FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.11.2020 - 10 V 10146/20
Fundstelle
openJur 2020, 78917
  • Rkr:

1.BMF-Corona gilt auch für Steuerrückstände aus der Zeit vor der Pandemie. Die Rückstände brauchen nicht die Folge der Pandemiebetroffenheit zu sein.2.Während der Pandemie soll bei von der Pandemie wirtschaftlich nachteilig Betroffenen regelmäßig nicht vollstreckt werden.3.Für einen Vollstreckungsaufschub bis zum 31. 12. 2020 ist es nicht erforderlich, darzulegen, dass die Rückstände bis zum 31. 12. 2020 getilgt werden können. Unverändert muss der Steuerschuldner aber seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse und nicht nur seine Gewinneinbußen durch die Pandemie offen legen, denn BMF-Corona soll nur zahlungsunfähige Stpfl. vor der Vollstreckung, nicht aber (möglicherweise) zahlungsfähige Stpfl. vor der Steuerzahlung schützen.4.BMF-Corona gilt nicht für die Gewerbesteuer.

Tenor

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Die Beschwerde zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.

Tatbestand

A. Die Beteiligten streiten um die Gewährung eines Vollstreckungsaufschubs und dabei insbesondere um die Auslegung des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen - BMF - vom 19.03.2020 "Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung der Auswirkungen des Coronavirus (COVID-19/SARS-CoV-2)", Bundessteuerblatt - BStBl - I 2020, 262 (im Folgenden kurz: BMF-Corona). Streitig ist vor allem, inwieweit die hergebrachten Auslegungsgrundsätze zu § 258 Abgabenordnung - AO - durch BMF-Corona suspendiert sind oder anwendbar bleiben.

Die Rückstände ergeben sich aus Einkommensteuer - ESt - 2014 und 2015 und Gewerbesteuer - GewSt - 2014 bis 2016 sowie aus Umsatzsteuer - USt - 2015, 2016, 2018 und 2019, die aus dem Gewerbebetrieb des Antragstellers - Ast. - herrühren.

I.

Der 1984 geborene Ast. betreibt seit 2011 einen Imbiss mit Geldspielautomaten. Der erklärte Jahresumsatz (ohne USt) stieg zwischen 2012 und 2016 von 113 T€ auf 164 T€, der Gewinn laut Einnahmenüberschussrechnung in dieser Zeit von 27 T€ auf 47 T€.

Der Ast. ist seit Oktober 2016 mit seiner 1990 geborenen Ehefrau verheiratet. Bei der Einkommensteuer wird er seit 2016 mit dieser zusammenveranlagt. Sie haben zwei 2015 und 2016 geborene Kinder. Zum 01.07.2020 zog die Familie aus der bisherigen Mietwohnung in C... in das neue Eigenheim in B... um.

II.

Der Ast. war früher (2017 und Anfang 2019) mehrfach recht geringe Beträge (ca. 2 T€) dem antragsgegnerischen Finanzamt - FA - schuldig geblieben, das FA hatte dann jeweils sein Konto bei der Sparkasse gepfändet und die Schuld wurde dadurch beglichen.

Im Oktober 2019 fand eine Außenprüfung (Betriebsprüfung - Bp -) statt, die wegen Aufzeichnungsmängeln zu Hinzuschätzungen bei den Geldspielgeräten und beim Imbiss führte. Am 07.11.2019 kam es wegen der Höhe zu einer tatsächlichen Verständigung. Wegen der Bescheide nach Bp (von Anfang Dezember 2019) und dabei insbesondere im Hinblick auf die Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung ist seit 25.06.2020 die Klage im Hauptsacheverfahren 10 K 10093/20 (betreffend ESt und USt) anhängig.

Nicht zuletzt aus diesen Bescheiden nach Bp waren per 28.02.2020 knapp 69 T€, zum 12.05.2020 rd. 72 T€ und per 01.07.2020 noch knapp 47 T€, per 12.08.2020 wieder 68 T€ (jeweils ohne Säumniszuschläge) rückständig, die letzte Erhöhung resultiert aus USt 2018. Auch per 04.09.2020 waren 68 T€ rückständig.

