im wesentlichen, ob die Beklagte zu 2) verpflichtet war, bereits zu einem früheren Zeitpunkt die diensthabende Gynäkologin hinzuzuziehen und ob in diesem Fall die Indikation zur Durchführung eines Notkaiserschnittes früher gestellt worden wäre.

Die Mutter des Klägers, in der 40. Schwangerschaftswoche, traf am xx.10.2007 um 2:55 Uhr im S. ein. Weder über Wehen noch über Schmerzen klagend äußerte sie die Vermutung eines Blasensprungs mit Flüssigkeitsabgang. Weitere Angaben der Kindesmutter gegenüber der Beklagten zu 2) zum Zeitpunkt ihres Eintreffens in der Klinik sind zwischen den Parteien streitig. Um 2:57 Uhr legte die Beklagte zu 2) der Kindesmutter ein CTG an. Voruntersuchungen bzw. eine vaginale Untersuchung nahm sie nicht vor.

Das CTG zeigte leichte unregelmäßige Wehen und Auffälligkeiten mit Herztonabfällen. Wegen weiterhin bestehender Herztonabfälle rief die Beklagte zu 2) um 3:15 Uhr die Gynäkologin Dr. G. hinzu, die um 3:18 Uhr im Kreißsaal erschien. Die Kindesmutter gab gegenüber der Ärztin vaginale Blutungen an. Bei der vaginalen Untersuchung zeigte sich ein geschlossener Muttermund und eine Blutung > Regelstärke. Nach einer Ultraschalluntersuchung löste Dr. G. wegen des Verdachts auf eine Plazentaablösung um 3:26 Uhr den Alarm für einen Notkaiserschnitt aus. Um 3:34 Uhr wurde der Kläger entbunden. Er litt unter einer Sauerstoffunterversorgung, hatte eine Herzfrequenz von 40/min und es lag ein akutes Nierenversagen vor. Nach erfolgter Reanimation wurde der Kläger drei Stunden nach seiner Geburt in die Universitätsklinik verlegt, wo er bis zum 14.11.2007 in stationärer Behandlung war. Nach Rückverlegung in das S. befand er sich dort bis zum 20.11.2007 in stationärer Behandlung. Der Umfang der Gesundheitsschäden des Klägers ist streitig.

Der Kläger hat behauptet, um ca. 2:20 Uhr sei es bei seiner Mutter zu einer Plazentaablösung gekommen, die zu starken Blutungen geführt habe, sowie zu einer Sauerstoffunterversorgung bei ihm. Seine Mutter habe gegen 2:24 Uhr die Hebamme, Frau S., angerufen und ihr ihre Situation mit starken Blutungen geschildert. Beim Eintreffen im Krankenhaus der Beklagten zu 1) habe sie auf starke Blutungen und auch darauf hingewiesen, dass sie nicht wisse, ob die Fruchtblase geplatzt sei. Sie habe mitgeteilt, viel Blut und Blutstücke verloren zu haben. Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte zu 2) habe auf Grund dieser Mitteilungen von einem geburtshilflichen Notfall ausgehen müssen, der umgehend ausgeschlossen bzw. bewiesen gehöre. Deshalb habe sie neben dem Anlegen des CTG unbedingt eine vaginale Untersuchung sowie eine Kontrolle der Vorlage bei der Kindesmutter vornehmen müssen. Ferner hätte sie sofort ärztliches Personal hinzuziehen müssen. Da sie diese Maßnahmen unterlassen habe, sei der Beklagten zu 2) ein grober Behandlungsfehler vorzuwerfen.

Der Kläger hat behauptet, bei richtiger und rechtzeitiger Befunderhebung hätte die Notsectio mindestens 20 Minuten früher ausgeführt werden können und müssen. Die Verzögerung habe zu einem verlängerten Sauerstoffmangel geführt mit der Folge schwerster Gesundheitsschäden. Seine geistigen, motorischen, sprachlichen und seelisch-psychischen Fähigkeiten seien beeinträchtigt. Er bedürfe einer dauernden Betreuung (Frühförderung) und Behandlung (Physiotherapie und Ergotherapie). Er leide unter Krampfanfällen und müsse vorbeugend das Medikament Ospolot einnehmen. Seine Entwicklung sei so stark beeinträchtigt, dass er keine Regelschule besuchen könne, sondern in einer Körperbehindertenschule angemeldet worden sei.

Erstinstanzlich hat der Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 7.500,00 € für die bis zum 15.12.2010 erlittenen Schmerzen beansprucht sowie materiellen Schadensersatz in Höhe von 4.768,50 €. Ferner hat er die Feststellung der Ersatzpflicht für alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden begehrt.

Die Beklagten haben vorgetragen, die Kindesmutter habe gegenüber der Beklagten zu 2) lediglich angegeben, sie glaube, einen Blasensprung zu haben, da etwas Flüssigkeit abgegangen sei. Über Blutungen habe sie nicht berichtet. Die Anlage des CTG sei in dieser Situation als Erstmaßnahme zur Sicherung der Vitalität des Kindes richtig gewesen. Typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung, wie schmerzhafte Wehen, starke verlängerte Kontraktionen der Gebärmutter bis hin zu unbeeinflussbaren Dauerkontraktionen, Unwohlsein, Angst- und Kreislaufprobleme seien bei der Kindesmutter nicht vorhanden gewesen. Daher wäre, selbst wenn sie über Blutungen berichtet hätte - das Schreiben eines CTG die zunächst durchzuführende Maßnahme gewesen. Eine vaginale Untersuchung sei nicht vorrangig gewesen. Die Beklagten haben behauptet, dass sich, sofern die Blutung bereits in der Häuslichkeit eingesetzt haben sollte, kein anderer Verlauf ergeben hätte. Auch dann hätte erst nach Aufzeichnung eines 20-30 minütigen CTG eine verwertbare Aussage getroffen und deshalb auch nicht eher mit der Notsectio begonnen werden können. Zudem hätte dies bedeutet, dass die vorzeitige Plazentaablösung bereits beim Aufwachen der Kindesmutter in der Häuslichkeit um 2:20 Uhr begonnen habe. Folglich hätte auch eine sofortige Notsectio an dem gesundheitlichen Zustand des Klägers nichts geändert.

Das Landgericht hat ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Dr. W. vom 03.05.2012 nebst ergänzender Stellungnahme vom 14.10.2012 eingeholt und den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung am 08.05.2013 ergänzend angehört.

Mit Urteil vom 07.08.2013 hat das Landgericht Rostock die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger einen Behandlungsfehler der Beklagten nicht bewiesen habe. Der Sachverständige habe die Notwendigkeit einer früheren Entscheidung zur Notsectio nicht bestätigt. Die von der Kindesmutter aufgezeigte Klinik habe nicht sofort auf einen geburtshilflichen Notfall mit Gefahrensituation für Mutter und Kind schließen lassen. Eine vorzeitige Plazentaablösung mit Indikation zur Notsectio habe vom Sachverständigen nicht festgestellt werden können. Daher sei die Entscheidung der Beklagten zu 2), zunächst ein CTG anzulegen, richtig und nachvollziehbar gewesen. Auch das CTG habe keinen Rückschluss auf eine Plazentaablösung zugelassen. Das Unterlassen der Heranziehung eines Facharztes habe sich nicht als standardunterschreitende Maßnahme dargestellt. Auch das Unterlassen der Vorlagekontrolle begründe keine Haftung, da diese die tatsächliche Blutungsstärke nicht mit der erforderlichen Sicherheit adäquat abgebildet hätte. Auch seien anhand des Ausmaßes der Blutungen keine sicheren Rückschlüsse auf deren Ursache und Dauer möglich. Im Übrigen sei ein größerer Blutverlust der Kindesmutter auszuschließen wegen der Kreislaufsituation und dem moderat abgefallenen Hämoglobinwert im Blut der Mutter.

