OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.12.2020 - 20 B 1958/20
Fundstelle
openJur 2020, 79476
  • Rkr:
Verfahrensgang

Ein behördliches Einschreiten auf der Grundlage von § 16a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Nr. 1 TierSchG zur Verhinderung künftiger Verstöße kommt in Betracht, wenn bei ungehindertem Fortgang des Geschehens ein Verstoß gegen tierschutzrechtliche Bestimmungen hinreichend wahrscheinlich im Sinne einer ordnungsrechtlichen Gefahr ist. Dabei reicht eine abstrakte Gefahr nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefahr.

Verbleiben auf der Grundlage einer allein vorhandenen allgemeinen Erkenntnislage über den Zielstaat erheblichen Unwägbarkeiten und Ungewissheiten hinsichtlich des konkreten Umgangs mit den zu transportierenden Rindern nach Beendigung des Transports, ermächtigt dies die zuständige Tierschutzbehörde nicht dazu, faktisch in der Art einer Beweislastumkehr oder einer Regelvermutung Verstöße als genügend wahrscheinlich zu unterstellen und dem Transporteur den Nachweis aufzubürden, dass es nicht zu Zuwiderhandlungen gegen Anforderungen des Tierschutzgesetzes kommen wird.

Die Annahme einer fortdauernden Verantwortlichkeit eines Transporteurs wegen des Transports und/oder früherer Haltung/Betreuung von Rindern nach Abschluss des Transports im Zielstaat begegnet zumindest dann erheblichen Bedenken, wenn die Rinder nicht sofort im Anschluss an den Transport tierschutzwidrig behandelt werden.

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 6700/20 VG Köln gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 8. Dezember 2020 wird bezogen auf Punkt I. des Bescheides wiederhergestellt und bezogen auf Punkt II. des Bescheides angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Der Streitwert beträgt auch im Beschwerdeverfahren 50.000,00 Euro.

Gründe

Die Beschwerde mit dem Begehren,

den angefochtenen Beschluss zu ändern und aufschiebende Wirkung der Klage 21 K 6700/20 VG Köln gegen Punkt I. des Bescheides des Antragsgegners vom 8. Dezember 2020 wiederherzustellen und gegen Punkt II. des Bescheides anzuordnen,

hat Erfolg.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin durch Bescheid vom 8. Dezember 2020 den für den 11. Dezember 2020 geplanten Transport von 66 Rindern nach Marokko untersagt (Punkt I. des Bescheides) und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld von 50.000 Euro angedroht (Punkt II. des Bescheides). Die Untersagung des Transports hat der Antragsgegner auf § 16a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Satz 2 Nr. 1 TierSchG gestützt, weil er auf der Grundlage der ihm vorliegenden Erkenntnisse zu den Bedingungen der Haltung und Schlachtung von Rindern in Marokko davon überzeugt sei, dass die Rinder in Marokko wahrscheinlich entweder unmittelbar nach dem Transport oder nach ihrer Haltung als Zucht-/Milchrinder unter Verstoß gegen § 1 Satz 2 TierSchG geschlachtet würden und die Rinder bis zur Schlachtung wahrscheinlich unter Verstoß gegen § 2 Nr. 1 und 2 TierSchG gehalten würden.

Das Verwaltungsgericht hat die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Interessenabwägung vorgenommen und das angenommene Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses daran orientiert, dass die Erfolgsaussichten der Klage offen seien, weil derzeit nicht festgestellt werden könne, ob der angegriffene Bescheid voraussichtlich rechtmäßig oder rechtswidrig sei, und bei der deshalb vorzunehmenden allgemeinen Interessenabwägung dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung in Anbetracht eines möglicherweise drohenden schwerwiegenden und irreparablen Eingriffs in das von Art. 20a GG geschützte Rechtsgut des Tierwohls der Vorrang vor dem allein in drohenden Vermögensschäden liegenden Aufschubinteresse der Antragstellerin einzuräumen sei.

Das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) stellt die Erwägungen durchgreifend in Frage, aufgrund deren das Verwaltungsgericht zu einem Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses gelangt ist. Umstände, die das Verwaltungsgericht nicht zulasten der Antragstellerin berücksichtigt hat, aber zu einem anderen Ergebnis der Interessenabwägung führen könnten, liegen nicht vor.

Die Untersagungsanordnung ist, soweit die Erfolgsaussichten der Klage im gegebenen sehr engen Zeitrahmen summarisch geprüft werden können, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig.

Ein behördliches Einschreiten auf der Grundlage von § 16a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 Nr. 1 TierSchG zur Verhinderung künftiger Verstöße - wie hier - kommt in Betracht, wenn bei ungehindertem Fortgang des Geschehens ein Verstoß gegen tierschutzrechtliche Bestimmungen hinreichend wahrscheinlich im Sinne einer ordnungsrechtlichen Gefahr ist. Dabei reicht eine abstrakte Gefahr nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine konkrete Gefahr. Eine solche liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann. Eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generellabstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, das mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generellabstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz, zu bekämpfen.

