ArbG Aachen, Urteil vom 29.09.2020 - 4 Ca 1425/20
Fundstelle
openJur 2021, 299
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • nachfolgend: Az. 2 Sa 1184/20

Einzelfallentscheidung zum Verhältnis mehrerer Tarifverträge im Zusammenhang mit der Überleitung von Arbeitsverhältnissen durch einen Betriebsübergang und zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Überleitungstarifverträge

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

3. Der Rechtsmittelstreitwert beträgt 16.163,90 €.

4. Die Berufung wird gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die richtige tarifliche Eingruppierung des Klägers und über eine tarifliche Sonderzahlung.

Der Kläger trat am 15.08.2011 als Zusteller in die Dienste der Beklagten ein. Er war in die Entgeltgruppe 3, Gruppenstufe 1 des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Entgelttarifvertrags für Arbeitnehmer der F. (nachfolgend: "ETV") eingruppiert. Ab dem 30.03.2015 arbeitete der Kläger - entweder nach Ende eines kurz zuvor beendeten befristeten Arbeitsvertrages mit der Beklagten oder in Folge eines Betriebsübergangs - für die E. (nachfolgend: "E."). Die E. wurde am 08.07.2019 auf die Beklagte verschmolzen. So kam es zu einem Übergang des Arbeitsverhältnisses von der E. auf die Beklagte. Der Kläger war in dem gesamten Zeitraum seit dem 15.08.2011 aufgrund verschiedener zunächst befristeter Arbeitsverträge als Brief- bzw. Paketzusteller tätig.

Der zuletzt geltende schriftliche Arbeitsvertrag vom 03.02.2015 enthält folgende Bezugnahmeklausel:

Auf das Arbeitsverhältnis sind zwecks Gleichstellung der Beschäftigten und für die Dauer der normativen Tarifbindung der Arbeitgeberin die für den Betrieb jeweils einschlägigen Tarifverträge anzuwenden [...].

Bei der E. bezog der Kläger zuletzt ein monatliches Bruttogehalt von 2.250,83 € zuzüglich Zulagen bei Eingruppierung in die Tarifgruppe LG 3 des auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Lohntarifvertrags für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Speditions-, Logistik- und Transportwirtschaft Nordrhein-Westfalen.

Nach dem Betriebsübergang 2019 wurde der Kläger in die Entgeltgruppe 3, Gruppenstufe 0 ETV eingruppiert. Der ETV findet auf das Arbeitsverhältnis wiederum Anwendung. Der Kläger bezog nunmehr ein monatliches Bruttogrundgehalt von 2.284,39 €. Die Beklagte gewährte dem Kläger außerdem unter anderem eine Ausgleichszahlung gemäß § 12 Abs. 1 des Tarifvertrags zur Überleitung der tariflichen Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse der E. Regionalgesellschaften in die F. (TV-W.) (nachfolgend: "TV-W.") in Höhe von 36,03 € brutto pro Monat, so dass der Kläger im Ergebnis nach dem Betriebsübergang auch unter Berücksichtigung der Zulagen bei der E. nicht weniger verdiente als zuvor. Auch der TV-W findet auf das Arbeitsverhältnis Anwendung.

§ 9 Abs. 1 TV-W (Zuordnung zur Gruppenstufe) lautet:

Die Zuordnung zur Gruppenstufe innerhalb der Entgeltgruppe gemäß § 4 Absatz 1 Buchstabe b) des ETV erfolgt anhand des bisherigen Bruttojahresbezugsentgelts (alt) wie folgt:

a) Liegt das Bruttojahresbezugsentgelt (alt) unter dem Bruttojahresbezugsentgelt (neu) der Gruppenstufe 0 der jeweiligen Entgeltgruppe gemäß ETV, erfolgt die Zuordnung in die Gruppenstufe 0.

b) Liegt das Bruttojahresbezugsentgelt (alt) unter dem Bruttojahresbezugsentgelt (neu) der Gruppenstufe 0 der jeweiligen Entgeltgruppe gemäß ETV und liegt das / der bisherige Monatsentgelt / Monatslohn / Monatsgehalt über dem Monatsgrundentgelt der Gruppenstufe 1 gemäß ETV, erfolgt die Zuordnung in die Gruppenstufe 1.

c) Liegt das Bruttojahresbezugsentgelt (alt) über dem Bruttojahresbezugsentgelt (neu) der Gruppenstufe 0 der jeweiligen Entgeltgruppe gemäß ETV, erfolgt die Zuordnung in die Gruppenstufe, bei der das Monatsgrundentgelt (neu) gemäß § 2 ETV am nächsten unter dem tariflichen Monatslohn (alt) gem. § 4 Absatz 2 liegt.