Der Kläger hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Er wiederholt seine Ansicht, dass die Beklagte zu 2) aufgrund der von der Kindesmutter mitgeteilten starken Blutung sofort einen Facharzt hätte zuziehen müssen. Dieser hätte dann - wie später um 3:20 Uhr geschehen - eine Sonografie durchgeführt, die sowohl die abgelöste Plazenta, als auch das Fehlen einer vorgelagerten Plazenta gezeigt hätte. Dies und der bei der vaginalen Untersuchung festgestellte geschlossene Muttermund hätten die Indikation zu einer Notsectio ergeben. Der Kläger beanstandet, dass der Sachverständige bei seiner Bewertung die beim Eintreffen der Kindesmutter kommunizierten starken Blutungen nicht hinreichend berücksichtigt habe. Deshalb habe das Landgericht fehlerhaft versäumt, die Beweiswürdigung unter diesem Gesichtspunkt vorzunehmen und zu Unrecht das Anlegen des CTG allein deshalb ausreichen lassen, weil lediglich ein Blasensprung angenommen worden sei. Entscheidend sei aber, dass die Beklagte zu 2) keine Maßnahmen ergriffen habe, um die Blutungsquelle abzuklären. Dies stelle einen Befunderhebungsfehler dar, der zu einer Beweiserleichterung führe. Ein Facharzt hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die vorzeitige Plazentaablösung festgestellt. Der Kläger meint, dass es auf die vom Landgericht problematisierte Unterlassung der Vorlagekontrolle nicht ankomme, denn die starken Blutungen seien von der Mutter mitgeteilt und später von der Fachärztin bestätigt worden. Selbst wenn man allein einen vorzeitigen Blasensprung unterstelle, wäre nach der S1-Leitlinie ein Facharzt herbeizurufen gewesen.

Nach Rücknahme der erstinstanzlich geltend gemachten materiellen Schadensersatzansprüche i.H.v. 4.768,50 € beantragt der Kläger, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Rostock vom 07.08.2013, Az: 10 O 445/10,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für die bis zum 15.12.2010 erlittenen Schmerzen ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes angemessenes Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 50.000,00 € nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm in der Folge der fehlerhaften Behandlung vom 27.10.2007 entstehen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen,

3. die Beklagten zu verurteilen, an ihn 1.466,08 € nebst 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit für vorgerichtliche Anwaltsgebühren zu zahlen.

Die Beklagten, die Zurückweisung der Berufung beantragen, verteidigen das erstinstanzliche Urteil. Dass die Kindesmutter gegenüber der Beklagten zu 2) Blutungen angegeben habe, bleibe bestritten. Bestritten bleibe auch, dass der vorgetragene gesundheitliche Zustand des Klägers auf einem behandlungsfehlerhaften Sauerstoffmangel unter der Geburt beruht. Die Beklagten sind der Ansicht, dass, selbst wenn die Kindesmutter über starke Blutungen berichtet haben sollte und sofort ein Arzt herbeigezogen worden wäre, dies nicht zu einer sofortigen Notsectio geführt hätte, da typische Leitsymptome einer vorzeitigen Plazentaablösung gefehlt hätten. Es hätte daher - wie erfolgt - erst ein CTG angelegt werden müssen, um den Zustand des Kindes zu überprüfen. Auch eine zeitlich frühere Sonografie hätte nicht den Befund einer Plazentaablösung ergeben, denn partielle Plazentaablösungen seien im Ultraschall nur in 25 bis 50 % der Fälle sichtbar. Letztlich habe auch der tatsächliche Sonografiebefund keine vorzeitige Plazentaablösung, sondern nur einen entsprechenden Verdacht ergeben. Erst dieser Verdacht habe in der Zusammenschau mit den Angaben der Kindesmutter zu den Blutungen, den Auffälligkeiten im CTG und dem Ergebnis der vaginalen Untersuchung die Indikation der Notsectio ergeben.

Der teilweisen Klagerücknahme haben die Beklagten zugestimmt.

Der Senat hat die Eltern des Klägers angehört und Beweis erhoben durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Dr. W., durch Einholung eines ergänzenden schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. W. vom 17.02.2016, durch Einholung eines schriftlichen geburtshilflichen Hebammengutachtens der Sachverständigen G. vom 27.12.2017 nebst Ergänzung vom 23.02.2020 sowie durch ergänzende Anhörung der Sachverständigen G. und durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. B. vom 31.08.2020 nebst Ergänzung vom 04.01.2021 sowie durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Prof. B. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 20.02.2015, vom 02.12.2016, vom 02.11.2018, vom 15.05.2020 und vom 03.09.2021 verwiesen.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers hat in der Sache Erfolg. Wegen eines behandlungsfehlerhaften Vorgehens der Beklagten zu 2) bei der Betreuung der schwangeren Kindesmutter, das erhebliche gesundheitliche Schäden des Klägers zur Folge hatte, haften die Beklagen ihm gem. §§ 823 Abs. 1, 831 BGB als Gesamtschuldner auf Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 € sowie auf Ersatz aller künftigen materiellen und immateriellen Schäden.

1. Der Senat ist nach Anhörung der Eltern des Klägers und der Beklagten zu 2) in der mündlichen Verhandlung vom 20.02.2015 überzeugt, dass die Eltern des Klägers bei Aufnahme der Kindesmutter im Kreißsaal der Beklagten zu 2) über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter des Klägers berichtet haben.

Die Mutter des Klägers hat ausgesagt, dass sie gegenüber der Hebamme, die sie in Empfang genommen hat, in etwa gesagt habe: "Ich weiß nicht, ob ich einen Blasensprung habe, ich habe aber Blut und Blutstücke verloren und Küchentücher zwischen den Beinen." Der Kindesvater hat dies bestätigt. Seine Lebensgefährtin habe zu Hause heftig geblutet. Bei ihrer Ankunft im Kreißsaal habe sie so etwa sinngemäß gesagt: "Ich weiß nicht, ob ich einen Blasensprung habe, aber ich habe Blut und Blutstücke verloren, ich habe Blätter von Küchenrolle zwischen den Beinen." Die Beklagte zu 2) habe daraufhin sinngemäß gesagt: "Wir wollen erst einmal sehen, wie es dem Kind geht." und dann das CTG angelegt. Er erinnere sich, dass er selbst mit Nachdruck darauf hingewiesen habe, wie es bei ihnen zu Hause ausgesehen hatte, nämlich, dass alles voller Blut gewesen sei, und dass er auch darauf hingewiesen habe, dass seine Frau Blätter von Küchenrollen zwischen den Beinen habe. Die Hebamme habe auch gefragt, was im Vorfeld passiert sei, woraufhin er nochmal wiederholt habe, was zu Hause geschehen war.

Der Senat hält die Angaben der Eltern des Klägers für glaubhaft. Dass es in der Häuslichkeit ein akutes Ereignis gab, welches die Eltern des Klägers veranlasste, in der Nacht gegen 2:00 Uhr den Kreißsaal aufzusuchen, haben auch die Beklagten nicht in Frage gestellt. Die Beklagte zu 2) hat hierzu in ihrer Anhörung durch den Senat erklärt, die Kindesmutter habe gesagt, sie habe wohl einen Blasensprung gehabt. Da bei der vaginalen Untersuchung der Kindesmutter durch die Ärztin eine Blutung > Regelstärke festgestellt wurde (vgl. Gedächtnisprotokoll - Anl. 2), ist es für den Senat nachvollziehbar, dass die Eltern des Klägers, die wegen dieser Blutung die Klinik aufgesucht haben, gegenüber der Beklagten zu 2) nicht nur den Verdacht eines Blasensprungs geäußert haben, sondern ihr auch über die Blutung berichtet haben. Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Eltern des Klägers begründen könnten, sind nicht ersichtlich und haben auch die Beklagten nicht aufgezeigt. Es spricht auch sonst nichts dafür, dass die Eltern des Klägers die vorhandene Blutung erst der später herbeigerufenen Ärztin mitgeteilt haben.

