Hessischer VGH, Urteil vom 23.08.2021 - 8 A 1992/18.A
Fundstelle
openJur 2021, 26463
  • Rkr:

1. Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung allein wegen ihrer (illegalen) Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und eines mehrjährigen Aufenthaltes im Ausland.

2. Gleiches gilt für Personen, die sich durch die Flucht ins Ausland dem Wehrdienst entzogen haben (sog. einfache Wehrdienstentzieher). Ihnen drohen etwaige Verfolgungshandlungen bereits nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Unabhängig davon würden derartige Handlungen nicht an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund anknüpfen. Die vom Europäischen Gerichtshof in Bezug auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Richtlinie 2011/95/EU aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung zwischen (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund ist in Bezug auf Syrien aktuell widerlegt.

3. Auch haben syrische Staatsangehörige nicht allein wegen ihrer Herkunft aus einem aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebiet, ihrer sunnitischen Religionszugehörigkeit oder ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten.

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt über den von der Beklagten zuerkannten subsidiären Schutzstatus hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der am ... 1995 in Qubbasin geborene und aus der Stadt Al-Bab in der Region Aleppo stammende Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 22. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 14. September 2016 einen Asylantrag.

Anlässlich seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 15. September 2016 gab der Kläger an, dass sein Heimatort sechs Monate vor seiner Ausreise aus Syrien vom Islamischen Staat übernommen worden sei. Sie hätten Angst um ihr Leben gehabt, da sie Kurden seien. Der Islamische Staat bringe sie um und sie hätten nicht zwangsrekrutiert werden wollen. Sie hätten an diesem Krieg nicht teilnehmen wollen. In Syrien gebe es keine Sicherheit und keine Perspektive für sie. In Deutschland wollten sie sich eine Existenz aufbauen und weiter zur Schule gehen. Auf Nachfrage gab der Kläger an, dass sie im Falle der Rückkehr nach Syrien zwangsrekrutiert oder vom Islamischen Staat umgebracht werden würden. Für Kurden gebe es in Syrien keine Sicherheit. Zudem gab der Kläger an, weder Wehrdienst geleistet noch einen Einberufungsbefehl erhalten zu haben. In Syrien lebten noch seine Mutter sowie zwei Schwestern und zwei Brüder.

Mit Bescheid vom 5. Oktober 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte im Übrigen den Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, dass der Kläger eine Kausalität zwischen möglichen Verfolgungshandlungen und den Anknüpfungsmerkmalen des § 3b AsylG nicht ausreichend substantiiert habe.

Am 17. Oktober 2016 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Wiesbaden Klage erhoben. Zur Begründung hat er seine Ausführungen aus dem Verwaltungsverfahren vertieft. Ergänzend hat er im Wesentlichen vorgetragen, dass er der verfolgten Minderheit der Kurden angehöre und er mehrfach von Mitgliedern des Islamischen Staates sanktioniert worden sei, da er beim Rauchen und beim Tragen einer engen Hose gesehen worden sei. Zeitweise habe er sich bei seiner Schwester vor den Mitgliedern der Miliz versteckt. Er habe befürchtet, von der Miliz zwangsrekrutiert zu werden. In Syrien sei er der Gefahr von Verfolgung ausgesetzt, da er illegal ausgereist sei, einen Asylantrag gestellt und sich langjährig in Deutschland aufgehalten habe. Darüber hinaus stamme er aus einem Gebiet, welches nicht durch das Regime kontrolliert werde. Auch habe er Furcht vor einer Einberufung seitens der syrischen Armee. Andere Milizen erhöhten ebenfalls den Druck. Der Geheimdienst müsse nunmehr die Information erhalten haben, dass er in Deutschland Asyl beantragt habe.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.10.2016 [sic] hinsichtlich der Nummer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger internationalen Schutz (Flüchtlingsschutz) zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie sich auf den angefochtenen Bescheid bezogen.

Mit Urteil vom 28. Dezember 2017 - 6 K 1755/16.WI.A - hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, eine flächendeckende Folter und Inhaftierung von Rückkehrern, die gegebenenfalls mit einer illegalen Ausreise in Zusammenhang stehe und auch den Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit treffe, sei nicht anzunehmen. Zudem führe die vom Kläger befürchtete Zwangsrekrutierung nicht dazu, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu wecken. Insbesondere seien etwaige Misshandlungen von Wehrdienstverweigerern bzw. einberufungsunwilligen Reservisten nicht auf die Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung zurückzuführen.

Auf Antrag des Klägers vom 9. März 2018 hat der 3. Senat des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs mit Beschluss vom 21. September 2018 - 3 A 530/18.Z.A - die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wegen Divergenz zum Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Juni 2017 - 3 A 3040/16.A - zugelassen.

Zur Begründung der Berufung hat der Kläger ausgeführt, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Er gehöre der verfolgten Minderheit der Kurden an und stamme aus einem Vorort von Aleppo. Die Stadt sei vom Islamischen Staat eingenommen worden. Zudem sei er im wehrfähigen Alter. Bei Rückkehr werde ihm durch den syrischen Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden, welche an Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfe. Im Übrigen verweist er auf den Inhalt des Berufungszulassungsantrages. Dort gab der Kläger ergänzend an, dass seine Furcht vor Verfolgung auch auf dem Umstand beruhe, dass er aus einem oppositionellen Gebiet stamme.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 28.12.2017 zu verpflichten, dem Kläger Flüchtlingsschutz gemäß § 3 AsylG zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt im Wesentlichen vor, dass der Kläger sein Heimatland unverfolgt verlassen habe. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urteil vom 6. Juni 2017 - 3 A 3040/16.A -; Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 A 809/18.A -) und des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 19. November 2020 - C 238/19 -) sei festzustellen, dass einfache Wehrdienstentzieher und einziehungsunwillige Reservisten keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG hätten, wenn nicht weitere gefahrerhöhende Merkmale - wie insbesondere eine Vorverfolgung - hinzutreten würden. Ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG sei vorliegend nicht erkennbar, denn es bestünden keine hinreichenden Erkenntnisse dazu, dass Wehrdienstpflichtige und Reservisten, die sich der Einberufung durch Untertauchen und Flucht ins Ausland entziehen, ohne Hinzutreten weiterer Umstände als politische Gegner angesehen würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Behördenakte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und der Ausländerakte des Main-Taunus-Kreises Bezug genommen. Ferner wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 23. August 2021 verwiesen. Die vom Senat zugrunde gelegten Erkenntnismittel ergeben sich aus der den Beteiligten vorab übersandten Erkenntnisquellenliste sowie aus den mit gerichtlicher Verfügung vom 5. August 2021 ergänzend mitgeteilten Quellen.

