BayObLG, Beschluss vom 08.12.2020 - 202 StRR 123/20
Fundstelle
openJur 2020, 79808
  • Rkr:
Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 06.07.2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 17.02.2020 wegen vorsätzlicher Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung in 4 tateinheitlichen Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit Urteil vom 06.07.2020 verwarf das Landgericht die jeweils auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft als unbegründet. Mit seiner gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.

II.

Die statthafte (§ 333 StPO) sowie nach §§ 341 Abs. 1, 344, 345 StPO form- und fristgerecht eingelegte Revision hat - zumindest vorläufig - Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Der Rechtsfolgenausspruch, über den die Berufungskammer aufgrund der wirksamen Berufungsbeschränkungen allein zu befinden hatte, ist in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

1. Bereits die Strafrahmenbestimmung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach § 46a Nr. 1 StGB weist die Berufungskammer zwar zutreffend auf die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geforderten Prämissen hin, meint aber, dass es am Erfordernis eines kommunikativen Prozesses fehle, ohne eine nachvollziehbare Begründung hierfür zu liefern. Nach den bisherigen Feststellungen können die Voraussetzungen des gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrundes aus § 46a Nr. 1 StGB jedenfalls nicht abgelehnt werden.

b) Darüber hinaus verneint die Strafkammer ohne Begründung die Voraussetzungen einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB und zieht daher - aus ihrer Sicht konsequent - eine mögliche Strafrahmenverschiebung nach § 21, 49 Abs. 1 StGB nicht in Erwägung.

aa) Das Berufungsurteil legt einen Blutalkoholgehalt von "mindestens" 1,67 Promille zugrunde und verstößt damit gegen den Zweifelssatz. Denn bei der Frage nach der Blutalkoholkonzentration (BAK), deren Höhe die Schuld beeinflusst, kann nicht auf einen Mindestwert abgestellt werden, sondern es kommt auf den tatsächlichen Wert an. Auch wenn es keinen gesicherten Erfahrungssatz dazu gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten BAK zur Tatzeit vom Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der im Einzelfall festzustellende Wert jedoch ein relevantes Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Der Blutalkoholgehalt zeigt nämlich immerhin die aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit (vgl. nur BGH, Beschluss vom 28.07.2020 - 2 StR 229/20 bei juris; Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 = NStZ-RR 2016, 103 = StraFo 2016, 159 = BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 6 = BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 44 m.w.N.). Bei einer starken Alkoholisierung lässt sich eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen dafürsprechen, dass das Hemmungsvermögen des Täters zur Tatzeit erhalten geblieben war (BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 a.a.O.).

bb) Aufgrund der lückenhaften Beweiswürdigung zum festgestellten "Mindest"-Alkoholwert bleibt außerdem gänzlich offen, wie die Berufungskammer hierzu gelangt. Sollte eine Blutentnahme erfolgt sein, deren Auswertung zu diesem Blutalkoholgehalt geführt hat, hätte eine Rückrechnung auf den Tatzeitpunkt stattfinden müssen, wobei nach dem Grundsatz in dubio pro reo ein stündlicher Abbauwert von 0,2 Promille und zusätzlich ein einmaliger Sicherheitszuschlag in Höhe von 0,2 Promille zugrunde zu legen wären (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 04.02.2020 - 5 StR 677/19 bei juris).

2. Aber auch die Strafzumessung im engeren Sinne weist Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

a) Die Berufungskammer legt dem Angeklagten unter anderem "Vorstrafen" zur Last, obwohl er ausweislich der Urteilsfeststellungen nicht vorbestraft ist.

aa) Soweit es um die im Berufungsurteil wiedergegebenen Eintragungen im Bundeszentralregister unter Nummern 1. und 4. geht, handelt es sich weder um Vorstrafen noch um jugendgerichtliche Ahndungen. Ausweislich der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen hatten das Amtsgericht im Jahr 2012 ein Verfahren wegen eines Diebstahls nach § 47 JGG gegen Erbringung von Arbeitsleistungen eingestellt und die Staatsanwaltschaft im Jahr 2015 von der Verfolgung einer Unterschlagung nach § 45 JGG abgesehen. Mit der jeweiligen Verfahrensweise war keine Feststellung der Schuld verbunden (BGH, Beschluss vom 13.12.2018 - 3 StR 386/18 = NStZ 2019, 400 = BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 35 m.w.N.). Dem Tatgericht ist es zwar nicht prinzipiell verwehrt, strafschärfend zu werten, dass der Angeklagte bei Tatbegehung durch eingestellte Verfahren gewarnt war (BGH a.a.O.). Eine bloße Berücksichtigung einer solchen Warnwirkung lässt sich dem Urteil aber gerade nicht entnehmen.