Bezogen auf die in der Ordnungsverfügung angenommenen drohenden Verstöße gegen § 2 Nrn. 1 und 2 sowie § 1 Satz 2 TierSchG ist schon fraglich, ob sie - stehen sie tatsächlich bevor - der Antragstellerin zuzurechnen sind. Die Antragstellerin zählt wahrscheinlich spätestens nach Abschluss des Transports in Marokko nicht mehr zu dem Personenkreis, dem nach diesen Vorschriften Pflichten hinsichtlich der Tiere obliegen. Die Annahme einer fortdauernden Verantwortlichkeit wegen des Transports und/oder früherer Haltung/Betreuung begegnet zumindest dann erheblichen Bedenken, wenn die Rinder, wofür nichts konkret Greifbares spricht, nicht sofort im Anschluss an den Transport tierschutzwidrig behandelt werden. Die Ermessenserwägung des Antragsgegners, er nehme die Antragstellerin in Anspruch, weil die unmittelbar für die Verstöße Verantwortlichen nicht der deutschen Hoheitsgewalt unterliegen, setzt die Pflichtenstellung der Antragstellerin in Marokko voraus, ohne sie zu begründen.

Erheblich zweifelhaft ist auch, ob die in Rede stehende Gefahr von Verstößen hinreichend konkret ist. Der Antragsgegner stützt sich lediglich auf allgemeine Erkenntnisse zum Umgang mit Rindern in Marokko.

Zum einen ist die Verlässlichkeit dieser Erkenntnisse und die Verallgemeinerungsfähigkeit der aus den Beispielen gezogenen Schlussfolgerungen, soweit ersichtlich, bislang nicht durch "offizielle" neutrale Stellungnahmen etwa staatlicher oder behördlicher Stellen abgesichert. Zur Durchführung von ministeriell in Nordrhein-Westfalen noch vor kurzer Zeit erwogenen "Pilottransporten" zur Gewinnung von potentiell repräsentativen Informationen zumindest über den Transport der Tiere ist es nicht gekommen, erst recht nicht zu behördlichen Bemühungen zur Aufklärung des Verbleibs der Tiere und deren weiteren Schicksals.

Zum anderen vermitteln die vorliegenden Erkenntnisse allenfalls ein generelles Bild von in Marokko auch üblichen Methoden des Umgangs mit Rindern. Was mit den konkret zu transportierenden Rindern nach Beendigung des Transports wahrscheinlich geschehen wird, ist mit Ausnahme der letztendlich - zu einem unbestimmten Zeitpunkt - wohl zu erwartenden Schlachtung ungewiss. Eine solche Erkenntnislage mag zum Erlass abstraktgenereller Regelungen in der Art etwa von verordnungsrechtlichen Verbringungsverboten nach § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 TierSchG ermächtigen. Der Antragsgegner ist als örtliche Tierschutzbehörde für den Erlass derartiger Regelungen schon nicht zuständig. Die nach der Erkenntnislage verbleibenden erheblichen Unwägbarkeiten und Ungewissheiten ermächtigen ihn aber auch nicht dazu, faktisch in der Art einer Beweislastumkehr oder einer Regelvermutung Verstöße als genügend wahrscheinlich zu unterstellen und dem Transporteur den Nachweis aufzubürden, dass es nicht zu Zuwiderhandlungen gegen Anforderungen des Tierschutzgesetzes kommen wird. Eine Behörde genügt ihrer Darlegungspflicht - und materiellen Beweislast - hinsichtlich einer konkreten Gefahr nicht durch allgemeine Erwägungen und den Hinweis auf Schwierigkeiten, den Sachverhalt selbst zu ermitteln. Die Antragstellerin behindert derartige Ermittlungen auch nicht. Die ihr vom Antragsgegner zugewiesene Mitwirkungspflicht reicht inhaltlich weit über Angaben zum von der Antragstellerin geplanten Transport der Rinder hinaus. Die Verbringung von Tieren ins Ausland unterliegt, auch wenn sie zur Nutzung der Tiere dient, nicht einmal einem speziellen Erlaubnisvorbehalt im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 TierSchG. Der erlaubnispflichtige Handel mit solchen Tieren (§ 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 Buchstabe b TierSchG) endet wahrscheinlich mit Abgabe der Tiere an den Empfänger.

Bei der von den Erfolgsaussichten der Klage losgelösten Interessenabwägung überwiegt das Aufschubinteresse der Antragstellerin. Zwar drohen den Tieren im Fall des Eintritts der Gefahr schwerwiegende Beeinträchtigungen bis hin zur qualvollen Tötung. Gerade dies ist indes ebenso ungewiss wie die Verantwortlichkeit der Antragstellerin für ein solches Geschehen. Ein faktisches Exportverbot für Rinder in Länder, in denen generell niedrigere Tierschutzstandards als in Deutschland bestehen, wie es mit dem Bescheid erlassen worden ist, rechtfertigt das aber auch unter Berücksichtigung von Art. 20a GG nicht. Die Untersagungsanordnung trifft die Antragstellerin in ihren grundrechtlich geschützten Rechten aus Art. 12, 14 GG. Ihre grundrechtlichen Freiheiten sind nicht allein deshalb weniger gewichtig als der Schutz von Tieren, weil sie diese Freiheiten zu wirtschaftlichen Zwecken und durch das Verbringen von Rindern ins Ausland nutzt. Mit dem Vollzug der Untersagung ist der Eingriff in ihre Freiheiten unumkehrbar. Die wirtschaftlichen Folgen der Untersagung beschränken sich nicht auf die Folgen des in Rede stehenden Transports.

Die Zwangsmittelandrohung teilt das rechtliche Schicksal der Untersagungsanordnung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Sie entspricht dem wirtschaftlichen Interesse der Antragstellerin, das durch die von ihr befürchteten wirtschaftlichen Schäden, wie sie insbesondere in der Antragsschrift vom 12. November 2011 in dem Verfahren 20 L 2135/20 VG Köln beschrieben sind, bei einem Ausbleiben des Transports gekennzeichnet ist.

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