III.1.

Am 30.12.2019 kam es zu einer Vorsprache des Ast. im FA, worüber das FA einen Vermerk aufnahm. Danach ging der Ast. von den damaligen Rückständen in Höhe von 25 T€ aus und strebte eine Ratenzahlungsvereinbarung an. Er wollte 10 T€ bei Fälligkeit zahlen. Die weiteren Raten auf sechs Monate zu begrenzen erschien ihm schwierig; er wollte nichts versprechen, was er nicht halten könnte. Er gab an, noch bis Mai einen Autokredit über monatlich 1.000 € abzuzahlen. Lebensversicherungen für die Kinder habe er aufgelöst. Er baue ein Einfamilienhaus in B..., das sich im Innenausbau befinde. Er habe 60 T€ Eigenkapital investiert und 230 T€ als Kredit aufgenommen. Eine Kontenpfändung würde sowohl sein Unternehmen als auch seinen Hausbau ruinieren.

Am 05.03.2020 kündigte das FA dem Ast. die Vollstreckung an.

Ab 11.05.2020 pfändete das FA die Konten des Ast. bei verschiedenen Banken. Die C... Sparkasse gab in ihrer Drittschuldnererklärung vom 14.05.2020 u. a. an, die von der Pfändung betroffenen Konten wiesen im Zeitpunkt der Pfändung kein Guthaben auf, betroffen sei u. a. ein "Sparkassenbuch Gold Online" mit einer bestimmten Nummer, und der Schuldner besitze ein Schließfach oder Schrankfach. Am 22.05.2020 überwies die Sparkasse 5.320,50 €.

Am 12.06.2020 pfändete das FA den Anspruch des Ast. gegen seine Ehefrau als Drittschuldnerin auf Aufhebung der Gemeinschaft am Hausgrundstück in B..., das beiden zur Hälfte gehört, und seinen Anspruch auf Auszahlung seines Erlösanteiles. Das Grundstück ist mit einer Grundschuld über 230.500 € nebst Zinsen und Nebenleistungen zugunsten der D... Bank belastet.

Mit Schreiben vom 30.06.2020 forderte das FA vom Ast. die "Herausgabe einer Urkunde", nämlich des "Sparkassenbuch Gold online" mit der angegebenen Nummer sowie des Schlüssels für das in einer bezeichneten Sparkassenfiliale befindliche Schließfach, und drohte zur Durchsetzung die Festsetzung eines Zwangsgeldes und ggf. über den Verbleib der Urkunde das Verlangen nach einer eidesstattlichen Versicherung an.

2.

Mit Schreiben seines Vertreters vom 27.06.2020 wandte sich der Ast. gegen die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und begehrte Auskunft, ob aktuell Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in das Grundstück beabsichtigt seien.

Mit Schreiben vom 01.07.2020 teilte das FA mit, dass es das vorgenannten Schreiben als Antrag auf Vollstreckungsaufschub werte, einen solchen aber ablehne, und drohte die Zwangsversteigerung zur Aufhebung der Gemeinschaft am Hausgrundstück nach Ablauf des 03.08.2020 an. Es führte aus, BMF-Corona gelte nicht für Rückstände aus der Zeit vor Verkündung der SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung vom 14.03.2020. Zudem seien nach Wiedereröffnung der C... Gastronomie am 15.05.2020 die Voraussetzungen für eine Unbilligkeit der Vollstreckung nicht mehr gegeben. Rechtsgrundlage für einen Vollstreckungsaufschub sei § 258 AO. Danach begründeten die mit jeder Zwangsvollstreckung üblicher Weise einhergehenden Nachteile keinen Anspruch auf Vollstreckungsaufschub. Außerdem habe der Ast. das Sparkassenbuch und den Schließfachschlüssel nicht herausgegeben.

3.