Die für die erstmalige Zuordnung zur Gruppenstufe erforderlichen Tätigkeitsjahre in der Entgeltgruppe gelten als erbracht. Die bei einer E. Regionalgesellschaft erbrachten Tätigkeitsjahre bleiben unberücksichtigt.

§ 9 Abs. 2 und 3 TV-W definiert das jeweils maßgebliche Bruttojahresbezugsentgelt alt / neu für den in Abs. 1 vorgesehenen Entgeltvergleich. Berücksichtigung finden insoweit neben dem jeweiligen Grundgehalt auch die dem Kläger gewährten monatlichen Zulagen bei der E. (Abs. 2), jedoch auch das Urlaubsgeld gemäß § 7 ETV und das 13. Monatsentgelt gemäß § 8 ETV (Abs. 3).

Der zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs 2019 auf die Beklagte geltende § 4 Abs. 1 ETV lautete:

Die Zuordnung des Arbeitnehmers zu Gruppenstufen innerhalb der Entgeltgruppe erfolgt nach den in dieser Entgeltgruppe seit dem Eingruppierungsanspruch erbrachten Tätigkeitsjahren.

a) Der Arbeitnehmer, der am 30. Juni 2019 bereits und am 1. Juli 2019 noch in einem Arbeitsverhältnis zur E. stand, wird folgenden Gruppenstufen in der jeweiligen Entgeltgruppe zugeordnet:

im 1. und 2. Jahr Gruppenstufe 0

ab dem 3. Jahr Gruppenstufe 1

ab dem 5. Jahr Gruppenstufe 2

ab dem 7. Jahr Gruppenstufe 3

ab dem 9. Jahr Gruppenstufe 4

ab dem 11. Jahr Gruppenstufe 5

[...]

Arbeitnehmern (mit Ausnahme der Entgeltgruppe 1 ETV), die am 31. Oktober 2011 bereits und am 1. November 2011 noch in einem Arbeitsverhältnis zur E. standen, wurden zwei zusätzliche Tätigkeitsjahre für die Zuordnung zu Gruppenstufen anerkannt. [...]

b) Der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach dem 30. Juni 2019 neu begründet wird, wird folgenden Gruppenstufen in der jeweiligen Entgeltgruppe zugeordnet:

im 1. bis 4. Jahr Gruppenstufe 0

ab dem 5. Jahr Gruppenstufe 1

ab dem 9. Jahr Gruppenstufe 2

ab dem 13. Jahr Gruppenstufe 3

[...]

Der Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis nach dem 30. Juni 2019 neu begründet wurde und der am 30. Juni 2019 bereits in einem Arbeitsverhältnis zur E. stand, bleibt mit Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses bei Eingruppierung in der gleichen Entgeltgruppe in der Gruppenstufe des bisherigen Arbeitsverhältnis zugeordnet, wenn sich das neue Arbeitsverhältnis innerhalb von 24 Monaten nach Ende des am 30. Juni 2019 bestehenden Arbeitsverhältnisses anschließt. War der Arbeitnehmer bereits am 30. Juni 2019 in der Gruppenstufe 1 oder höher, erfolgt die Zuordnung im neu begründeten Arbeitsverhältnis in die gleiche Gruppenstufe; die für diese Gruppenstufe erforderlichen Tätigkeitsjahre gelten als erbracht.

Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Eingruppierung des Klägers in die Entgeltgruppe 3 ETV korrekt ist. Auch ist unstreitig, dass bei einem reinen Bruttoentgeltvergleich gemäß § 9 Abs. 1 TV-W (Vergleich zwischen dem letzten Gehalt bei der E. und dem neuen Gehalt bei der Beklagten nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 und 3 TV-W) die Stufenzuordnung des Klägers zur Gruppenstufe 0 nicht zu beanstanden wäre.

Auf das Arbeitsverhältnis findet weiterhin der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der F. (nachfolgend: "MTV") Anwendung. § 17 MTV sieht vor, dass als sog. Q. die bei der F. in einem Arbeitsverhältnis zurückgelegte Zeit zu berücksichtigen ist, auch wenn sie unterbrochen ist. Als Q. gilt auch diejenige Zeit, die bei Unternehmen, Dienststellen oder Einrichtungen zurückgelegt wurde, die im Ganzen oder in geschlossenen Teilen von der F. übernommen wurden.