Gründe

Die zugelassene Berufung hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im angegriffenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Oktober 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

I. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist - im Einklang mit dem unionsrechtlichen und dem internationalen Flüchtlingsrecht - ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Abs. 2 AsylG nennt beispielhaft bestimmte Handlungen, die als Verfolgung im Sinne des Absatzes 1 gelten können. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein flüchtlingsrechtlich geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 - juris Rn. 22).

Nach § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen. Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere Verfolgungsgründe zu treffen. Ob die Verfolgung in diesem Sinne "wegen" eines Verfolgungsgrundes erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen, nicht hingegen nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein. Für eine derartige "Verknüpfung" reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Ein bestimmter Verfolgungsgrund muss nicht die zentrale Motivation oder alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme sein; indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 12 m.w.N.).

Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. August 2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer "qualifizierenden" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32 m.w.N.). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn bei einer "quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus; ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37).

Dieser im Tatbestandsmerkmal "aus begründeter Furcht vor Verfolgung" enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei ihnen eine tatsächliche Vermutung, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass ihnen erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylG der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung. Eine Abweichung hiervon ist weder aus Gründen des materiellen Rechts noch im Hinblick auf vorrangiges Unionsrecht zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 - juris Rn. 9). Gleiches gilt, soweit der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. November 2020 bei der Auslegung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU im Rahmen der Beurteilung der Frage, unter welchen Umständen die Ableistung des Militärdienstes in einem Konflikt Kriegsverbrechen umfassen würde, auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung abstellt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - juris Rn. 35, 37). Hiermit bezieht sich der Europäische Gerichtshof lediglich auf den Regelfall einer behördlichen Prüfung unabhängig von einem sich möglicherweise anschließenden gerichtlichen Verfahren (vgl. Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 26; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris Rn. 25).

II. Ausgehend hiervon hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Kläger ist weder vorverfolgt aus Syrien ausgereist (1.), noch liegen eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründende Ereignisse vor, die nach Verlassen seines Heimatlandes eingetreten sind (2.).

1. Der Kläger ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.

Der Vortrag des Klägers zu angeblichen Repressalien gegen ihn durch den Islamischen Staat ist unglaubhaft, da er pauschal, unsubstantiiert und in wesentlichen Punkten widersprüchlich ist. So ließ der Kläger im erstinstanzlichen Klageverfahren schriftsätzlich vortragen, dass er seinerzeit von Mitgliedern des Islamischen Staates mehrfach sanktioniert worden sei, da er zum einen beim Rauchen und zum anderen mit einer engen Hose gesehen worden sei. Von diesen konkreten Repressalien berichtete der Kläger jedoch weder im Verwaltungsverfahren noch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. So gab der Kläger bei der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, dass sie Angst um ihr Leben gehabt hätten, da sie Kurden seien. Der Islamische Staat bringe sie um und sie hätten nicht zwangsrekrutiert werden wollen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht trug der Kläger vor, dass er in Syrien Probleme als Kurde gehabt habe, und machte allgemeine Ausführungen dazu, dass der Islamische Staat ein Entgegenkommen der Bevölkerung gefordert habe. Auch im Berufungsverfahren vor dem erkennenden Gericht wurden keine konkreten Vorfälle mit Mitgliedern des Islamischen Staates vorgetragen. Darüber hinaus sind auch die Angaben des Klägers zum zeitlichen Ablauf seiner Ausreise widersprüchlich. So trug der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor, dass sechs Monate vor seiner Ausreise sein Heimatdorf vom Islamischen Staat übernommen worden sei, er am 15. Juni 2015 ausgereist sei und er sich zwei Monate in der Türkei aufgehalten habe. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gab der Kläger dagegen an, dass der Islamische Staat ungefähr vier Monate vor seiner Ausreise gekommen sei, er ungefähr im dritten Monat des Jahres 2015 ausgereist sei und er sich acht Monate in der Türkei aufgehalten habe.

Selbst wenn man die Angaben des Klägers zu seiner individuellen Bedrohung durch den Islamischen Staat als wahr unterstellt, rechtfertigt dies die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. Auch unter Anwendung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU wäre es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei seiner Rückkehr Repressalien durch den Islamischen Staat zu befürchten hätte. Diese Vermutung ist widerlegt. Wenngleich der Islamische Staat derzeit in fast allen Landesteilen Anschläge verübt, hat er seit März 2019 seine territoriale Kontrolle in Syrien gänzlich verloren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 10; EASO, Syria, Security Situation, Juli 2021, S. 28 f.). In der Stadt Al-Bab, dem Herkunftsort des Klägers, wurde der Islamische Staat bereits im Jahr 2017 von Rebellen vertrieben (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rebellen vertreiben IS aus Al Bab, 23. Februar 2017). Die Stadt steht aktuell unter der Kontrolle von Gruppen der Syrischen Nationalen Armee, die von der Türkei unterstützt werden (vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Security situation in Aleppo Governorate, November 2020, S. 3; EASO, Syria, Security situation, Juli 2021, S. 19, 37 ff., 81). Ein Zugriff des Islamischen Staates auf den Kläger ist daher ausgeschlossen. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, welches Interesse der Islamische Staat am Kläger derzeit noch haben sollte. Die von ihm seinerzeit (angeblich) begangenen Verfehlungen waren nicht derart gravierend, als davon auszugehen wäre, dass der Islamische Staat ihm deswegen noch nach mehreren Jahren habhaft zu werden beabsichtigt.

2. Dem Kläger droht auch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aufgrund von Ereignissen, die nach dem Verlassen Syriens eingetreten sind (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung folgt weder aus seiner (illegalen) Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und des mehrjährigen Aufenthalts im Ausland (a), aus der Entziehung vom Wehrdienst (b), aus der (zwangsweisen) Einziehung zum Militärdienst (c), aus seiner Herkunft aus einem regierungsfeindlichen Gebiet (d) oder aus seiner sunnitischen Religions- oder kurdischen Volkszugehörigkeit (e). Auch eine Gesamtwürdigung aller möglicherweise eine Verfolgungsgefahr begründenden Umstände führt nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (f).

a) Dem Kläger droht keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung allein wegen seiner (illegalen) Ausreise, der Stellung eines Asylantrags und eines mehrjährigen Aufenthaltes im Ausland.

Hinsichtlich weiblicher syrischer Staatsangehöriger hat der Senat die tatsächliche Situation dahin bewertet, dass ihnen im Falle einer Rückkehr nach Syrien allein wegen der illegalen Ausreise, der Stellung eines Asylantrages und des mehrjährigen Auslandsaufenthaltes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A - juris Rn. 60 ff.; Beschluss vom 25. August 2020 - 8 A 780/17.A - juris Rn. 20).