Am 31.07.2020 legte der Ast. gegen die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubs vom 01.07.2020 Einspruch ein. Das FA missverstehe BMF-Corona. Dieses Schreiben gelte auch für Steuerschulden aus der Zeit vor der Pandemie, wie sich schon aus seiner Präambel ergebe. Dass kleine Restaurantbetriebe in C... von den Schließungen und Ausgangsbeschränkungen betroffen seien, sei offenkundig. Die Vollstreckung in die Hälfte des Familienheims, die allein dem Ast. zustehe, könne offenkundig zu keiner Befriedigung führen und sei daher ermessensfehlerhaft. Aus Nr. 3 von BMF-Corona ergebe sich ein Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung bis zum 31.12.2020.

Mit Schreiben vom 04.08.2020 forderte das FA die Vorlage der betriebswirtschaftlichen Auswertungen für Januar bis Juli 2020, die der Ast. am 10.08.2020 übersandte. Er führte aus: Die Umsätze hätten sich seit Beginn der Pandemie praktisch halbiert. Im April habe die einzige Einnahme aus den Corona-Zuschüssen bestanden. Mit Miete und Strom für Februar 2020 befinde sich der Ast. noch im Rückstand.

4.

Mit Einspruchsentscheidung vom 16.09.2020 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Die Entscheidung über einen Vollstreckungsaufschub sei eine Ermessensentscheidung. Anhaltspunkte für Ermessensfehler lägen nicht vor. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH -, ohne Mitberücksichtigung von BMF-Corona, fehle es schon an einem abzusehenden alsbaldigen Ausgleich der Rückstände. Auch aus der wirtschaftlichen Auswirkung der Pandemie und BMF-Corona ergebe sich keine Unbilligkeit der Vollstreckung. Der Ast. habe schon nicht nachgewiesen, dass er von der Pandemie nachhaltig betroffen sei. Maßgeblich sei der Zeitpunkt der Entscheidung. Der Ast. habe aber nicht dargetan, dass er trotz der wirtschaftlichen Erholung im Sommer noch immer erheblich beeinträchtigt sei. Außerdem habe der Ast. nicht sein gesamtes Vermögen offengelegt. Insbesondere das Guthaben auf seinem Sparbuch und der Inhalt seines Schließfachs bei der C... Sparkasse seien weiterhin unbekannt. Es sei daher nicht glaubhaft gemacht, dass eine Vollstreckung für den Ast. existenzbedrohend sei. Schon im Juni 2020 habe der Ast. wieder Umsätze in Höhe des Vorjahresniveaus erreicht und einen Gewinn von über 5.000 € erzielt.

Selbst wenn man dies anders beurteilen wollte, wäre ein Vollstreckungsaufschub für den Ast. ermessensfehlerhaft. Der Ast. gehöre nicht zum schutzwürdigen Personenkreis von BMF-Corona. Er sei schon vor der Pandemie verschuldet gewesen und habe dies im Dezember 2019 auch eingeräumt. Außerdem sei nicht ersichtlich, wie er bis zum 31.12.2020 die Steuerschulden begleichen wollte. Ziel eines Vollstreckungsaufschubs sei aber nicht die bloße Verschiebung der Vollstreckung, wenn diese dadurch letztlich nicht vermieden werden könne, sondern im Anschluss an den Aufschub unvermeidbar drohe. Die Pandemie sei nicht ursächlich für die Nichtbegleichung der Rückstände.

Das Hausgrundstück sei der einzige bekannte Vermögensgegenstand des Ast., so dass dessen Auswahl als Vollstreckungsobjekt unvermeidlich sei.

IV.

Mit bei Gericht am 24.09.2020 eingegangenem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 114 Finanzgerichtsordnung - FGO - begehrt der Ast. Vollstreckungsaufschub.

Der Ast. wiederholt und vertieft sein vorgerichtliches Vorbringen und ergänzt:

Im Bankschließfach hätten sich zu Beginn des Corona-Lockdowns ca. 1.500 € bis 2.000 € befunden, welche der Ast. aber abgeholt habe, um seinen Lebensunterhalt während der Anfangszeit des Lockdowns bestreiten zu können, als die staatliche Unterstützung noch nicht beantragt und ausgezahlt war. Ein klassisches rotes Sparbuch als Inhaberpapier gebe es bei der C... Sparkasse schon seit Jahren nicht mehr.