2. Der Beklagten zu 2) ist ein Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers vorzuwerfen, da sie die ihr mitgeteilte Blutung nicht kontrolliert und deshalb die diensthabende Ärztin statt bereits um 3:05 Uhr, erst um 3:15 Uhr, mithin 10 min zu spät informiert hat.

2. 1. Die Beklagte zu 2) war verpflichtet, aufgrund der ihr mitgeteilten Blutung die Vorlage zu kontrollieren, da nach den 2001 vom Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen verabschiedeten Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe (Anl. K 32) entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) u.a. bei pathologischem CTG sowie bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht nur eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss.

a) Der Sachverständige Dr. W. hat bereits in seinem Erstgutachten vom 03.05.2012 darauf verwiesen, dass die Indikationen, bei welchen Risikofaktoren die Hebamme unabhängig vom Geburtsfortschritt den Arzt zu benachrichtigen hat, von der DGGG klar zusammengefasst seien und u.a. CTG-Auffälligkeiten und Blutungen unter der Geburt einschließen. Er hat aber auch angemerkt, dass bei der letzteren Indikation im Wortlaut nicht klar umrissen sei, wie stark eine Blutung sein müsse, um sie dringend als ärztlich abklärungsbedürftig einzustufen. Hier sei neben der beruflichen Erfahrung der Hebamme letztlich die Einschätzung des fetalen Zustandes von maßgeblicher Bedeutung. Im Falle einer Zeichnungsblutung sei - auch in einem Krankenhaus mit Maximalversorgung - zunächst kein ärztliches Personal zwingend hinzuzuziehen. Die Blutung sei als regelstark eingestuft worden, wobei sich hier aufgrund der naturgemäßen Schwankungsbreite i.d.R. eine genaue Quantifizierung verbiete. Dennoch würden gegen einen insgesamt größeren Blutverlust nach innen (Uterus) oder außen (vaginal) zum einen die normale Kreislaufsituation der Schwangeren als auch die (retrospektiv) moderat abgefallene Hämoglobinkonzentration im Blut der Mutter sprechen.

In seinem ergänzenden Gutachten vom 17.02.2016 hat der Sachverständige Dr. W. darauf verwiesen, dass, sofern eine Blutung nicht nur kommuniziert, sondern auch anhand der Vorlage nachgewiesen worden wäre, den Richtlinien der DGGG folgend eine Information an den diensthabenden Arzt des Kreißsaals hätte erfolgen müssen. In Kenntnis der zeitlichen Abfolge wäre dies nach Anlegen des CTG bis Erreichen einer repräsentativen Herzfrequenz und nachfolgender Vorlagenkontrolle frühestens ab 3:00 Uhr möglich gewesen. Bei vorausgegangener Dezeleration habe sich die Hebamme nachvollziehbar für die Herstellung einer auswertbaren Herzfrequenzableitung entschieden und einen Seitenwechsel der Mutter veranlasst. Nach entsprechender Besserung der fetalen Herzfrequenz wäre hier objektiv erst die Möglichkeit gegeben, die Kreißsaalärztin zu informieren (3:04 oder 3:05). Insgesamt wäre dies auch von Gutachterseite zu fordern.

In seiner ergänzenden Anhörung vom 02.12.2016 hat der Sachverständige ausgeführt, dass auch bei anamnestischer Kenntnis der Blutung zunächst das CTG anzulegen gewesen wäre. Danach hätte die Vorlagekontrolle erfolgen müssen. Es sei notwendig und normal, dass die Hebamme sich zunächst einen Überblick verschaffe, wie es dem Kind geht. Dies erfolge mittels CTG und dann erst erfolge die Vorlagekontrolle. Hier sei auch zu beachten, dass die Mutter äußerlich gesund und aufrecht selbständig in die Klinik gekommen sei. Von daher habe es keinen Grund zur sofortigen Sorge um die Mutter gegeben. Nach Herstellen einer aussagekräftigen Herztonkurve hätte die Hebamme aber die Vorlage kontrollieren müssen.

b) Die sachverständige Hebamme G. hat in ihrem schriftlichen Gutachten vom 27.12.2017 u.a. ausgeführt, dass sich die Hebamme zunächst vergewissere, ob das Kind lebt und wie die Herzfrequenz ist. Es würden die mütterlichen Vitalzeichen kontrolliert und bei instabilem Kreislauf nach der Blutung geschaut. Hier sei es, da die fetale Herzfrequenz nicht klar aufgezeichnet worden sei - gegen 3.00 Uhr Frequenzabfall bis auf 85 bpm -, notwendig gewesen, sich zunächst darum zu kümmern - ca 3.02 Uhr Seitenlagenwechsel und ca. 3.08 Uhr Weckversuche beim Kind - und festzustellen, wie die Herzaktion sei, bevor weitere Maßnahmen, wie eine Vorlagenkontrolle erfolgen könnten. Es sei normal, dass die Vorlage erst ca. 10 min nach Aufnahme kontrolliert werde, insbesondere dann, wenn die Schwangere einen stabilen Kreislauf habe. Auch eine mögliche Nachfrage der Hebamme bei den Eltern nach Menge und Farbe der Blutung hätte am weiteren Vorgehen nichts geändert. Die Hebamme habe alles zügig und gewissenhaft nach dem üblichen geburtshilflichen Standard durchgeführt.

In ihrer ergänzenden Anhörung am 02.11.2018 hat die Sachverständige G. darauf verwiesen, dass die festgestellte Blutung insgesamt nur ein Puzzleteil gewesen wäre. Die Vitalzeichen unter Ultraschall seien in dieser Situation das "A" und "O". Wenn die Beklagte zu 2) die Blutung zusätzlich festgestellt hätte, wäre der Ablauf genauso gewesen. Denn es müssten alle entsprechenden Daten gesammelt werden. Entscheidend sei - so die Sachverständige - die Blutmenge. Eine größere Blutung als Regelstärke genüge nicht als Angabe, um weitere Schlüsse zu ziehen, denn diese Angabe werde von Frau zu Frau völlig unterschiedlich bewertet. Die Vitalzeichen hätten keine Hinweise für eine Blutung nach innen gegeben. Sie selbst hätte die Vorlage erst nach Abtasten des Bauches kontrolliert. Jede Frau blute unter der Geburt. Das sei kein Kardinalzeichen. Entscheidend sei, wie es der Frau und dem Kind gehe. Nach ihrer Einschätzung habe die Beklagte zu 2) die Ärztin sehr früh gerufen. Sie selbst hätte auf keinen Fall vorher die Ärztin gerufen.

In ihrem Ergänzungsgutachten vom 23.02.2020 hat die Sachverständige sodann ausgeführt, dass die Hebamme in der Tat die Kindeseltern genauer nach der Stärke der Blutung hätte befragen können. Unabhängig von der Blutungsursache hätte sie sich einen schnellen Überblick über die Vitalität des Kindes und die Kreislaufsituation der werdenden Mutter machen müssen. Selbst wenn die Hebamme die Kindeseltern eingehender befragt hätte oder sich die Vorlage hätte zeigen lassen, wäre es aufgrund der fehlenden Schocksymptomatik der Mutter zuerst angezeigt gewesen, eine Herzton-Kontrolle des Kindes mittels CTG durchzuführen. Das Vorgehen der Hebamme sei der Situation angepasst gewesen. Die Tatsache alleine, dass die Kindeseltern über Blutungen berichteten, sei - so die Sachverständige - noch kein Grund gewesen, ohne weitere Untersuchungen die diensthabende Ärztin sofort zu informieren oder hinzuzuziehen. Sie verweist darauf, dass die Beklagte zu 2) sehr zeitnah den mütterlichen Puls mit der kindlichen Herzfrequenz verglichen, die mütterlichen Vitalzeichen kontrolliert und zügig die diensthabende Ärztin gerufen habe und dass aus ex ante-Sicht ihr Vorgehen nicht zu beanstanden sei.