Gleiches gilt nach Überzeugung des Senats auch in Bezug auf männliche syrische Staatsangehörige (so bereits der 3. Senat des Hess. VGH, vgl. Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 A 403/18.A - juris Rn. 13; vgl. ferner die soweit ersichtlich übereinstimmende obergerichtliche Rechtsprechung: OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 55 ff.; Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 37 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 40; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 - juris Rn. 28; Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 42 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 24. März 2021 - 2 LB 123/18 - juris Rn. 30; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 41 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. September 2019 - 5 LB 38/19 - juris Rn. 55; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Februar 2019 - OVG 3 B 27.17 - juris Rn. 17 ff.; OVG Saarland, Urteil vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 - juris Rn. 37 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 21. August 2019 - 5 A 50/17.A - juris Rn. 29; Thüringer OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 - juris Rn. 60 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12. April 2018 - 1 A 10988/16 - juris Rn. 43 f.; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 63 ff.).

Nach der Auskunftslage ist nach wie vor davon auszugehen, dass Männer im wehrpflichtigen Alter im Falle einer Rückkehr über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste oder sonstige staatliche Behörden über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund der Abschiebung befragt werden können (so bereits Hess. VGH, Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A - juris Rn. 65). Das syrische Regime verfolgt den Anspruch, jeden Rückkehrer aus dem Ausland einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen. Diese erfolgt meist durch den Abgleich von Personendaten und kann, muss aber nicht zwangsläufig, eine Befragung bei Einreise beinhalten (vgl. EASO, Syria, Internally displaced persons, returnees and internal mobility, April 2020, S. 30; Auswärtiges Amt, Auskunft an Hess. VGH zu Az. 3 A 638/17.A bzw. 8 A 638/17, 12. Februar 2019, S. 1; Deutsche Orient-Stiftung/Deutsches Orient-Institut, Auskunft an Hess. VGH zu Az. 3 A 638/17.A, 22. Februar 2018; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rückkehr, 21. März 2017, S. 7 f.; Immigration and Refugee Board of Canada, Syrien: Behandlung von Rückkehrenden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus und an internationalen Grenzübertrittsstellen an Landgrenzen, einschließlich abgelehnten Asylbewerbern, illegal ausgereisten Personen sowie Personen, die ihren Wehrdienst nicht abgeleistet haben; Faktoren mit Einfluss auf die Behandlung einschließlich Alter, Ethnizität und Religion (2014 - Dezember 2015), 19. Januar 2016, S. 2).

Inwieweit Rückkehrer nach Syrien bei den Einreisekontrollen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit grundlosen Festnahmen, Misshandlungen oder Folter durch die syrischen Sicherheitsbehörden zu rechnen haben, kann dahinstehen (vgl. hierzu Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 42 ff. m.w.N.). Jedenfalls mangelt es an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen.

Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln lassen sich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der syrische Staat Rückkehrern allein wegen der illegalen Ausreise, der Stellung eines Asylantrages und des mehrjährigen Auslandsaufenthaltes regelhaft eine regimefeindliche Gesinnung zuschreibt (vgl. insbesondere Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 30; EASO, Syria Situation of returnees from abroad, Juni 2021, S. 18 f.; EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 27 f.; The Danish Immigration Service, Syria, Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 19 ff.; Amnesty International, Auskunft an Hess. VGH zu Az. 3 A 638/17.A, 20. September 2018, S. 1).

Vor dem Hintergrund, dass Schätzungen zufolge seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 über 6,6 Millionen Menschen in das Ausland geflohen sind (vgl. EASO, Syria, Situation of returnees from abroad, Juni 2021, S. 7), erscheint dieser Schluss ohnehin lebensfremd. Demgemäß lassen auch offizielle Äußerungen syrischer Stellen - bei aller gebotenen Vorsicht bei der Bewertung derartiger Äußerungen - darauf schließen, dass dem syrischen Staat durchaus bewusst ist, dass die allgemeine Lebenssituation in Syrien und die Bedrohung durch den Bürgerkrieg hinreichende Motive sind, das Land zu verlassen und Zuflucht in einem anderen Staat zu suchen. So hat der Leiter für Einwanderung und Pässe im syrischen Innenministerium, General Naji Numeir, gegenüber dem "Danish Immigration Service" ausgeführt, dass Personen, die Syrien während des Bürgerkriegs illegal verlassen hätten bzw. in Nachbarstaaten oder sonstigen Staaten, einschließlich westlicher Staaten, Asyl erhalten hätten, keine Probleme mit den syrischen Behörden bekommen würden. Nachdem die illegale Ausreise zuvor noch strafrechtlich verfolgt worden sei, werde hierauf nunmehr verzichtet. Der Regierung sei bewusst, dass die illegale Ausreise aufgrund des Krieges und vor Gruppen, die die Regierung bekämpft hätten, erfolgt sei (vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 19 f.).

b) Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen der Entziehung vom Wehrdienst.

aa) Nach dem Regelbeispiel des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG zugrunde liegende Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass sie es, wenn das Recht des Herkunftsstaats die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht, nicht verwehrt, diese Verweigerung in dem Fall festzustellen, in dem der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - juris Rn. 32).

Ferner würde für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, seinen künftigen militärischen Einsatzbereich aber nicht kennt, die Ableistung des Militärdienstes in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - juris Rn. 38).

Die nach § 3 Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG eingestuften Handlungen ist auch bezüglich der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG erforderlich (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - juris Rn. 44 zu Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU; BVerwG, Beschluss vom 5. Dezember 2017 - 1 B 131/17 - juris Rn. 10).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Februar 2019 - 1 A 3/18 - juris Rn. 98).

In diesem Zusammenhang ist nach dem Europäischen Gerichtshof die Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) i.V.m. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass das Bestehen einer Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d) und Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründen und der Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) dieser Richtlinie nicht allein deshalb als gegeben angesehen werden kann, weil Strafverfolgung oder Bestrafung an diese Verweigerung anknüpfen. Allerdings spricht hiernach eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 RL 2011/95/EU - dem § 3b AsylG zugrunde liegt - aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - juris Rn. 61).

Der Europäische Gerichtshof stellt damit die "starke Vermutung" einer Verknüpfung von (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund unter den Vorbehalt der tatsächlichen Prüfung der auch solchermaßen stark vermuteten "Plausibilität dieser Verknüpfung". Dies enthält jedenfalls keine unwiderlegliche Vermutung oder eine starre Beweisregel, die eine richterliche Überzeugungsbildung nach den zu § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entwickelten Grundsätzen ausschließt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2021 - 1 B 2/21 - juris Rn. 10).

bb) Ausgehend hiervon vermag die Entziehung vom Wehrdienst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten des Klägers nicht zu rechtfertigen.