Der Kläger ist der Ansicht, dass er in die Entgeltgruppe 3, Gruppenstufe 5 ETV einzugruppieren ist. Dies ergebe sich aus der Anrechnungsregelung aller Vordienstzeiten im Konzern in § 17 MTV in Verbindung mit § 4 Abs. 1 a) ETV. Außerdem seien aufgrund des am 31.10.2011 und am 01.11.2011 mit der Beklagten bestehenden Arbeitsverhältnisses gemäß § 4 Abs. 1 a) ETV zwei zusätzliche Tätigkeitsjahre für die Zuordnung zur Gruppenstufe anzuerkennen ("künstliche Alterung"), so dass sich im Ergebnis elf Tätigkeitsjahre ergäben. Dies entspreche der Gruppenstufe 5. Es sei im Zusammenhang mit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Beklagte kein Fall von § 9 Abs. 1 TV-W gegeben, sondern seine Eingruppierung habe unabhängig davon aufgrund von § 4 Abs. 1 a) ETV zu erfolgen. Das Arbeitsverhältnis sei mit dem Betriebsübergang 2019 auch nicht im Sinne von § 4 Abs. 1 b) ETV neu begründet worden.

Außerdem ist der Kläger der Auffassung, dass er im Jahr 2019 Anspruch auf ein ungekürztes 13. Monatseinkommen gemäß § 8 Abs. 1 ETV habe. Da die Beklagte insoweit nur eine Zahlung von 1.158,77 € brutto geleistet habe, sei ihm die Differenz von 1.532,06 € brutto nachzuzahlen. Auch wenn § 8 Abs. 1 ETV als Anspruchsvoraussetzung vorsehe, dass das Arbeitsverhältnis bereits seit dem 1. Juli des Jahres ununterbrochen bestanden haben müsse, ergebe sich ein ungekürzter Anspruch auf das 13. Gehalt aus der Anerkennung der vorherigen Tätigkeit bei der E. gemäß § 3 TV-W.

Nachdem die Beklagte auf eine außergerichtliche Aufforderung vom 21.10.2019 zur Korrektur der Stufenzuordnung und zur Nachzahlung der der Höhe nach unstreitigen Gehaltsdifferenzen abschlägig reagierte, hat der Kläger die Klage erhoben. Die Klage ist am 28.04.2020 anhängig und am 06.05.2020 rechtshängig geworden.

Der Kläger beantragt,

1) die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.064,40 € brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 406,44 € brutto seit dem 01.08.2019, 02.09.2019, 01.10.2019, 04.11.2019, 02.12.2019, 02.01.2020, 03.02.2020, 02.03.2020, 01.04.2020 und 04.05.2020 zu zahlen,

2) festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab dem 01.05.2020 ein Grundentgelt nach der Entgeltgruppe 3, Gruppenstufe 5 des ETV zu zahlen,

3) die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.532,06 € brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.12.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass die Stufenzuordnung des Klägers nicht zu beanstanden ist. Die vorherigen Dienstzeiten im Konzern seien generell für die Stufenzuordnung nicht zu berücksichtigen. Die Gruppenstufenzuordnung erfolge ausschließlich aufgrund eines Vergleichs des Bruttojahresbezugsentgelts gemäß § 9 Abs. 1 TV-W. Die bei der E. erbrachten Tätigkeitsjahre blieben gemäß § 9 Abs. 1 TV-W unberücksichtigt. Dasselbe gelte für Vorbeschäftigungszeiten bei der Beklagten. § 4 Abs. 1 a) ETV sei insgesamt für die Stufenzuordnung nicht relevant. Denn die spezielle Regelung in § 9 Abs. 1 TV-W sehe vor, dass die Stufenzuordnung nach den dortigen Regelungen in Verbindung mit § 4 Abs. 1 b) ETV erfolge. Dementsprechend sei auch die Regelung zur "künstlichen Alterung" in § 4 Abs. 1 a) ETV nicht auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anwendbar. Die Stufenzuordnung für alle im Zusammenhang mit der Verschmelzung übergeleiteten Arbeitnehmer sei in § 9 Abs. 1 TV-W geregelt, der einen Rechtsfolgenverweis auf § 4 Abs. 1 b) ETV enthalte. Insoweit seien die Tarifvertragsparteien übereingekommen, dass diese Art der Stufenzuordnung eine Gegenleistung für die Eingliederung der Arbeitnehmer der verschiedenen E. in die Beklagte war. § 4 Abs. 1 b) ETV sehe eine Anrechnungsregelung für Vorbeschäftigungszeiten überdies nur für den Fall vor, dass das vorherige Arbeitsverhältnis nach dem 30.06.2019 beendet wurde und dass die Unterbrechung höchstens 24 Monate betrug. Dieser Fall sei nicht gegeben. Im Umkehrschluss folge daraus, dass in anderen Fällen eine Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten nicht stattfinde.