Dass in der Gastronomiebranche im Sommer die Verluste aus der Zeit des Lockdowns im März/April nicht vollständig ausgeglichen worden seien, sei offenkundig.

Durch BMF-Corona sei eine Verschiebung der Vollstreckung nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. BMF-Corona gelte ausdrücklich auch für Rückstände aus der Zeit vor der Pandemie. Der Gesetzgeber habe die kleinen Selbständigen im Corona-Lockdown gerade unterstützen wollen. Wenn das FA den Ast. einerseits verdächtige, er habe noch weitere, bisher verheimlichte finanzielle Reserven, andererseits bezweifle, dass er bis Jahresende die Schuld werde begleichen können, verhalte es sich widersprüchlich.

Der Ast. beantragt,ihm unter Aufhebung der einen Vollstreckungsaufschub ablehnenden Entscheidung vom 01.07.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.09.2020 Vollstreckungsaufschub für alle in der Rückständeaufstellung vom 04.09.2020 bezeichneten fälligen Steuern zu gewähren.

Das FA beantragt,den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub abzulehnen.

Auch das FA vertieft und ergänzt seine vorgerichtlichen Erwägungen. BFH-Corona sei keine selbständige Rechtsgrundlage für einen Vollstreckungsaufschub, sondern modifiziere nur teilweise dessen Voraussetzungen.

Wegen der näheren Einzelheiten des wechselseitigen Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

V.

Die Vollstreckungsakte, die "ZV-Akte" (gemeint wohl: Zwangsversteigerungsakte, betrifft das Grundstück) und die Hinweisakte lagen vor.

Gründe

B.

I.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 114 FGO zulässig, insbesondere der statthafte Rechtsbehelf.

1.

In der Hauptsache wäre eine Verpflichtungsklage gegeben, keine Anfechtungsklage, so dass der Ast. einstweiligen Rechtsschutz nicht durch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung - AdV -, sondern nur durch eine einstweilige Anordnung erlangen kann (§ 114 Abs. 5 FGO, vgl. BFH, Beschluss vom 15.01.2003 V S 17/02, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2003, 738, Juris).

2.

Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass in der Hauptsache keine Verpflichtungsklage erhoben worden ist. Zwar ist der Ablehnungsbescheid vom 01.07.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16.09.2020, dem eine Rechtsbehelfsbelehrung (Klage binnen eines Monats) beigegeben war, mangels Erhebung einer Verpflichtungsklage bestandskräftig. Damit steht allerdings nur fest, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung kein Anspruch auf Vollstreckungsaufschub bestand. Dem Ast. geht es aber mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung offensichtlich um Gewährung von Vollstreckungsaufschub jetzt. Er könnte einen neuen Antrag auf Vollstreckungsaufschub beim FA stellen. Die Bestandskraft des Bescheides vom 01.07.2020 stünde insoweit nicht entgegen. Ein solcher neuer Antrag wäre, in Anbetracht des innerhalb der Klagefrist bei Gericht gestellten Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, auch nicht rechtsmissbräuchlich.

II.

Der Antrag ist jedoch nicht begründet.

Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in der Sache Erfolg, wenn der Ast. sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft macht (BFH, Beschluss vom 15.01.2003 V S 17/02, BFH/NV 2003, 738, Juris; FG Münster, Beschluss vom 29.06.2020 8 V 1791/20, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG -2020, 1194, Juris Rn. 24; FG Köln, Beschluss vom 18.06.2020 9 V 1302/20, Juris Rn. 32).

Hier wäre zwar ein Anordnungsgrund gegeben (nachfolgend 1.), jedoch mangelt es an einem Anordnungsanspruch (nachfolgend 2.).

1.