Unabhängig davon, ob der Militärdienst in Syrien Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, drohen dem wehrdienstpflichtigen Kläger (1) etwaige Verfolgungshandlungen wegen der Entziehung vom Wehrdienst nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (2). Selbst die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung unterstellt, würde diese nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG anknüpfen (3).

(1) Der 26 Jahre alte Kläger ist zum Zeitpunkt seiner Ausreise wehrdienstpflichtig gewesen und ist dies auch noch in dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt.

In Syrien besteht für Männer eine allgemeine - und seit 2011 de facto unbefristete - Wehrpflicht. Freigestellt sind lediglich einzige Söhne sowie Studenten während ihres Studiums. Syrische Männer müssen sich gemäß Art. 40 der syrischen Verfassung im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren lassen und sind bis zum Alter von 42 Jahren wehrpflichtig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 13). Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden. Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 49).

(2) Dem hiernach wehrdienstpflichtigen Kläger drohen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen wegen der Entziehung vom Wehrdienst, weder in Form von Strafverfolgung oder Bestrafung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG noch darüber hinaus durch sonstige (extralegale) Ahndung. Daher kann der Senat offenlassen, ob der Militärdienst in Syrien Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (bejahend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris Rn. 62 ff.; a.A. Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 78 ff.; offengelassen von OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 106).

Nach dem syrischen Militärstrafgesetzbuch (Art. 98, 99) werden Wehrdienstverweigerer in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten Haft bestraft, danach müssen sie ihren Militärdienst vollständig ableisten. In Kriegszeiten ist Wehrdienstverweigerung eine Straftat, die mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft wird (vgl. EASO, Syria, Military Service, April 2021, S. 33). Für Desertion drohen fünf Jahre Haft. Wer als Deserteur das Land verlässt, muss mit Haft zwischen fünf und zehn Jahren rechnen. Wer im Angesicht des Feindes desertiert, dem droht lebenslange Haft. Exekution ist gesetzlich bei Überlaufen zum Feind und bei geplanter Desertion im Angesicht des Feindes vorgesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Düsseldorf zu Az. 5 K 7480/16.A, 2. Januar 2017).

Da es sich bei dem Kläger um einen einfachen Wehrdienstentzieher handelt, kann der Senat offenlassen, ob bei Deserteuren, d.h. Personen, die bereits in das militärische System eingegliedert waren, ihre Einheiten aber verlassen haben, oder bei Überläufern die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2 AsylG gegeben ist. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln lassen sich indes keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass einfachen Wehrdienstentziehern in Syrien die Verhängung der gesetzlich vorgesehenen Strafe oder eine andere Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht (wie hier bereits die beachtliche Wahrscheinlichkeit verneinend OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 73 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 26 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 - juris Rn. 30 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 48 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. September 2019 - 5 LB 38/19 - juris Rn. 80; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 107 ff.).

Vielmehr stellt sich die tatsächliche Lage derzeit so dar, dass Personen, die sich durch die illegale Ausreise dem Wehrdienst entzogen haben, bei Rückkehr nach Syrien nicht bestraft, sondern üblicherweise direkt zum Militärdienst eingezogen werden; Haftstrafen drohen (nur) bei Desertion (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 30; The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 31; Landinfo, Syria, Return form abroad, 10. Februar 2020, S. 8; Landinfo, Report Syria: Reactions against deserters and draft evaders, 3. Januar 2018, S. 8; auf diese Quelle bezugnehmend EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 37; EASO, Country Guidance: Syria, Common analysis and guidance note, September 2020, S. 66).

Aktuelle Berichte zu flächendeckenden bzw. systematischen Strafverfolgungen oder Bestrafungen von Personen wegen der Entziehung vom Wehrdienst existieren nicht. Gäbe es derartige Verfolgungshandlungen, wäre allein aufgrund der großen Anzahl an Rückkehrern nach Syrien davon auszugehen, dass entsprechende Berichte vorliegen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 - juris Rn. 31). Soweit das European Asylum Support Office anführt, befragte Syrer, die sich dem Militärdienst entzogen hätten oder desertiert seien, hätten berichtet, dass für sie "ein hohes Risiko besteht, in Syrien inhaftiert oder sofort eingezogen zu werden" (vgl. EASO, Syria, Military Service, April 2021, S. 33), ergibt sich hieraus nichts anderes. Denn diese Feststellung besitzt schon deshalb keine Aussagekraft, weil sie nicht erkennen lässt, ob die berichteten Folgen Personen betroffen haben, die sich der Einberufung entzogen haben, bevor sie in einer militärischen Einheit eingegliedert waren (Militärdienstentzieher), oder bereits eingezogene Soldaten, die sich eigenmächtig von ihrer Truppe oder Dienststelle entfernt haben (Deserteure) (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 56).

Soweit darüber hinaus vereinzelt Quellen davon berichten, dass Wehrdienstentzieher vor der Entsendung zur militärischen Einheit kurzzeitig inhaftiert würden (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 123 f.; The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 50 Nr. 51), ist davon auszugehen, dass es sich bei derartigen Inhaftierungen nicht um eine Bestrafung, sondern lediglich um eine kurzzeitige Ingewahrsamnahme zwecks Überstellung zum Wehrdienst handelt, die primär ein erneutes Untertauchen des Wehrpflichtigen verhindern soll (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 88, 94; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 78 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 33).

Der vorgenannte Befund steht in Einklang mit der geänderten Gesamtsituation in Syrien. Während in der ersten Phase des Bürgerkrieges der syrische Staat die Kontrolle über weite Teile des Staatsgebietes verloren hatte und das Regime um sein Überleben kämpfte, bedeutete Wehrdienstverweigerung nicht nur Vorenthaltung der geforderten militärischen Dienstleistung, sondern auch Gefährdung der Existenz des Regimes. Zur Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin bedurfte es harscher Reaktion auf Wehrdienstentziehung. Nachdem sich die Lage mittlerweile zugunsten des syrischen Regimes stabilisiert und es in den vergangenen Jahren mit militärischer Unterstützung Russlands und Irans die Kontrolle über große Teile des Landes zurückerlangt hat, stellt Wehrdienstentziehung jedoch keine existenzgefährdende Bedrohung mehr dar, sondern beschränkt sich auf die bloße Vorenthaltung des Militärdienstes (vgl. ausführlich OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 50 ff., 83; ferner OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 94; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 29 ff.). Zugleich hat die syrische Armee nach wie vor einen hohen Bedarf an Wehrdienstleistenden. Die syrische Armee hat durch Entlassungen langgedienter Wehrpflichtiger, Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen erheblichen Mangel an Soldaten zu verzeichnen. Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen. Unter anderem besteht aufgrund der Rückeroberung vieler besetzter Gebiete und wegen der Kämpfe in Idlib ein hoher Bedarf an Rekruten und Reservisten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 14; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 49 f.; The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 9).