In ihrer Anhörung vom 15.05.2020 hat die Sachverständige G. erläutert, dass es insgesamt darauf ankomme, ob die Kindesmutter einen Blasensprung mit Blutungen hatte und ob sie angegeben hat, zu bluten oder geblutet zu haben. Darauf aufbauend komme es dann für die Hebamme darauf an zu entscheiden, was als erstes zu machen ist. Wenn die Kindesmutter noch selbstständig in die Klinik kommen konnte und es keine Anzeichen für einen Schock gibt, dann habe hier die Hebamme die erforderlichen Maßnahmen eingeleitet. Es stehe überall, dass ein Arzt benachrichtigt werden muss, wenn die Gebärende unter der Geburt blutet. Es komme dann aber immer auf Nuancen an, um was für eine Blutung es sich dann wirklich handelt. Die Fachleute würden wissen, ob es sich um eine Blutung handelt, bei der ein Arzt gerufen werden muss. Die Hebamme hätte die Vorlage nur kontrollieren "können" und nicht "müssen". Das Bluten an sich sei eine normale Situation in der beginnenden Geburt. Wenn eine Gebärende erklärt, dass sie blute, sei das alleine kein Warnhinweis, wenn keine weiteren Umstände hinzutreten. Die Hebamme müsse sich dann die Blutung anschauen, dies aber nicht als erstes.

Auf Vorhalt des suspekten CTG um 3:00 Uhr hat die Sachverständige erklärt, dass die Hebamme um 3:10 Uhr die Vorlage hätte kontrollieren müssen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie in etwa eine Ahnung gehabt, wo die Baseline der kindlichen Herztöne lag und habe den Puls der Mutter gemessen. Bei Blut in der Vorlage hätte sie dann um 3:11 Uhr die Ärztin rufen müssen. Letztlich nehme, so die Sachverständige, die Hebamme das Risiko einer Fehleinschätzung auf sich. Ex post betrachtet sei es sicherlich ein Fehler gewesen, die Vorlage nicht zu kontrollieren. Dass sie dies unterließ, könne damit erklärt werden, dass die Hebamme mit anderen Dingen beschäftigt gewesen sei, weil sie sich erst einen Überblick habe verschaffen müssen.

2. 2. Im Ergebnis der Beweisaufnahme geht der Senat davon aus, dass die Beklagte zu 2) wegen der ihr mitgeteilten Blutung zu einer Kontrolle der Vorlage verpflichtet war und dass sie ohne Vorlagekontrolle nicht einschätzen konnte, ob es sich bei der ihr mitgeteilten Blutung der Kindesmutter (nur) um eine Zeichnungsblutung handelt, oder aber trotz ihres äußerlich gesunden Zustandes um eine stärkere Blutung. Daher wertet der Senat die fehlende Vorlagekontrolle - trotz der zunächst abweichenden und dann in ihrer erneuten Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2020 relativierten Einschätzung der Sachverständigen G. - als einen der Beklagten zu 2) vorwerfbaren Behandlungsfehler, weil nach den 2001 vom Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen verabschiedeten Empfehlungen zur Zusammenarbeit von Hebamme und Ärztin/Arzt in der Geburtshilfe (Anl. K 32) entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) u.a. bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss.

Zwar haben Leitlinien und Empfehlungen ärztlicher Fachgremien oder Verbände keine konstitutive Wirkung und können nicht unbesehen als Maßstab für den gebotenen medizinischen Standard übernommen werden (vgl. BGH, Urteil vom 15. April 2014 - VI ZR 382/12 -, Rdn. 17 juris). Gleichwohl stellen solche Leitlinien und Empfehlungen einen Wegweiser für den medizinischen Standard dar. Sie geben regelmäßig den anerkannten und gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft oder die Überzeugung maßgeblicher ärztlicher Kreise von der Richtigkeit einer bestimmten Behandlung wieder. Eine Abweichung von solchen Leitlinien und Empfehlungen bedarf daher einer besonderen Begründung.

Ihre von der Empfehlung abweichende Bewertung im Ergänzungsgutachten vom 23.02.2020, die Beklagte zu 2) hätte die Kindeseltern genauer nach der Blutungsstärke befragen können aber nicht müssen, sie hätte sich genauer über die Blutungsstärke informieren können, hat die Sachverständige G. nicht nachvollziehbar begründet. Ihr Hinweis in der Anhörung vom 02.11.2018, dass die Leitlinie nicht das Lehrwissen der Hebammen widerspiegele, überzeugt nicht, weil der Hauptausschuss des Bundes Deutscher Hebammen e.V. der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), dass u.a. bei bei Blutungen unter der Geburt die unverzügliche Präsenz nicht eines Arztes schlechthin, sondern eines geburtshilflich erfahrenen Arztes oder sogar des Oberarztes sichergestellt sein muss, uneingeschränkt zugestimmt hat (vgl. Anl. K 32). Danach hat die Hebamme eine umfassende Kompetenz für physiologische Vorgänge, während die Behandlung von Regelwidrigkeiten dem Arzt vorbehalten bleibt. Deshalb gehört es zu den elementaren Aufgaben einer Hebamme, Regelwidrigkeiten zu erkennen und sie ist bei pathologischen Auffälligkeiten nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, rechtzeitig den Arzt hinzuzuziehen. Umstände, die hier ein Abweichen von der Empfehlung der DGGG aufgrund der Besonderheiten des individuellen Falles gerechtfertigt hätten, lagen nicht vor. Vielmehr hat auch die Sachverständige Gruber in ihrem Ergänzungsgutachten vom 23.02.2020 und in ihrer anschließenden Anhörung durch den Senat darauf verwiesen, dass die Blutungskontrolle wichtig, wenn auch bei einer - wie hier - kreislaufstabilen Schwangeren zweitrangig sei. Nach ihrer Aussage ("es stehe überall ...") gehört es auch zum Elementarwissen einer Hebamme, dass ein Arzt benachrichtigt werden muss, wenn die Gebärende unter der Geburt blutet.