Ein Anordnungsgrund liegt vor.

a)

Ein Anordnungsgrund besteht, wenn die Vollstreckung mit schwerwiegenden Nachteilen für den Vollstreckungsschuldner verbunden ist, z. B. seine persönliche oder wirtschaftliche Existenz dadurch bedroht wird (BFH, Beschluss vom 15.01.2003 V S 17/02, BFH/NV 2003, 738). Begehrt der Antragsteller die Abwehr von Vollstreckungsmaßnahmen unter Hinweis auf § 258 AO, besteht ein Anordnungsgrund regelmäßig nur bei außergewöhnlichen Umständen, z. B. einer drohenden Existenzvernichtung oder konkreter und unmittelbarer Gesundheitsgefährdungen (vgl. FG des Saarlandes, Beschluss vom 03.02.2006 2 V 44/06, EFG 2006, 546; FG Köln, Beschluss vom 01.02.2018 11 V 3169/17, Juris). Diese Umstände müssen über die Nachteile hinausgehen, die im Regelfall bei einer Vollstreckung zu erwarten sind (vgl. auch Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 159. Lieferung 01.2020, § 114 FGO Rn. 29).

b)

Es erscheint zweifelhaft, ob dafür allein ausreichen würde, dass dem Ast. und seiner Familie der Verlust ihres Eigenheims sowie erhebliche wirtschaftliche Verluste drohen, da in der Zwangsversteigerung eines Hauses häufig nicht der Verkehrswert erzielt wird. Eine gesetzlich angeordnete Unbilligkeit der Vollstreckung liegt jedoch aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie vor (Werth in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 258 Rn. 9a). Es handelt sich deswegen um Nachteile, die über übliche Zwangsvollstreckungsnachteile hinausgehen.

c)

Soweit durch die Entscheidung eine Vorwegnahme der Hauptsache erfolgen würde, wäre dies erforderlich, um unbillige, unzumutbare Nachteile für den Antragsteller zu vermeiden und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Im Übrigen liegt eine besondere Intensität des Anordnungsgrundes vor. Die sofortige Einstellung der Vollstreckung ist notwendig, da eine Entscheidung in der Hauptsache in Anbetracht der üblichen Bearbeitungszeiten für Klageverfahren zu spät kommen würde.

2.

Es fehlt jedoch an einem Anordnungsanspruch.

a)

Zu den allgemeinen Grundsätzen, die die Rechtsprechung des BFH zu § 258 AO herausgearbeitet hat, ohne die Modifikationen durch BMF-Corona, gehört, dass die Einstellung der Vollstreckung nur für kurze Zeit erfolgen darf und sich die wirtschaftliche Lage des Steuerschuldners absehbar bessern werden muss. Es muss sich um eine vorübergehende Notlage des Vollstreckungsschuldners handeln (Werth in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 258 Rn. 13 m. w. N.).

Eine baldige Begleichung der Rückstände hat der Ast. jedoch in keiner Weise dargelegt. Er beruft sich lediglich auf die Modifikationen durch BMF-Corona.

Ohne Mitberücksichtigung von BMF-Corona wäre nur die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubs ermessensgemäß.

b)

Schon deswegen kommt bei der GewSt ein Vollstreckungsaufschub nicht in Betracht.

aa)

BMF-Corona gilt nämlich ausweislich seines Wortlauts nur für die Steuern, die von den Landesfinanzbehörden im Auftrag des Bundes verwaltet werden. Dies sind gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz - GG - diejenigen Steuern, die ganz oder teilweise dem Bund zufließen. Dazu gehören zwar die ESt, der Solidaritätszuschlag und die USt, nicht jedoch die GewSt, die von den Ländern als eigene Angelegenheit verwaltet wird, wenn sie die Verwaltung nicht den Gemeinden übertragen. Für die GewSt gilt BMF-Corona daher nicht.

bb)

Die gleichlautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder "zu gewerbesteuerlichen Maßnahmen zur Berücksichtigung der Auswirkungen des Coronavirus (COVID-19/SARS-CoV-2)" (in C...: der Senatsverwaltung für Finanzen vom 19.03.2020, BStBl I 2020, 281) betreffen nur die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages für Zwecke der Vorauszahlungen gemäß § 19 Abs. 3 Satz 3 GewStG.

cc)

Für die GewSt selbst bleibt es daher bei den hergebrachten Grundsätzen des § 258 AO.

c)

BMF-Corona ist eine ermessensleitende Verwaltungsvorschrift, die die Ermessensausübung für die übrigen hier relevanten Steuern bei der Anwendung des § 258 AO für die Dauer der Pandemie modifiziert.