Aus den vorgenannten Erwägungen vermag der Senat der insoweit abweichenden Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris Rn. 50 ff.; Urteil vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 - juris Rn. 17 ff.) nicht zu folgen. Soweit das Gericht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung insbesondere auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Dezember 2020 stützt, sprechen die dortigen Ausführungen nicht für, sondern gerade gegen eine solche Annahme (so überzeugend OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 97 ff.; vgl. ferner OVG Sachsen-Anhalt - Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 76; Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 80; dagegen erneut OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 - juris Rn. 17). Dem Lagebericht ist insoweit nämlich zu entnehmen, dass Haftstrafen lediglich wegen Desertion verhängt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 30).

(3) Selbst die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung wegen der Entziehung vom Wehrdienst unterstellt, würde diese nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG anknüpfen. Insoweit kommt weder eine Anknüpfung an die politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (a) noch an die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (b) in Betracht.

(a) Nach der Rechtsprechung des 3. Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs drohten einem nach Syrien zurückkehrenden Wehrpflichtigen, der sich dem Wehrdienst entzogen hat, desertiert ist oder den Wehrdienst nicht angetreten hat, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Maßnahmen, die nach ihrer objektiven Gerichtetheit an den in § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG genannten Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung anknüpfen (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 26. Juli 2018 - 3 A 403/18.A - juris Rn. 16 ff.; Urteil vom 21. Dezember 2018 - 3 A 2267/18.A - juris Rn. 22 ff.).

Der erkennende Senat geht dagegen mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung unter Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen davon aus, dass der syrische Staat einfache Wehrdienstentzieher nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als politische Oppositionelle oder Regimegegner ansieht (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 96 ff.; Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 37 ff.; Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 58 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 104 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26. September 2019 - 5 LB 38/19 - juris Rn. 67 ff.; Sächs. OVG, Urteil vom 21. August 2019 - 5 A 50/17.A - juris Rn. 53 ff.; OVG Saarland, Urteil vom 14. November 2018 - 1 A 609/17 - juris Rn. 53 ff.; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 131 ff.; a.A. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris Rn. 85 ff.; Urteil vom 28. Mai 2021 - OVG 3 B 42.18 - juris Rn. 20 f.; Thüringer OVG, Urteil vom 15. Juni 2018 - 3 KO 155/18 - juris Rn. 69 ff.). Die vom Europäischen Gerichtshof in Bezug auf Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU aufgestellte "starke Vermutung" einer Verknüpfung zwischen (unterstellter) Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund ist somit aktuell widerlegt.

Gegen die Annahme, dass der syrische Staat einfachen Wehrdienstentziehern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle Gesinnung zuschreibt, spricht zunächst die bereits zuvor dargelegte Gesamtsituation in Syrien. Wehrdienstentziehung ist nicht mehr mit einer Gefährdung der Existenz des Regimes gleichzusetzen, sondern erschöpft sich derzeit in der schlichten Vorenthaltung der geforderten militärischen Dienstleistung. Zudem dürfte es sich bei einem großen Teil der mehreren Millionen Menschen, die seit Ausbruch des Bürgerkriegs aus Syrien geflohen sind, um Männer im wehrpflichtigen Alter handeln (vgl. VGH-Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - juris Rn. 40, wonach sich unter den bis Juli 2018 in das Ausland geflüchteten syrischen Staatsangehörigen ca. 33 % männliche Personen im Alten zwischen 18 und 59 Jahren befunden hätten). Nachdem die Annahme, dass der syrische Staat sämtliche ins Ausland geflohene Syrer als Regimegegner ansieht, lebensfremd ist und Äußerungen offizieller Stellen darauf hindeuten, dass dem syrischen Regime bewusst ist, dass der Großteil der ins Ausland geflüchteten Syrer wegen der allgemeinen Bürgerkriegssituation ausgereist ist (siehe unter II. 2. a), ist nicht erkennbar, dass für die große Gruppe syrischer Männer im wehrpflichtigen Alter auch vor dem Hintergrund des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas etwas anderes gelten sollte.

Darüber hinaus ist auch die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen, zu berücksichtigen. Männliche syrische Staatsangehörige im wehrpflichtigen Alter, die im Ausland leben, können sich durch die Zahlung eines bestimmten Betrages, der u.a. von der Dauer ihres Auslandsaufenthalts abhängig ist, von der Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes befreien. Da die syrische Regierung ausländische Devisen benötigt, hat sie das entsprechende Verfahren vereinfacht. Im Zuge der Zahlung der Ausnahmegebühr hat der Betroffene ein Verfahren zur Klärung seines Status durchzuführen. Nach Abschluss des Verfahrens werden die Namen der Betroffenen von den Fahndungslisten gelöscht. Die Freikaufsmöglichkeit wird in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt (vgl. ausführlich The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 22 ff.; Finnish Immigration Service,Syria: Fact-finding mission to Beirut and Damascus, Syrian pro-government armed groups and issues related to freedom of movement, reconcilation processes and return to original place of residence in areas controlled by the Syrian government, 14. Dezember 2018, S. 11 ff.; speziell zum Verfahren zur Klärung des Status vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Security clearance and status settlement for returnees, Dezember 2020, S. 7 ff.). Die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen und auch ihre tatsächliche Umsetzung zeigen, dass der syrische Staat Wehrdienstentzieher nicht als Regimegegner ansieht. Rückkehrende Wehrdienstpflichtige werden von ihm vielmehr entweder als Rekruten oder als Beschaffer ausländischer Devisen nutzbar gemacht.