Da nach der Anhörung der Eltern des Klägers feststeht, dass die Kindesmutter bei ihrem Eintreffen in der Klinik die Beklagte zu 2) über die Blutung informiert hat, hätte diese nach Anlegen des CTG eine Vorlagenkontrolle vornehmen und sodann entsprechend der sog. S 1-Leitlinie unmittelbar die Fachärztin benachrichtigen müssen. Soweit sich die Sachverständige G. in ihrer Anhörung vom 15.05.2020 dahin festgelegt hat, dass die Hebamme um 3:10 Uhr die Vorlage hätte kontrollieren müssen, hält der Senat diesen Zeitpunkt nicht für plausibel. Es ist zwar nachzuvollziehen, dass die Hebamme sich trotz mitgeteilter Blutung zunächst dazu entschlossen hat, das CTG anzulegen. Dies insbesondere im Hinblick auf die Feststellung der Sachverständigen G., dass es der Kindesmutter äußerlich gut ging, dass sie insbesondere kreislaufstabil war und die Vitalzeichen keine Hinweise für eine Blutung nach innen gaben. Auch der Sachverständige Dr. W. hat in seiner Anhörung vom 02.12.2016 darauf verwiesen, dass die Kindesmutter äußerlich gesund gewesen sei, weshalb es keinen Grund zur sofortigen Sorge um die Mutter gegeben habe. Dennoch hält der Senat an seiner bereits im Beschluss vom 04.06.2020 mitgeteilten Auffassung fest, dass die Beklagte zu 2) spätestens um 3:05 Uhr die Ärztin hätte informieren können und müssen. Der Sachverständige Dr. W. hat ausgesagt, dass die Hebamme nach dem Herstellen einer aussagekräftigen Herztonkurve die Vorlage hätte kontrollieren müssen. Nach dem CTG habe sie etwa um 3:01 Uhr davon ausgehen können, dass die Herzfrequenz adäquat sei. Die Sachverständige G. hat in ihrer Anhörung darauf verwiesen, dass die Beklagte zu 2) versucht habe, die Kindesmutter in den ersten fünf Minuten ruhig zu halten, um überhaupt eine Aufzeichnung im CTG zu erreichen. Bei Bewegungen würden sonst die Aufnehmer verrutschen und könnten kein Ergebnis zeichnen. Der Beklagten zu 2) ist auch zuzubilligen, dass sie erst die Herzfrequenz beobachten und nicht sofort die Kindesmutter zum Zweck der Kontrolle der Vorlage bewegen wollte. Die Beklagte zu 2) hätte aber die Kontrolle der Vorlage jedenfalls vor oder unmittelbar nach dem Seitenwechsel vornehmen müssen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen W. zeigte sich im CTG gegen 3:00 Uhr ein Herztonabfall bis auf max. 85 bpm und unmittelbar darauf führte die Beklagte zu 2) gegen 3:02 Uhr einen Seitenwechsel der Kindesmutter durch. Da sie diese hierbei ohnehin bewegen musste, hätte die Beklagte zu 2) im Zuge dieses Seitenwechsels auch die Vorlage kontrollieren können und müssen. Geht man davon aus, dass die Beklagte zu 2) nach dem Seitenwechsel der Kindesmutter zunächst anhand des CTG geprüft hat, ob das Kind auf diesen Wechsel reagiert, hätte sie spätestens um 3.05 Uhr die Ärztin herbeirufen können und aus Sicht des Senats auch müssen. Dieser Zeitpunkt steht im Einklang mit den Angaben des Sachverständigen Dr. W. in seinem schriftlichen Ergänzungsgutachten vom 17.02.2016 sowie in seiner Anhörung durch den Senat am 02.12.2016.

3. Der der Beklagten zu 2) wegen der unterlassenen Vorlagekontrolle vorzuwerfende Befunderhebungsfehler war für die gesundheitliche Schädigung des Klägers mindestens mitursächlich.

3. 1. Steht fest, dass eine medizinisch erforderliche Befunderhebung unterlassen wurde, wird zugunsten des Patienten vermutet, dass der fragliche Befund ein aus medizinischer Sicht reaktionspflichtiges Ergebnis gehabt hätte, wenn letzteres hinreichend wahrscheinlich ist (BGH, Urteil vom 03.11.1998 - VI ZR 253/97 -, juris Rdn. 16). Das ist hier der Fall. Die Angabe in dem auch von der Beklagten zu 2) unterzeichneten Gedächtnisprotokoll vom 27.10.2007 (Anl. 2), dass um 3:20 Uhr eine Blutung > Regelstärke vorlag, rechtfertigt den Schluss, dass die Beklagte zu 2) diese Feststellung bereits zu dem Zeitpunkt getroffen hätte, zu dem sie die Vorlage hätte kontrollieren müssen, mithin bereits gegen 3:02 Uhr. Der Sachverständigen Dr. W. hat insoweit ausgeführt, dass, sofern die Hebamme die Vorlage angeschaut hätte, sie mutmaßlich eine Blutung in Regelstärke bemerkt hätte, wie sie 20 Minuten später ja auch festgestellt und dokumentiert wurde. Gründe, die gegen diese Annahme sprechen, haben die Beklagten nicht aufgezeigt und sind auch sonst nicht ersichtlich.

Die Beweiserleichterung bezieht sich indes nur auf das Ergebnis der unterlassenen Befunderhebung, nicht aber auf die Kausalität für den später eingetretenen Schaden, es sei denn, die Unterlassung einer medizinisch gebotenen Befunderhebung stellt einen groben ärztlichen Fehler dar (BGH, Urteil vom 29.09.2009 - VI ZR 251/08 -, juris Rdn. 8 m.w.N.) oder bei Durchführung der versäumten Untersuchung hätte sich ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben, dass sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen müsste (BGH, Urteil vom 03.11.1998 - VI ZR 253/97 -, juris Rdn. 16); in diesen Fällen kommt es auch zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden zugunsten des Patienten.

a) Die erstgenannte Voraussetzung - das Unterlassung einer medizinisch gebotenen Befunderhebung stellt einen groben ärztlichen Fehler dar - ist hier trotz der kommunizierten Blutung bei Aufnahme der Kindesmutter in den Kreißsaal zu verneinen. Dies insbesondere im Hinblick auf die Feststellung der Sachverständigen Dr. W. und G., dass es der Kindesmutter äußerlich gut ging, dass sie insbesondere kreislaufstabil war und die Vitalzeichen keine Hinweise für eine Blutung nach innen gaben. Auch ist die Beklagte zu 2) nicht untätig geblieben, sondern sie hat weiterhin den Gesundheitszustand der Kindesmutter und des Kindes anhand der CTG-Aufzeichnungen kontrolliert und unstreitig bis 3:10 Uhr Weckversuche vorgenommen. Die Sachverständige G. hat insoweit ausgeführt, dass sich die Beklagte zu 2) hier für eine andere Reihenfolge entschieden hat. Letztlich habe sie - so die Sachverständige - das Risiko der Fehleinschätzung auf sich genommen.

b) Allerdings hätte sich hier bei Durchführung der versäumten Vorlagekontrolle ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben, dass sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellt.

Der Sachverständige Dr. W. hat in seiner ergänzenden Anhörung vom 02.12.2016 darauf verwiesen, dass er sich nicht erklären könne, weshalb die Hebamme erst um 3:15 Uhr den Arzt gerufen hat. Wenn sie die überstarke Regelblutung gesehen hätte, hätte sie den Arzt rufen müssen. Dies sei 10 Minuten zu spät erfolgt; dies sei ein Fehler, der einer Hebamme schlicht nicht unterlaufen dürfe. Der Sachverständige hat damit die Nichtreaktion der Beklagten zu 2) auf die Blutung > Regelstärke als grob fehlerhaft gewertet.

Auch die Sachverständige G. hat - bei all ihrem geäußerten Verständnis für die Vorgehensweise der Beklagten zu 2) - in ihrer Anhörung vom 15.05.2020 erklärt, dass ein Arzt benachrichtigt werden muss, wenn die Gebärende unter der Geburt blutet und dass dies überall stehe.

Für eine fundamentale Verkennung des Befundes spricht zudem die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die rechtzeitig herbeigerufene Ärztin bei der ihr mitgeteilten Blutung - entsprechend ihrem Vorgehen nach eigener Feststellung der Blutung - die beiden anderen Ärzte hinzugezogen, eine Sonographie durchgeführt und eine Notsectio angeordnet hätte. Der Sachverständige Dr. W. hat zwar in seiner Anhörung durch den Senat vom 02.12.2016 ausgeführt, dass er nicht gesichert nachvollziehen könne, woraus Frau Dr. G. den Verdacht auf eine vorzeitige Plazentaablösung geschöpft hat. Dies könnte auch retrospektiv dokumentiert worden sein. Allerdings ist im Operationsbericht vom 27.10.2007 als OP-Indikation dokumentiert, dass die vorzeitige Plazentaablösung sonographisch gesichert ist. Zudem hat der Sachverständige Dr. W. darauf verwiesen, dass er selbst wegen der Situation der Blutung bei geschlossenem Muttermund und des eingeengten CTG spätestens um 3:10 die Notsectio ausgerufen hätte.

c) Im Ergebnis geht der Senat davon aus, dass sich die Nichtreaktion der Beklagten zu 2) auf die bei gebotener Befunderhebung festgestellte Blutung als grober Behandlungsfehler darstellt, sodass die Voraussetzungen Beweislastumkehr wegen unterlassener Befunderhebung vorliegen (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 10. Januar 2008 - 5 U 1508/07 -, juris).