Aus Gründen der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (Art. 3 Abs. 1 GG) und unter dem Gesichtspunkt der nach außen hin publizierten Selbstbindung der Verwaltung hat ein Steuerpflichtiger grundsätzlich einen Rechtsanspruch darauf, nach Maßgabe allgemeiner Verwaltungsanweisungen besteuert zu werden, es sei denn, dass die Anwendung der Richtlinie im Regelfall oder im zu beurteilenden Einzelfall offensichtlich zu falschen Ergebnissen führt (vgl. Urteile des BFH vom 07.02.1985 IV R 56/82, BFH/NV 1986, 664; vom 26.07.1991 VI R 82/89, BStBl II 1992, 1000).

Allerdings sind allgemeine Verwaltungsanweisungen nicht wie Gesetze durch die Gerichte auszulegen (vgl. BFH, Urteil vom 08.12.1993 XI R 69/92, BFH/NV 1994, 500). Maßgebend ist nicht, wie das Gericht eine solche Anweisung verstünde, wenn sie Gesetz wäre, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Die Finanzgerichte haben die Auslegung der Verwaltung jedoch daraufhin zu überprüfen, ob die Auslegung durch die Finanzbehörden möglich ist (BFH, Urteil vom 27. Oktober 1978 VI R 8/76, BStBl II 1979, 54, Juris).

d)

Danach ist der Anwendungsbereich von BMF-Corona entgegen der Auffassung des FA insoweit grundsätzlich eröffnet, als dass der Ast. unmittelbar und nicht unerheblich (durch das Coronavirus) betroffen ist.

aa)

Die Ausfälle im März/April hat der Ast. durch seine betriebswirtschaftliche Auswertung glaubhaft gemacht.

bb)

Der Senat erachtet es als allgemeinkundig, dass die Umsätze und Gewinne von Restaurantbetrieben im Sommer bestenfalls, aber nicht durchweg, das Niveau des Vorjahres erreicht haben und daher die Ausfälle von März/April nicht, jedenfalls nicht vollständig, kompensieren konnten.

Der Gedanke des FA, der Ast. könnte inzwischen nicht mehr von der Pandemie betroffen sein, erscheint dem Senat fernliegend.

cc)

Im Übrigen entstehen seit Anfang November bereits wieder neue Ausfälle.

e)

Entgegen der Auffassung des FA gilt BMF-Corona auch für Rückstände aus der Zeit vor der Pandemie.

aa)

Die Argumentation des FA ist insoweit zunächst widersprüchlich. Das FA räumt einerseits ein, dass es für die Gewährung von Vollstreckungsaufschub nach BMF-Corona nicht darauf ankommt, wann die der Vollstreckung unterliegenden Rückstände fällig gewesen sind und ob sich der Steuerpflichtige darauf einstellen konnte (Einspruchsentscheidung Seite 11 erster Absatz), meint jedoch später weiter, der Ast. gehörte nicht zum von BMF-Corona begünstigten Personenkreis, sondern dazu gehörten nur diejenigen Steuerpflichtigen, die aufgrund der Auswirkungen der Pandemie ohne Verschulden Rückstände nicht begleichen könnten, nicht aber solche, die schon vor der Pandemie verschuldet gewesen seien (Einspruchsentscheidung Seite 12 und erneut Schriftsatz vom 16.10.2020 Seite 2).

bb)

Die letztgenannte Auslegung ist jedoch mit dem Wortlaut von BMF-Corona nicht zu vereinbaren und daher keine mögliche Auslegung.

Es heißt insoweit in BMF-Corona: "Wird dem Finanzamt ... bekannt, dass der Vollstreckungsschuldner unmittelbar und nicht unerheblich betroffen ist, soll bis zum 31. Dezember 2020 von Vollstreckungsmaßnahmen bei allen rückständigen oder bis zu diesem Zeitpunkt fällig werdenden Steuern ... abgesehen werden." Eine kausale Verknüpfung dahingehend, dass die Steuerrückstände gerade die Folge der Pandemiebetroffenheit sein müssten, ergibt sich aus diesem Satz nicht, ebenso wenig aus dem Gesamtzusammenhang von BMF-Corona.