Ferner sind die Amnestieregelungen des syrischen Staates in Rechnung zu stellen. Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen, Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst melden. Am 15. September 2019 erließ das syrische Regime das Präsidialdekret Nr. 20/2019, welches als "Generalamnestie" angekündigt wurde und unter anderem die Amnestie für Desertion und Wehrdienstverweigerung vom 9. Oktober 2018 bestätigte, laut welcher Deserteuren und Wehrdienstverweigerern im In- und Ausland Straffreiheit gewährt werden soll, ausgenommen "Kriminelle", sowie Personen, die auf Seite der bewaffneten Opposition gekämpft haben. Auch die Amnestie vom September 2019 hob die allgemeine Wehrpflicht nicht auf und schloss trotz des Titels "Generalamnestie" - ähnlich wie die vorherige "Generalamnestie" von 2014 - genau die Verbrechen explizit aus, die angeblich oppositionellen Syrern bei ihrer politischen Verfolgung in Syrien immer wieder vorgeworfen werden ("Aufrufe gegen den Staat"), darunter viele der Anti-Terror-Gesetzgebung von 2012. Im Zuge der COVID-19-Pandemie erließ die syrische Regierung im März 2020 eine erneute "Generalamnestie", welche auch Vergehen wie Wehrdienstverweigerung, regierungsfeindliche Aktivitäten im Internet und manche terroristische Handlungen umfasste. Desertion wurde auch von der Amnestie abgedeckt, wobei sich im Land befindliche Syrer innerhalb von drei Monaten und im Ausland aufhältige Syrer innerhalb von sechs Monaten stellen mussten. Viele der Verbrechen, die insbesondere oppositionellen Syrern vorgeworfen werden, blieben weiterhin ausgeschlossen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 18. Dezember 2020, S. 51 m.w.N.). Zwar ist über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und Deserteure nur sehr wenig bekannt. Die Amnestien werden vielfach als intransparent und unzureichend kritisiert, sowie als bisher wirkungslos und als ein Propagandainstrument der Regierung. Andererseits berichteten Quellen auch, dass die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher respektiere und es Männer gebe, die von den Amnestie Gebrauch gemacht hätten und nicht bestraft, sondern nur zum Wehrdienst eingezogen worden seien (vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 35 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 56). Erst jüngst erließ Präsident Assad kurz vor den syrischen Präsidentschaftswahlen Ende Mai 2021 mit Gesetzesdekret Nr. 13/2021 erneut eine Generalamnestie, die für Verbrechen, die vor diesem Datum begangen wurden, gilt. Dabei handelt es sich bereits um die 18. Amnestie seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Frühjahr 2011. Das Dekret betrifft unterschiedliche Straftaten, darunter solche in Zusammenhang mit der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung von 2012, aber nicht jene "terroristische" Straftaten, die Tote zur Folge hatten. Durch das Dekret werden Strafen gänzlich oder teilweise erlassen, oder auch Haftstrafen durch eine Strafzahlung ersetzt. Zwar wird Wehrdienstverweigerung wohl nicht vom Dekret umfasst (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 56). Allerdings gibt es nicht ansatzweise Anhaltpunkte dafür, dass dies Ausdruck eines geänderten Umgangs mit Wehrdienstverweigerern ist oder generell mit Personen, die sich einer Militärstrafe schuldig gemacht haben. Insoweit wird vom Dekret bezeichnenderweise die Straftat der Desertion erfasst, also eine Militärstraftat, die deutlich härter bestraft wird als Wehrdienstentziehung.

Die Möglichkeit des Freikaufs von der Wehrdienstpflicht und die Amnestieregelungen verdeutlichen den unterschiedlichen Umgang des syrischen Staates mit aus Syrien geflüchteten Personen, denen lediglich die Entziehung vom Wehrdienst vorgeworfen werden kann, einerseits und Personen, die vom syrischen Staat tatsächlich als Oppositionelle oder Regimegegner angesehen werden, andererseits. Während einfachen Wehrdienstentziehern eine Rückkehrperspektive angeboten wird, die zumindest formal, aber auch in der Praxis - mit den aufgezeigten Einschränkungen - besteht, werden vom syrischen Regime als Oppositionelle oder Regimegegner eingestufte Personen mit aller Konsequenz und extremer Härte verfolgt. Statt der Möglichkeit, sich freizukaufen oder von einer Amnestieregelung Gebrauch zu machen, droht dieser Personengruppe nach der einhelligen Erkenntnislage systematische Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Tod (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand: November 2020), 4. Dezember 2020, S. 12 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 43 ff.; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 99 ff.; EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 13 ff.). Dies belegt, dass das syrische Regime einfachen Wehrdienstentziehern gerade keine oppositionelle oder regimekritische Einstellung zuschreibt (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 102).

Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass - worauf die Bevollmächtigte des Klägers hinweist - das syrische Regime in Person von General al-Bitar im Februar 2021 angekündigt hat, ohne Vorwarnung die Vermögenswerte derjenigen Wehrdienstentzieher (bzw. deren Frauen und Kinder) zu beschlagnahmen, die das 43. Lebensjahr vollendet, sich der Wehrpflicht entzogen und binnen drei Wochen eine Befreiungsgebühr nicht bezahlt haben. General al-Bitar bezieht sich dabei auf Artikel 97 des syrischen Militärstrafgesetzbuches, der im Dezember 2019 dahingehend geändert worden war (hierzu näher EASO, Syria, Military Service, April 2021, S. 34). Zunächst ist hervorzuheben, dass der Kläger von der Regelung nicht betroffen ist, da er erst 26 Jahre alt ist und daher von der genannten Altersgrenze noch weit entfernt ist (vgl. hierzu auch VG Berlin, Urteil vom 22. Juni 2021 - 12 K 112/21 A - juris Rn. 20, der Kläger des dortigen Verfahrens war 24 Jahre alt). Darüber hinaus gibt es keine Informationen dazu, ob die Regelung in der Praxis überhaupt Anwendung findet (vgl. EASO, Syria, Military Service, April 2021, S. 34). Vielmehr wird in dem von der Bevollmächtigten des Klägers vorlegten Artikel der North press agency vom 8. Februar 2021 eine Quelle des syrischen Justizministeriums zitiert, wonach die Regelung noch nicht angewendet worden sei, die Anwendung einer solchen Entscheidung ein Chaos in der Bevölkerung schaffen werde und die Regierungsbeamten eine solche Tür angesichts der Ressentiments der Bevölkerung aufgrund der Lebens- und Wirtschaftslage nicht öffnen wollen würden. Soweit die Bevollmächtigte des Klägers darüber hinaus vorträgt, dass den von ihr vorgelegten Berichten zu entnehmen sei, dass sich die Beschlagnahme nicht lediglich auf das Vermögen von Wehrdienstentziehern erstrecke, sondern auch auf das Vermögen der Frauen, Kinder und weiteren unmittelbaren Verwandten der betroffenen Person, steht dies im Einklang mit der von General al-Bitar getätigten Äußerung. Dem vorgelegten Artikel von middleeasteye.com vom 12. Februar 2021 ist zwar zu entnehmen, dass Quellen geäußert hätten, dass die syrische Regierung Eigentum von in das Ausland geflüchteten Personen beschlagnahmt habe. Aus den Ausführungen geht jedoch nicht hervor, aus welchen Gründen die Beschlagnahmen stattgefunden haben. Letztlich spricht die Änderung von Artikel 97, auch wenn sie - wie dargelegt - in der Praxis nicht umgesetzt wird, ebenfalls für das vorrangige Interesse des syrischen Regimes an einer Vermögensmehrung anstelle einer zielgerichteten Verfolgung von Wehrdienstentziehern.