Etwas anderes folge auch nicht aus der Anrechnungsregelung in § 17 MTV. Die dort geregelte Q. sei für die Entgeltfindung ohne Bedeutung, sondern nur für andere Themen wie z. B. für die Länge des Erholungsurlaubs relevant. Auch die Anrechnungsregelung zur Betriebszugehörigkeit in § 3 TV-W beziehe sich ausdrücklich nur auf die Q. und sei ohne Bedeutung für die Bemessung des Entgelts.

Die Beklagte tritt dem Anspruch auf ein volles 13. Gehalt im Jahr 2019 mit der Begründung entgegen, dass § 14 Abs. 1 Satz 2 TV-W insoweit eine abschließende und spezielle Sonderregelung enthalte. Ein volles 13. Monatseinkommen könnten die übergeleiteten Arbeitnehmer danach erst nach einem zwölfmonatigen Bestand des Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten beanspruchen. Die im Dezember 2019 geleistete Zahlung sei eine besondere Ausgleichszahlung gemäß § 14 Abs. 2 TV-W.

Den im Kammertermin am 29.09.2020 geschlossenen Vergleich hat der Kläger fristgerecht widerrufen. Die von den Parteien nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsätze hat die Kammer zur Kenntnis genommen, jedoch gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, §§ 495, 296a Satz 1 ZPO nicht berücksichtigt, soweit sie Angriffs- und Verteidigungsmittel enthielten. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien sowie auf die Protokolle von Güte- und Kammertermin verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

I. Der Kläger hat für den Klageantrag zu 2) ein Feststellungsinteresse im Sinne der § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, §§ 495, 256 Abs. 1 ZPO und ist nicht auf den Vorrang der Leistungsklage zu verweisen. Es handelt sich um eine zulässige Eingruppierungsfeststellungsklage, da der zwischen den Parteien bestehende Streit über die richtige Stufenzuordnung des Klägers mit diesem Antrag endgültig geklärt werden kann (vgl. BAG 09.12.2009 - 4 AZR 495/08, Rn. 22; BAG 25.01.2006 - 4 AZR 613/04, Rn. 13).

II. Die aktuelle Stufenzuordnung des Klägers ist rechtlich nicht zu beanstanden. Dies ergibt sich aus § 9 Abs. 1 TV-W in Verbindung mit § 4 Abs. 1 b) ETV. Diese auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren und wirksamen tarifvertraglichen Vorschriften regeln abschließend und speziell die Stufenzuordnung nach Überleitung des Arbeitsverhältnisses von der E. zu der Beklagten. Daher hat der Kläger weder einen Anspruch auf Feststellung der Eingruppierung in die Gruppenstufe 5 noch auf eine Nachzahlung von Gehaltsdifferenzen und Zinsen.

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt (BAG 19.06.2018 - 9 AZR 564/17, Rn. 17 m.w.N).

In Anwendung dieser Maßstäbe legt die Kammer die auf das Arbeitsverhältnis jedenfalls kraft der Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag anwendbaren, hier relevanten drei Haustarifverträge wie folgt aus: Die Tarifverträge ergänzen sich. § 17 MTV enthält eine allgemeine Regelung zur Anerkennung von Betriebszugehörigkeitszeiten. Gegenüber dem Manteltarifvertrag ist der ETV, der das Entgelt regelt, jedoch spezieller (zum Vorrang des spezielleren Tarifvertrags etwa BAG 18.09.2019 - 5 AZR 335/18, Rn. 30; BAG 16.11.2011 − 4 AZR 856/09, Rn. 42). Die in § 17 MTV geregelte Q. hat für die Entgeltbemessung keine Bedeutung. § 4 ETV enthält ein eigenständiges System mit einer differenzierten Regelung zur Anerkennung bzw. Nichtanerkennung von Vorbeschäftigungszeiten. Wiederum spezieller im Verhältnis zu der allgemeinen Regelung in § 4 ETV ist § 9 TV-W. Dieser regelt für den besonderen Fall der Überleitung der Arbeitsverhältnisse im Rahmen der Verschmelzung 2019 die Entgeltbemessung für die übergeleiteten Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang. Es handelt sich insofern nicht um eine Tarifkonkurrenz, sondern um eine übliche Geltung mehrerer, sich ergänzender Tarifverträge. Und selbst wenn es sich hier um einen Fall der Tarifkonkurrenz handelte, wäre diese nach dem Grundsatz der Spezialität mit demselben Ergebnis aufzulösen (vgl. BAG 23.01.2008 - 4 AZR 312/01, Rn. 31).