3. 2. Der Kläger hat einen Geburtsschaden erlitten. Das Landgericht hat als unstreitig festgestellt, dass neben einer Sauerstoffunterversorgung eine Herzfrequenz von 40/Minute und ein akutes Nierenversagen vorlagen.

Der Sachverständige Prof. B. hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 31.08.2020 ausgeführt, dass der Kläger bis auf die stark verlangsamte Herzreaktion keine weiteren Lebenszeichen gezeigt habe und ohne neopathologische Intervention (Beatmung, Kompression des Brustkorbs zum Aufrechterhalten eines Minimalkreislaufs, Gabe von Adrenalin) im Kreißsaal verstorben wäre. Die im Universitätsklinikum durchgeführte Kühlungsbehandlung könne, so der Sachverständige weiter, insofern als erfolgreich gewertet werden, als sich in der am 02.02.2010 durchgeführten kernspintomographischen Untersuchung des Gehirns Myelinisierungsstörungen nur in der subkortikalen Region (U-Fasern) und im Trigonum-Bereich der Hinterhörner finden.

3. 3. Der Befunderhebungsfehler der Beklagten zu 2) war generell geeignet, den Geburtsschaden des Klägers zu verursachen. Hierfür genügt es, dass nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Fehler der Beklagen zu 2) als - nicht unbedingt naheliegende oder gar typische - Ursache für den Gesundheitsschaden in Frage kommt (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Rn. G 522 m.w.N.). Nach den Ausführungen des Sachverständige Prof. B. ist dies hier der Fall.

a) Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 31.08.2020 darauf verwiesen, dass eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr über einen Zeitraum von 10 Minuten ausreichend sei, um das Krankheitsbild der perinatalen Asphyxie und seine Folgen für den Kläger zu erklären. In seinem schriftlichen Ergänzungsgutachten vom 04.01.2021 hat er erläutert, dass die Sauerstoffunterversorgung des Kindes im Mutterleib auf einer vorzeitigen Plazentaablösung beruhe. Bei einer solchen beginne die Trennung des mütterlichen Gewebes der Gebärmutter, über deren Blutgefäße der Sauerstoff abtransportiert werde, vom kindlichen Gewebe der Plazenta, deren Blut in den letztlich in der Nabelschnur mündenden Gefäßen dann den Sauerstoff in den Körper des Klägers bringe, bereits vor der Geburt. Die vorzeitige Lösung geschehe nicht schlagartig, sondern führe zu einer nach und nach sich verschlechternden Sauerstoffversorgung des Kindes. Der Zeitpunkt des Umschlags von einem subakuten (kompensierten) in ein akutes (nicht kompensiertes) Geschehen lasse sich im Nachhinein nicht konstruieren. Die vorzeitige Lösung führe erst in der Schlussphase zu einer völligen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr. Die letzten Minuten bis zum Zeitpunkt, ab dem die Sauerstoffversorgung des Kindes über die Lungen des Kindes selber erfolge, seien die schlimmsten. Die einzig sichere Aussage, die er als Gutachter machen könne, bestehe darin, dass eine 10 Minuten früher durchgeführte Kaiserschnittentbindung das Ausmaß der Gehirnschädigung verringert hätte; ob sie sich vollständig hätte verhindern lassen, müsse dahingestellt bleiben.

b) Die hiergegen erhobenen Einwendungen der Beklagten erweisen sich nicht als durchgreifend. Sie können insbesondere nicht mit Erfolg geltend machen, dass die alleinige Feststellung, wonach bereits eine 10-minütige Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum schweren Bild der perinatalen Asphyxie führen kann, in keinem Fall ausreichend sei, um den Schluss zu ziehen, dass genau diese 10 Minuten die Situation verändert haben und dass es, sofern die starken Blutungen schon in der Häuslichkeit der Kindesmutter eingesetzt haben, mindestens ebenso möglich sei, dass bereits dort die Sauerstoffmangelsituation vorgelegen und die Schädigung des Kindes hervorgerufen habe.

Liegt ein grober Behandlungsfehler vor (hier: die Nichtreaktion der Beklagten zu 2) auf die bei Befunderhebung festgestellten Blutung), dann reicht es für die Annahme einer Beweislastumkehr zwischen dem Behandlungsfehler und dem Eintritt des Primärschadens aus, wenn der grobe Behandlungsfehler generell geeignet ist, diesen konkreten Gesundheitsschaden hervorzurufen (vgl. jetzt § 630h Abs. 5 S. 1 BGB: grundsätzliche Geeignetheit ausreichend für die Begründung der gesetzlichen Vermutung der Ursächlichkeit). Nahelegen oder wahrscheinlich machen muss der Fehler den Schaden hingegen nicht (vgl. Martis/Winkhart, a.a.O., G 214 m.w.N.). Diese hier zu bejahende generelle Eignung wird nicht durch solche Ursächlichkeitszweifel infrage gestellt, die sich aus dem konkreten Geschehensablauf herleiten lassen, wie hier die Blutung bereits in der Häuslichkeit der Kindesmutter gegen 2:20 Uhr. Vielmehr genügt es, wenn nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Fehler der Beklagten zu 2) als Ursache für den Gesundheitsschaden infrage kommt (a.a.O., G 216 m.w.N.). Das aber zweifeln auch die Beklagten nicht an.

Eine Beweislastumkehr wäre nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründender Ursachenzusammenhang "äußerst unwahrscheinlich" ist; insoweit würde ein bloß theoretisch denkbarer Zusammenhang, der ohnehin fast nie ausgeschlossen werden kann, nicht ausreichen (a.a.O, G 217 m.w.N.). Diesen Beweis können die Beklagten nicht führen. Vielmehr steht nach der Beweisaufnahme, insbesondere auf Grund der Ausführungen des Sachverständigen Prof. B., das Gegenteil zur Überzeugung des Senats fest.

Da hier der als grober Behandlungsfehler zu wertende Befunderhebungsfehler generell geeignet ist, den eingetretenen Primärschadens zumindest mitursächlich herbeizuführen, bleibt es Sache der Beklagten zu beweisen, dass es an der Kausalität zwischen der Pflichtverletzung der Beklagten zu 2) und dem Eintritt des Geburtsschadens des Klägers fehlt bzw. dass der Kausalzusammenhang "äußerst unwahrscheinlich" ist (a.a.O., G 223 m.w.N.).