Es gibt auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass einfache Wehrdienstentzieher als Bestrafung für ihre unterstellte Illoyalität an die Front versetzt werden würden. Soweit diese These des "Politmalus" in Form der "Frontbewährung" vom UNHCR vertreten wird (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 9), vermag dies nicht zu überzeugen. Nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Quellen gegenüber dem "Danish Immigration Service" besteht für jeden Soldaten in der syrischen Armee die Gefahr, an die Front versetzt zu werden, unabhängig von seiner Qualifikation, seinem religiösen Hintergrund, seiner Herkunft oder seiner Erfahrung (vgl. The Danish Immigration Service, Syria, Military Service, Mai 2020, S. 13 f.). Sowohl normale Wehrdienstpflichtige als auch Wehrdienstverweigerer und Reservisten - letztere jedoch in wesentlich geringerer Anzahl - werden an die Front geschickt (vgl. EASO, Syria, Military Service, April 2021, S. 23 ff.). Ein erkennbares System der Bestrafung von Wehrdienstentziehung durch eine sog. "Frontbewährung" und der damit verbundenen gezielten Verletzung oder Tötung kann nicht festgestellt werden (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 95; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 37; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 - juris Rn. 29; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. März 2021 - 14 A 3439/18.A - juris Rn. 89). Der gegenteiligen Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (vgl. Urteil vom 29. Januar 2021 - OVG 3 B 68.18 - juris, Rn. 58), die sich maßgeblich auf den genannten Bericht des UNHCR stützt, kann demnach nicht gefolgt werden.

Angesichts der vorgenannten Beurteilung kommt der allgemein gehaltenen Feststellung des UNHCR, dass unabhängige Beobachter darauf hinweisen würden, dass die Regierung Militärdienstentziehung wahrscheinlich als einen politischen, gegen die Regierung gerichteten Akt betrachte (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR’s Country Guidance on Syria, 7. Mai 2020, S. 9; vgl. nunmehr auch UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 124), keine maßgebende Bedeutung zu (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 23. Juni 2021 - 21 B 19.33586 - BeckRS 2021, 22540, Rn. 78). Zudem ist den Quellen im Bericht vom 7. Mai 2020 zu entnehmen, dass gerade nicht jeder Wehrdienstentzieher als oppositionell betrachtet wird, sondern es maßgeblich darauf ankommt, ob eine Person bereits aufgrund anderweitiger Umstände als oppositionell wahrgenommen wird (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 100 f.; Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 -2 LB 147/18 - juris Rn. 60).

(b) Eine - unterstellte - Verfolgungshandlung würde auch nicht an das Merkmal der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Hieran gemessen stellen Wehrdienstentzieher in Syrien keine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Es mangelt bereits an einer gemeinsamen "Glaubensüberzeugung", die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Vielmehr folgt Wehrdienstentziehung in Syrien einer Vielzahl von Motiven, etwa einer politischen oder ethischen Überzeugung, aber auch der Sorge um das Schicksal der Familie, dem Wunsch eines zivilen Berufs- oder Bildungswegs oder schlicht der Angst vor dem Kriegstod. Darüber hinaus hat die Gruppe der Wehrdienstentzieher auch keine deutlich abgegrenzte Identität dahingehend, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Wehrdienstentzieher in Syrien werden aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen und der vielfältigen Motivlagen nicht als fest umrissene und schon gar nicht als homogene Gruppe wahrgenommen. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Strafbarkeit der Wehrdienstentziehung nach syrischen Recht, da diese nicht unmittelbar an die Verwirklichung eines gemeinsamen unveräußerlichen Merkmals bzw. einer gemeinsamen Überzeugung anknüpft, sondern lediglich daran, dass der Betreffende dem Wehrdienst ferngeblieben ist (vgl. ausführlich Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 69 ff.; ferner vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 1. Juli 2021 - 3 L 154/18 - juris Rn. 112; Sächs. OVG, Urteil vom 21. August 2019 - 5 A 644/18.A - juris Rn. 52 f.; OVG Bremen, Urteil vom 20. Februar 2019 - 2 LB 152/18 - juris Rn. 46 f.; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 4. Mai 2018 - 2 LB 17/18 - juris Rn. 104).

c) Soweit der Kläger demnach bei einer Rückkehr nach Syrien mit einer (zwangsweisen) Einziehung zum Militärdienst rechnen muss, lässt sich aber auch hieraus kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ableiten.

Die etwaige (zwangsweise) Einziehung des Klägers zum Wehrdienst knüpft unbeschadet des Vorliegens einer Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 und 2 AsylG nicht an einen Verfolgungsgrund i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG an. Denn die Wehrpflicht in Syrien trifft alle männlichen syrischen Staatsangehörigen in gleicher Weise. Die syrische Armee rekrutiert grundsätzlich unabhängig von ethnischen oder religiösen Hintergründen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28. März 2015, S. 2; The Danish Refugee Council/Danish Immigration Service, Syria, Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015, S. 10).

d) Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt auch nicht daraus, dass der Kläger aus einem Gebiet stammt, dass derzeit nicht vom syrischen Regime kontrolliert wird.

Al-Bab, der Herkunftsort des Klägers, wurde im Jahr 2012 von Oppositionsgruppen erobert (vgl. Al Jazeera, Rebels claim victory in Syria’s al Bab, 1. August 2012). Die Stadt steht nach einer zeitweisen Besetzung durch den Islamischen Staat aktuell unter der Kontrolle von Gruppen der Syrischen Nationalen Armee, die von der Türkei unterstützt werden (siehe unter II. 1). Die Syrische Nationale Armee ist eine der größten Oppositionsgruppen im syrischen Bürgerkrieg.