§ 9 Abs. 1 TV-W verweist (allein) auf § 4 Abs. 1 b) ETV. Die Tarifvertragsparteien haben insofern alle von den E. übergeleiteten, tariflich vergüteten Arbeitnehmer solchen Arbeitnehmern gleichgestellt, die neu bei der Beklagten eintreten, und die Stufenzuordnung im Übrigen allein anhand des Entgeltvergleichs nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 und 3 TV-W geregelt. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob § 9 Abs. 1 TV-W einen Rechtsfolgen- oder einen Rechtsgrundverweis auf § 4 Abs. 1 b) ETV enthält.

Der Hinweis in § 9 Abs. 1 TV-W auf die Nichtanerkennung von Vorbeschäftigungszeiten bei der E. bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass Vorbeschäftigungszeiten bei der Beklagten anzuerkennen wären. Dieser Hinweis ist ohnehin nur klarstellend, da die Vorbeschäftigungszeiten für die Entgeltfindung nach dem System des § 9 TV-W generell keine Bedeutung haben, sondern maßgeblich allein der dort vorgesehene Entgeltvergleich ist.

Dieses Ergebnis tragen sowohl der - nach Auffassung der Kammer eindeutige - Wortlaut der drei Tarifverträge als auch der Sinn und Zweck der Überleitungsregelung in § 9 TV-W. Die Kammer verkennt nicht, dass - gerade in Fällen wie demjenigen des Klägers - die Stufenzuordnung nach dem Betriebsübergang als unbillig empfunden werden kann. Der Kläger hat neun Jahre im Konzern dieselbe Tätigkeit erbracht, wird jedoch fast genauso vergütet wie ein von der Beklagten neu eingestellter Arbeitnehmer. Kollegen, die zugleich mit dem Kläger bei der Beklagten zu arbeiten begannen und zwischenzeitlich nicht zu einer E. wechselten, werden so vergütet wie von dem Kläger für sich begehrt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass nur das zwischen den Tarifvertragsparteien mit § 9 TV-W vereinbarte System des Bruttoentgeltvergleichs aufgrund des unterschiedlichen Tarifniveaus bei den E. und bei der Beklagten einen sprunghaften Anstieg der Personalkosten durch die Überleitung zahlreicher Arbeitsverhältnisse von den E. zu der Beklagten verhinderte. Es ist nachvollziehbar, dass die Beklagte - wie von ihr unwidersprochen vorgetragen - nur deshalb dazu bereit war, das teilweise Outsourcing des Zustellbetriebs rückgängig zu machen, weil ein sprunghafter Anstieg der Personalkosten durch den Wechsel des Tarifsystems der vormaligen E.-Arbeitnehmer nicht stattfand. Auch ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Kläger durch den Betriebsübergang keine finanziellen Nachteile erlitt.

2. § 9 Abs. 1 TV-W ist auch nicht aufgrund eines Verstoßes gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz oder den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 1 GG) unwirksam, weil die übergeleiteten Arbeitnehmer (auch solche mit Vorbeschäftigungszeiten bei der Beklagten) mit neu eintretenden Arbeitnehmern im Wesentlichen gleichbehandelt werden.

Für Tarifverträge gilt der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz schon dem Grunde nach nicht (BAG 21.05.2014 - 4 AZR 50/13, Rn. 29 ff.). Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes gilt für die Tarifvertragsparteien nicht unmittelbar, ist allerdings von den Gerichten für Arbeitssachen bei der Auslegung von Tarifverträgen zu berücksichtigen (BAG 19.12.2019 - 6 AZR 563/18, Rn. 19 ff.). Bei der Prüfung von Tarifverträgen ist indes aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten kollektiven Koalitionsfreiheit Zurückhaltung geboten. Den Tarifvertragsparteien steht bei ihrer Normsetzung ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die Gerichte dürfen nicht eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle von Bewertungen der zuständigen Koalitionen setzen. Die Tarifvertragsparteien sind nicht dazu verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu werden. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt (BAG 19.12.2019 - 6 AZR 563/18, Rn. 26 m.w.MTV).