Die Mitursächlichkeit einer fehlerhaft verzögerten Geburtseinleitung für die hierauf beruhende zeitweise Sauerstoffunterversorgung, die zu einem Hirnschaden des Klägers geführt hat, reicht für eine Haftung der Beklagten aus. Sie müssten daher ihre Behauptung beweisen, dass auch eine sofortige Notsectio an dem gesundheitlichen Zustand des Klägers nichts geändert hätte, dass mithin der Umstand, dass die Beklagte zu 2) die Ärztin 10 Minuten zu spät hinzugezogen hat, keinen Einfluss auf die volle Ausprägung des durch die Sauerstoffunterversorgung entstandenen Primärschadens des Klägers hatte. Auch diesen Beweis haben die Beklagten nicht erbracht. Vielmehr hat der Sachverständige Prof. B. in seinem Gutachten vom 31.08.2020 ausgeführt, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Aussage machen könne, dass die dem Kläger entstandenen Beeinträchtigungen in einem geringeren Ausmaß zum Tragen gekommen wären. Eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr über einen Zeitraum von 10 Minuten reiche aus, um das Krankheitsbild der perinatalen Asphyxie und seiner Folgen für den Kläger zu erklären. In seinem Ergänzungsgutachten vom 04.01.2021 hat er erläutert, dass es bei einer vorzeitigen Plazentaablösung nach und nach zu einer verschlechternden Sauerstoffzufuhr des Kindes im Mutterleib komme, die das Kind zunächst noch kompensieren könne, dass die vorzeitige Lösung erst in der Schlussphase zu einer völligen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr führe und dass die letzten Minuten bis zum Zeitpunkt, ab dem die Sauerstoffversorgung des Kindes über die Lungen des Kindes selber erfolge, die schlimmsten seien. In seiner Anhörung durch den Senat hat der Sachverständige nochmals bekräftigt, dass die letzten 10 Minuten die absolut kritische Zeitphase seien. Der gesundheitliche Zustand des Klägers sei so gravierend gewesen, dass er bei der Geburt mit einem Puls von 40 fast tot gewesen sei. Wäre diese Schädigung vorher so schwer bereits eingetreten, wäre das Kind nicht lebend geboren worden. Der Schädigungszeitpunkt könne deshalb nicht viel früher liegen. Dass der Sachverständige letztlich nicht verlässlich beurteilen konnte, ob und vor allem in welchem Ausmaß die gesundheitlichen Beeinträchtigungen dem Kläger erspart geblieben wären, wenn die Notsectio 10 Minuten früher erfolgt wäre, geht wegen der Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten.

4. Die Beklagten haften dem Kläger auf Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 300.000,00 €.

4. 1. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, das der Kläger gem. § 253 Abs. 2 BGB beanspruchen kann, ist in erster Linie dessen Ausgleichsfunktion zu beachten. Insoweit kommt es auf die Höhe und das Maß der Lebensbeeinträchtigung an, maßgeblich sind die Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden, Entstellungen und psychischen Beeinträchtigungen, wobei Leiden und Schmerzen wiederum durch die Art der Primärverletzung, die Zahl und Schwere der Operationen, die Dauer der stationären und der ambulanten Heilbehandlungen, den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit und die Höhe des Dauerschadens bestimmt werden.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bemessung des Schmerzensgeldes ist der der letzten mündlichen Verhandlung. Daher ist das Schmerzensgeld nicht - wie vom Kläger beantragt - auf die bis zum 15.10.2010 erlittenen Schmerzen zu begrenzen, sondern es umfasst alle Schäden und gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers, die bis zum 03.09.2021 bestanden. Mit seiner Zeitangabe im Schmerzensgeldantrag hat der Kläger auch keine Grenze i.S.v. § 308 Abs. 1 ZPO gezogen, da der weitergehende Schmerzensgeldanspruch von seinem Feststellungsantrag umfasst ist.

Bei der Frage, welche Schmerzensgeldhöhe angemessen ist, unterliegt der Tatrichter im Grundsatz zwar keinen betragsmäßigen Beschränkungen, denn eine absolute Entschädigung für nicht vermögensrechtliche Nachteile gibt es nicht, da diese nicht in Geld messbar sind. Vielmehr hat die Eigenart des Schmerzensgeldanspruchs zur Folge, dass dessen Höhe nicht auf Heller und Cent bestimmbar und für jedermann nachvollziehbar begründbar ist. Aus diesem Grunde ist der Tatrichter bei der Bemessung des Schmerzensgeldes "besonders freigestellt" (BGH, Urteil vom 19. Dezember 1969 - VI ZR 111/68 -, juris Rn. 6 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund sind die in Schmerzensgeldtabellen erfassten Vergleichsfälle nicht bindend, sondern stellen nur den Ausgangspunkt für die tatrichterlichen Erwägungen zur Schmerzensgeldbemessung dar.

4. 2. Der Senat hält vor diesem Hintergrund insbesondere nach der ergänzenden Beweisaufnahme zum Gesundheitszustand des Klägers ein Schmerzensgeld von 300.000,00 € für angemessen. Hierbei hat sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Der Kläger hat durch den Sauerstoffmangel unter der Geburt unstreitig eine Hirnschädigung erlitten. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. B. im Gutachten vom 31.08.2020 hat diese Hirnschädigung zu dauerhaften erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers geführt. Er ist in seinem Wachstum immer weiter hinter den Normalwert zurückgeblieben. Der Kläger leidet unter motorischen Koordinationsstörungen, die als sehr diskrete, armbetonte infantile Zerebralparese gewertet werden können. Betroffen ist vor allem die Feinmotorik, was beim Schreiben Probleme macht. Bereits in den ersten Stunden nach der Geburt des Klägers ist es zu Krampfanfällen gekommen, die unter medikamentöser Behandlung sistierten. Seit einem heftigen Krampfanfall Ende Januar 2010 erhält der Kläger eine Dauermedikation, die 2014 wegen erneuter epileptische Anfälle umgestellt worden sei. Bereits in der ersten entwicklungsdiagnostischen Untersuchung des Klägers am 27.08.2008 wurde eine verzögerte Entwicklung um 1 - 3 Monate bei einem chronologischen Alter von 10 Monaten dokumentiert. Bei einer Untersuchung mit zwei Jahren wurde ein MDI - Mental Developmental Index - von 66 (erhebliche kognitive Einschränkung) und ein PDI - Psychomotor Developmental Index - von 97 (geringe motorische Einschränkung) erhoben. Eine Testung des Intelligenzquotienten im Mai/Juni 2013 ergab einen IQ von 73, was dem Niveau einer Lernbehinderung entspricht. Vom Landesamt für Gesundheit und Soziales B. wurde dem Kläger mit Bescheid vom 29.04.2015 ein Grad der Behinderung von 70 zuerkannt. Bei der Testung der Aufmerksamkeitsfunktion im September 2019 zeigte sich eine kognitive Verlangsamung und eine Beeinträchtigung der Aufmerksamkeitsselektion, die für schulische Fertigkeiten von besonderer Bedeutung sind. Laut Einschätzung der Physiotherapeuten von April 2018 leidet der Kläger unter großen Einschränkungen in der visuellen und taktil-propriozeptiven Wahrnehmung, der Handgeschicklichkeit, der Balance und teilweise der vestibulär-propriozeptiven Wahrnehmung, was sich in fehlendem Raum-Zeit-Gefühl, fehlender Orientierung, Stolpergefahr und unzuverlässiger Wahrnehmung des Harndrangs äußert. Damit der Kläger Lernfortschritte machen kann, besteht ein hoher Bedarf an individueller Begleitung und Hilfestellung. Ob die ihm durch seine Familie als auch durch professionelle Angebote zuteilwerdenden Hilfen ausreichend sein werden, um einen qualifizierten Schulabschluss zu erreichen und eine Berufsausbildung zu absolvieren, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beurteilbar.

In seiner Anhörung durch den Senat am 03.09.2021 hat der Sachverständige Prof. B. erläutert, dass dem Kläger Gehirnmasse fehlt. Er sei gehbehindert und hilflos und bedürfe der Begleitung. Er werde nicht selbstständig tätig werden können. Es habe, so der Sachverständige, vielfache Testungen und Untersuchungen durch unterschiedliche Fachmediziner gegeben. Die dort getroffenen Feststellungen würden sich nicht mehr verändern, weshalb er selbst von einer persönlichen Untersuchung des Klägers zur Feststellung des aktuellen Gesundheitszustandes abgesehen habe. Der Zustand des Klägers ändere sich nicht mehr. Allenfalls würden sich die Anforderungen an ihn mit zunehmendem Alter ändern. Der Kläger wurde und werde maximal gut gefördert, aber das Grundproblem ändere sich damit nicht. Die Erkrankung sei einfach nicht besserbar; die Folgen müssten so gut wie möglich kompensiert werden.