Syrische Staatsangehörige haben jedoch nicht allein wegen ihrer Herkunft aus einem aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebiet ("Rebellenhochburg") mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch das syrische Regime zu befürchten (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 44; Niedersächs. OVG, Urteil vom 22. April 2021 - 2 LB 147/18 - juris Rn. 87 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - juris Rn. 43; Sächs. OVG, Urteil vom 6. Februar 2019 - 5 A 1066/17.A - juris Rn. 27 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, 26. September 2018 - 14 A 722/18.A - juris Rn. 32 ff.; Bay. VGH, Urteil vom 20. Juni 2018 - 21 B 18.30854 - juris Rn. 65 ff.; OVG Schleswig-Holstein - 4. Mai 2018 - 2 LB 17/18 - juris Rn. 82 ff.; Hamburgisches OVG, Urteil vom 11. Januar 2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 52, 54; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 - juris Rn. 160 ff.). Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen nicht die Annahme, dass das syrische Regime Betroffenen, die aus einem aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebiet stammen, eine oppositionelle bzw. regimefeindliche Einstellung zuschreibt und sie deswegen verfolgt.

Zwar werden laut UNHCR syrische Staatsangehörige, die aus Gebieten stammen, die aktuell oder ehemals unter Kontrolle der Opposition stehen bzw. standen, regelmäßig als eine solche Gruppe wahrgenommen, die eine regierungsfeindliche Einstellung hat (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 96 f.). Die Mehrzahl der sonstigen verfügbaren Quellen geht jedoch übereinstimmend davon aus, dass dies nicht der Fall ist bzw. gegenüber Personen aus aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebieten vielmehr (lediglich) ein generelles Misstrauen gehegt werde (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, 30. Juni 2021, S. 106; EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 22; The Danish Immigration Service, Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an Hess. VGH zu Az. 3 A 638/17.A bzw. 8 A 638/17, 12. Februar 2019; Finnish Immigration Service,Syria: Fact-finding mission to Beirut and Damascus, Syrian pro-government armed groups and issues related to freedom of movement, reconcilation processes and return to original place of residence in areas controlled by the Syrian government, 14. Dezember 2018, S. 41 f.). Demgemäß gibt es auch keine Berichte über flächendeckende und systematische Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Personen aus aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebieten.

Wie im Hinblick auf die Bewertung von illegaler Ausreise, Asylantragstellung und mehrjährigem Auslandsaufenthalt sowie der Entziehung vom Wehrdienst gilt auch bezüglich der Herkunft aus einem aktuellen oder ehemaligen Oppositionsgebiet, dass diese Eigenschaft von einer sehr großen Anzahl der ins Ausland geflüchteten syrischen Staatsangehörigen geteilt wird. Bei realistischer Betrachtung wird auch insoweit dem syrischen Regime bewusst sein, dass die weit überwiegende Mehrzahl dieser Personen wegen der allgemeinen Bürgerkriegssituation ausgereist ist. Gerade in diesem Zusammenhang erscheint es daher lebensfremd, dass diejenigen, die vor den Auseinandersetzungen zwischen dem Assad-Regime und Konfliktparteien in ihrer Region ins Ausland geflohen sind, sich also dem Konflikt gerade entzogen haben, aus Sicht des syrischen Regimes als Bedrohung aufgefasst werden (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 3. Januar 2020 - 5 LB 34/19 - juris Rn. 44 m.w.N.).

e) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung resultiert auch nicht aus der sunnitischen Religionszugehörigkeit bzw. kurdischen Volkszugehörigkeit des Klägers.

Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien bereits dahin bewertet, dass zum einen die sunnitische Religionszugehörigkeit nicht pauschal als Verfolgungsgrund eingestuft werden kann (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A - juris Rn. 128 ff.) und es zum anderen keine Erkenntnisse für eine Verfolgung von Kurden wegen ihrer Volkszugehörigkeit gibt (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 8 A 780/17.A - juris Rn. 28). Daran hält der Senat fest. Neuere Erkenntnisse, die eine andere Beurteilung rechtfertigen, liegen nicht vor (vgl. aus der neueren Rechtsprechung OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. Januar 2021 - 14 A 822/19.A - juris Rn. 40 ff.; zur kurdischen Volkszugehörigkeit OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26. Mai 2021 - 4 L 238/13 - juris Rn. 41 f.). Soweit es die sunnitische Religionszugehörigkeit betrifft, hat der Kläger im Übrigen auch nicht davon berichtet, aus diesem Grund Schwierigkeiten gehabt zu haben.

Eine beachtlich wahrscheinliche flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung droht dem Kläger im Hinblick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit auch nicht deshalb, weil er aus einer Stadt stammt, die von der Syrischen Nationalen Armee kontrolliert wird (vgl. hierzu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. April 2019 - 14 A 2608/18.A - juris Rn. 38 ff.). Zwar werden laut UNHCR in Gebieten, die von Gruppen gehalten werden, die mit der Syrischen Nationalen Armee verbunden sind, diesen Gruppen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten vorgeworfen, darunter etwa Erpressung, Plünderung sowie unrechtmäßige Beschlagnahme und Zerstörung von Eigentum; diese Maßnahmen richteten sich häufig gegen Personen kurdischer Herkunft (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 70 f.). Dabei handelt es sich aber allenfalls um eine größere Zahl einzelner Übergriffe, die die Voraussetzungen einer gruppengerichteten Verfolgung nicht erfüllen. Zudem ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnisquellen, dass zum einen sich die Maßnahmen der Syrischen Nationalen Armee gegen Kurden vorrangig auf die Region um Afrin, insbesondere im Nachgang der Eroberung der Stadt durch türkische Truppen im März 2018 beziehen. Zum anderen richteten sich die Maßnahmen nicht gegen sämtliche Kurden, sondern vor allem gegen solche, die als Unterstützer der kurdischen Selbstverwaltung gelten und Verbindungen zur kurdisch-syrischen Partei PYD (Partei der Demokratischen Union) und deren bewaffnetem Flügel, den kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG), haben (vgl. EASO, Syria, Targeting of individuals, März 2020, S. 58 ff.; UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic - Update VI, März 2021, S. 142 Fn. 675). Aus dem Vortrag des Klägers ergeben sich indes keine Anhaltspunkte dafür, dass er zu dieser Risikogruppe gehört.

f) Schließlich folgt auch aus einer umfassenden Gesamtabwägung sämtlicher zuvor aufgezeigter Umstände nicht, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat droht. Bei lebensnaher Betrachtung muss sich dem syrischen Regime aufdrängen, dass es sich bei dem Kläger ersichtlich nicht um einen tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen oder Regimegegner handelt, sondern er - wie Millionen andere - vor den Bürgerkriegswirren und den damit einhergehenden Konflikten sowie der allgemein schwierigen Lebenssituation in Syrien geflohen ist. In seinem Einzelfall sind für den Senat auch im Rahmen einer Gesamtschau jedenfalls keine hinreichend besonderen, individuell gefahrerhöhenden Umstände erkennbar, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Revision durch den Senat liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).