bb) Auch die Vorahndungen gemäß den Nummern 2. und 3. des Bundeszentralregisterauszugs stellen - entgegen der Annahme der Berufungskammer - keine "Vorstrafen" dar, denn es wurden lediglich Erziehungsmaßregeln sowie zusätzlich ein Zuchtmittel in Form des Jugendarrestes verhängt. Diese können zwar im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden, der Tatrichter muss sich aber bewusst sein, dass es sich dabei nicht um Vorstrafen, denen ein stärkeres Gewicht zukommt, handelt.

b) Die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen von jeweils 2 Monaten in den Fällen II. 1. und 3. des amtsgerichtlichen Urteils, ohne - wie es § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO vorschreibt - in den Urteilsgründen die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB zu erörtern, ist ebenfalls rechtsfehlerhaft. Die Festsetzung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat regelmäßig nur Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (§ 47 Abs. 1 StGB) und dies in den Urteilsgründen dargestellt wird (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 10.06.2020 - 3 StR 135/20 = NStZ-RR 2020, 273 m.w.N.). Die gleichzeitige Verurteilung des Angeklagten zu einer hohen Freiheitsstrafe macht die Erörterung nicht entbehrlich; die Prüfung ist vielmehr für jede einzelne Tat vorzunehmen (BGH a.a.O.). Ein Beruhen des Urteils auf diesem Erörterungsmangel im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO kann schon mit Blick darauf, dass der Angeklagte nicht vorbestraft war, nicht ausgeschlossen werden.

3. Schließlich ist die Begründung zur Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung ebenfalls mit Rechtsfehlern behaftet.

a) Die Berufungskammer hat sich bereits nicht fehlerfrei mit der Frage auseinandergesetzt, ob dem Angeklagten eine günstige Kriminalprognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB gestellt werden kann. Sie hat vielmehr sogleich die Vorschrift des § 56 Abs. 2 StGB erörtert und dabei außer Acht gelassen, dass eine günstige Prognose auch für die Frage, ob besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, von maßgeblicher Bedeutung sein kann (st.Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 28.06.2018 - 1 StR 171/18 = StV 2019, 559 m.w.N.). Das Berufungsurteil erwähnt lediglich nebenbei, dass der Angeklagte zwar sozial eingebunden lebe und eine feste Arbeit habe. Diese Gesichtspunkte, die sowohl im Rahmen des § 56 Abs. 1 StGB, aber auch bei § 56 Abs. 2 StGB relevant sein können, werden aber von der Strafkammer mit dem Hinweis relativiert, dass "diese Situation bereits zum Zeitpunkt der Begehung der Taten bestanden" habe, was nicht tragfähig ist. Denn der Umstand, dass für den Angeklagten sprechende Gesichtspunkte auch schon im Zeitpunkt der Tat vorgelegen haben, vermag diesen keineswegs ein geringeres Gewicht zu verleihen.

b) Auch ansonsten sind die Ausführungen zu § 56 Abs. 2 StGB im Berufungsurteil rechtsfehlerhaft. Die Strafkammer verneint allein unter Hinweis auf den Unrechts- und Schuldgehalt der gefährlichen Körperverletzung das Vorliegen besonderer Umstände, ohne eine Reihe von relevanten Aspekten, die sich nach den Urteilsfeststellungen geradezu aufdrängen, zu berücksichtigen und in eine Gesamtabwägung (vgl. hierzu nur BGH, Beschluss vom 30.04.2019 - 2 StR 545/18 = NStZ-RR 2019, 242 = StraFo 2019, 338 = StV 2019, 734 = BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 35) einzustellen. Es bleibt insbesondere außer Acht, dass der Angeklagte geständig ist und nicht vorbestraft, sondern lediglich geringfügig nach Jugendstrafrecht vorgeahndet war. In die Überlegungen wurde weiterhin nicht eingestellt, dass der Angeklagte an den Verletzten im Fall II. 2. des amtsgerichtlichen Urteils einen Vorschuss in Höhe von 3.000 Euro als Schmerzensgeld gezahlt und sich zu weiteren Leistungen bereit erklärt hat. Auch die Verbüßung von Untersuchungshaft im vorliegenden Verfahren hat die Berufungskammer im Rahmen des § 56 Abs. 2 StGB ebenso wenig bedacht wie die durch die Alkoholisierung bedingte, gegebenenfalls auch erhebliche Enthemmung des Angeklagten.

III.

Wegen der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist das Urteil des Landgerichts mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).