In Würdigung dieser Gesamtsituation des Klägers, dessen durch den Geburtsschaden erlittenen dauerhaften Beeinträchtigungen nur durch eine ständige Betreuung und Hilfe Dritter kompensiert, aber nicht gebessert werden können und die ihm ein eigenständiges Leben unmöglich machen, hält der Senat auch mit Blick auf Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte zu vergleichbaren Fällen (vgl. etwa OLG Hamm, Urteil vom 17. März 2015 - I-26 U 108/13 -; OLG Koblenz, Urteil vom 26. Februar 2009 - 5 U 1212/07 -, jeweils in juris) ein Schmerzensgeld i.H.v. 300.000,00 € für angemessen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes war der Senat nicht an den vom Kläger angegebenen Betrag gebunden. Der Kläger hat im vorliegenden Fall zuletzt ein Schmerzensgeld von mindestens 50.000,00 € gefordert. Abgesehen davon, dass der Kläger das Schmerzensgeld unzulässig auf die bis zum 15.12.2010 erlittenen Schmerzen begrenzt hat, liegt darin die Angabe eines Mindestbetrages in der Weise, dass er das Ermessen des Gerichts jedenfalls nach unten durch diesen Betrag begrenzen wollte. Nach oben ist das Ermessen des Gerichts hingegen nur dann begrenzt, wenn der Kläger eine Obergrenze angibt und damit erkennen lässt, dass er die Ausübung des Ermessens nur bis zur Höhe des genannten Betrages begehre (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95 -, juris Rn. 35 m.w.N.). Hat er dagegen wie hier keine Obergrenze angegeben, ist das Gericht in seinem Ermessen nach oben frei und an der Zuerkennung eines die Mindestsumme auch erheblich übersteigenden Betrages nicht gehindert (a.a.O.).

Das Schmerzensgeld ist wie beantragt ab Rechtshängigkeit, d.h. ab dem 15.02.2011 zu verzinsen (§§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB).

5. Die Schadensersatzpflicht erstreckt sich auch auf das geltend gemachte Feststellungsbegehren. Bei verständiger Würdigung der zur Schädigung des Klägers bislang getroffenen Feststellungen ist mit dem Auftreten weiterer Schäden zu rechnen. Obwohl die Schadensentwicklung aus medizinischer Sicht im Wesentlichen abgeschlossen ist, kann - wie sich aus den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Prof. B. ergibt - die gesundheitliche Entwicklung des Klägers nicht abschließend beurteilt werden. Auch können angesichts des Ausmaßes der Behinderung des Klägers weitere materielle und immaterielle Schäden nicht ausgeschlossen werden.

6. Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Ersatz der von ihm nach einem Gegenstandswert von 17.500,00 € berechneten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in der geltend gemachten Höhe von 1.466,08 € (§ 249 Abs. 1 BGB). Die Höhe der Geschäftsgebühr, die er mit 2,0 in Ansatz bringt, hat er nachvollziehbar mit der Schwierigkeit der Angelegenheit (u.a. Auswertung diverser Gutachten und ärztlicher Bescheinigungen) begründet. Die Beklagten haben hiergegen auch keine Einwendungen erhoben.

III.

Der nachgelassene Schriftsatz der Beklagten gab keine Veranlassung, die mündliche Verhandlung gem. § 358 ZPO wiederzueröffnen.

Die Beklagten halten die Beeinträchtigungen und Beschwerden des Klägers im Hinblick auf die vorliegenden Unterlagen für plausibel, weshalb auch aus ihrer Sicht für die Bemessung des Schmerzensgeldes keine Untersuchung des Klägers durch den Sachverständigen erforderlich sei.

Die von den Beklagten geforderte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Frage der Kausalität des Befunderhebungsfehlers der Beklagten zu 2) für den Geburtsschaden des Klägers ist nicht geboten. Die Aussagen des Sachverständigen Prof. B. hierzu sind - anders als die Beklagten meinen - nicht widersprüchlich. Auch wenn sich danach der Zeitpunkt des Umschlags von einem subakuten (kompensierten) in ein akutes (nicht kompensiertes) Geschehen im Nachhinein nicht konstruieren lässt, hat der Sachverständige keine Zweifel daran gelassen, dass die letzten zehn Minuten die absolut kritische Zeitphase sind und dass der Kläger, wäre sein gravierender Zustand bei der Geburt bereits zu einem früheren Zeitpunkt so schwer eingetreten, nicht lebend geboren worden wäre. Letztlich wird kein Sachverständiger verlässlich beurteilen können, wann die gesundheitliche Schädigung eines noch ungeborenen Kindes, hier des Klägers, in ein akutes Geschehen umgeschlagen ist, weil sich nicht feststellen lässt, wie sich der für das hypoxische Geschehen verantwortlich zu machende Verlust der Plazentahaftfläche nach Beginn der vaginalen Blutung bei der Kindesmutter und damit die Einschränkung der fetalen Versorgung entwickelt hat.

V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Ausgehend von einem Gesamtstreitwert von bis zu 125.000,00 € hat die Zuvielforderung des Klägers (Zahlung i.H.v. 4.768,50 €) keine höheren Kosten veranlasst.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht. Weder hat die Sache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 3 ZPO, 39 Abs. 1, 40, 43, 47 Abs. 1 und 2 GKG; die Abänderung des Streitwertes für die I. Instanz erfolgt gem. § 66 Abs. 3 Nr. 2 GKG von Amts wegen. Den Streitwert für den Schmerzensgeldantrag hat der Senat mit 100.000,00 € bemessen, den für den Berufungsantrag zu 2) entsprechend dem ursprünglich beanspruchten Betrag mit 4.768,50 € und den Wert für den Feststellungsantrag mit bis zu 20.000,00 €. Bei der Wertbemessung für den Schmerzensgeldantrag war der Senat nicht an die Angaben des Klägers gebunden, da sich der Streitwert am angemessenen Schmerzensgeld auszurichten hat (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95 -, juris Rn. 38). Zur Bestimmtheit des Klageantrages gemäß § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss der Kläger wenigstens die ungefähre Größenordnung des Schmerzensgeldanspruches angeben. Es besteht jedoch - da hier die Bemessung in das Ermessen des Gerichts gestellt worden ist - keine Bindung des Gerichts an diesen "Mindestbetrag"; der Betrag darf vielmehr um ein Vielfaches überschritten werden (a.a.O.). Zur Begründung seines Schmerzensgeldantrages, den er erstinstanzlich mit mindestens 7.500,00 € angegeben hat und in der Berufungsinstanz sodann mit mindestens 50.000,00 €, hat der Kläger vorgetragen, dass infolge eines akuten Sauerstoffmangels vor bzw. unter der Geburt seine geistigen, motorischen, sprachlichen und seelisch-psychischen Fähigkeiten beeinträchtigt seien, dass eine dauernde Betreuung (Frühförderung) und Behandlung (Physiotherapie und Ergotherapie) erforderlich sei und dass er unter Krampfanfällen leide und deshalb vorbeugend das Medikament Ospolot einnehmen müsse. Seine Entwicklung sei so stark beeinträchtigt, dass er keine Regelschule besuchen könne, sondern in einer Körperbehindertenschule angemeldet worden sei. Dieser lediglich pauschale Vortrag, den der Kläger erst in der Berufungsinstanz auf entsprechende Anforderung des Senats mit Schriftsatz vom 28.04.2015 konkretisiert und ergänzt hat, rechtfertigte jedenfalls zu dem hier wegen § 40 GKG maßgeblichen Zeitpunkt ein Schmerzensgeld von 100.000,00 €. Der Senat hat deshalb diesen Wert der Streitwertbemessung sowohl für die I. Instanz, als auch für die Berufungsinstanz zugrunde gelegt.

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