Unter Anlegung dieses Prüfungsmaßstabs sieht die Kammer es als vertretbar an, dass die Tarifvertragsparteien die Überleitung einer Vielzahl von Arbeitnehmern in ein neues Tarifsystem bei Rückgängigmachung eines teilweisen Outsourcings zum Anlass nahmen, einen reinen Bruttoentgeltvergleich zwischen der alten und der neuen Vergütung vorzunehmen und vorherige Betriebszugehörigkeitszeiten bei der Gruppenstufenzuordnung vollständig auszublenden. Die Vermeidung des sprunghaften Anstiegs der Personalkosten ist ein sachlicher Grund für eine derartige differenzierende Lösung, zumal die Beklagte ansonsten womöglich gar nicht dazu bereit gewesen wäre, das teilweise Outsourcing des Zustellbetriebs rückgängig zu machen. Finanzielle Verschlechterungen einzelner Arbeitnehmer wurden durch die verschiedenen Regelungen des TV-W überdies ausgeschlossen.

3. Selbst wenn man die Stufenzuordnung des Klägers unter vollständiger Ausblendung von § 9 TV-W allein nach § 4 Abs. 1 ETV vornähme, ergäbe sich kein anderes Ergebnis.

Anwendungsvoraussetzung für eine Stufenzuordnung gemäß § 4 Abs. 1 a) ETV wäre, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Beklagten sowohl am 30.06.2019 als auch am 01.07.2019 bestand. An beiden Tagen stand der Kläger jedoch in keinem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten.

Wendete man allein § 4 Abs. 1 b) ETV an, wäre Voraussetzung für die Anerkennung von Vorbeschäftigungszeiten, dass am 30.06.2019 ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten bestand. Das war jedoch nicht der Fall.

Die im Januar 2019 geltende Fassung von § 4 Abs. 1 ETV hat entgegen der Auffassung des Klägers für die Stufenzuordnung keine rechtliche Bedeutung. Die im Kammertermin im mündlichen Vortrag geäußerten Rechtsausführungen zur Eingruppierung des Klägers bei Austritt im Jahr 2015, einer vierjährigen Tätigkeit außerhalb des Konzerns und einer Rückkehr im Juli 2019 kann die Kammer insofern nicht teilen.

III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein volles 13. Monatsgehalt im Jahr 2019.

Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 TV-W haben die übergeleiteten Arbeitnehmer - wie der Kläger - erst nach Vollendung einer ununterbrochenen Beschäftigung von zwölf Monaten bei der Beklagten ab dem Tag der Überleitung einen Anspruch auf das 13. Monatsgehalt gemäß § 8 ETV. Im Jahr 2019 erfüllte der Kläger diese Anspruchsvoraussetzung nicht, da die Überleitung sich erstmals am 08.07.2020 jährte. § 14 TV-W ist gegenüber § 8 ETV die insoweit speziellere Regelung (zu den Maßstäben und dem Verhältnis von ETV und TV-W im Einzelnen oben II. 1.).

Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist insofern ebenfalls nicht gegeben, da ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung mit den bei der Beklagten bereits vorhandenen Arbeitnehmern vorlag. Auch insoweit war es vertretbar, dass die Tarifvertragsparteien eine - überdies nur befristet anwendbare - Sonderregelung für die übergeleiteten Arbeitnehmer trafen und sie auch hinsichtlich des 13. Gehalts nur schrittweise in das Tarifsystem der Beklagten überführten.

Einwendungen gegen die Höhe der Sonder- bzw. Ausgleichszahlung gemäß § 14 Abs. 2 TV-W hat der Kläger nicht erhoben.

IV. Der Rechtsmittelstreitwert wurde gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO unter Beachtung der Grundsätze des § 42 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GKG mit dem 36-fachen monatlichen Unterschiedsbetrag zwischen den beiden Gruppenstufen zuzüglich der geltend gemachten Sonderzahlung im Urteil festgesetzt.

V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, § 91 ZPO. Der Kläger hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

VI. Die Berufung war gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2 b) ArbGG gesondert zuzulassen, da die Parteien über die Auslegung von Tarifverträgen, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Arbeitsgerichts Aachen hinaus erstreckt, streiten.

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