Im Gegenteil entnimmt der Senat BMF-Corona eine Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses: Während zu normalen Zeiten eine nachhaltige Vollstreckung die Regel und ein Vollstreckungsaufschub die Ausnahme ist, soll während der Pandemie bei von der Pandemie wirtschaftlich nachteilig Betroffenen regelmäßig nicht vollstreckt werden. Der Regelfall der Ermessensausübung soll in Anbetracht der wirtschaftlichen Belastungen durch die Corona-Pandemie nunmehr das Absehen von der Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen sein (ebenso FG Düsseldorf, Beschluss vom 29.05.2020 9 V 754/20, EFG 2020, 1049, Juris Rn. 32).

Lediglich vor der Pandemie bereits ergriffene Vollstreckungsmaßnahmen bleiben bestehen und werden wegen der Pandemie nicht aufgehoben (BFH, Beschluss vom 30.07.2020 VII B 73/20, BFH/NV 2020, 1299, Juris Rn. 72). Dies steht jedoch einem regelmäßigen Ausschluss neuer Vollstreckungsmaßnahmen für alte Schulden nicht entgegen.

f)

Entgegen der Auffassung des FA ist es nicht erforderlich, dass die Rückstände bis zum 31.12.2020 getilgt werden können.

aa)

Eine Auslegung einer Verwaltungsvorschrift ist nur möglich, wenn sie überhaupt Sinn ergibt. Wenn BMF-Corona aber für alle Rückstände gilt, auch solche aus der Zeit vor der Pandemie (vgl. vorstehend e), und wenn BMF-Corona nur gilt für Steuerpflichtige, die von der Pandemie nicht unerheblich negativ wirtschaftlich betroffen sind (vorstehend d), ergibt sich logisch zwingend, dass nicht erwartet werden kann, dass bis zum 31.12.2020 die Rückstände ausgeglichen werden können. Diese Kombination kann regelmäßig nicht eintreten, denn bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage können Rückstände, die sich bei normaler wirtschaftlicher Lage aufgebaut haben, kaum getilgt werden.

Sollte sich aus dem Beschluss des BFH vom 30.07.2020 VII B 73/20, BFH/NV 2020, 1299, Juris Rn. 73, etwas anderes ergeben, so folgt der Senat dem nicht.

bb)

Dem FA ist allerdings zuzugeben, dass überhaupt eine Aussicht auf Tilgung bestehen muss, nämlich nach Ende der Pandemie, wenn die Gewinnsituation nicht mehr durch die Pandemie negativ beeinflusst ist. Die Pandemie wird aber, nach allem was bis jetzt bekannt ist, deutlich länger als nur bis zum 31.12.2020 negative Auswirkungen haben.

Der Senat geht allerdings davon aus, dass nach dem Ende der Pandemie, d. h. insbesondere dann, wenn ein so großer Anteil der Bevölkerung geimpft ist, dass im öffentlichen Raum und daher auch in Kneipen und Restaurants kein Abstand mehr eingehalten werden muss, keine Masken mehr getragen werden müssen und die volle Anzahl an Tischen und Stühlen besetzt werden kann, ein deutlicher Nachholeffekt eintreten wird (vgl. die sog. "Fresswelle" in den 1950er Jahren). Mit den dann zu erwartenden Umsatz- und Gewinnsteigerungen (gegenüber der Zeit unmittelbar vor der Pandemie) werden die Inhaber von Gastronomiebetrieben Rückstände zügig abtragen können.

g)

Ein Anordnungsanspruch des Ast. besteht jedoch gleichwohl nicht, weil der Ast. nicht glaubhaft gemacht hat, zur Begleichung der offenen Steuern aktuell nicht in der Lage zu sein. Es ist nicht gesichert, dass er nicht, insbesondere in seinem Bankschließfach, finanzielle Reserven (z. B. aus "Schwarzumsätzen") hortet.

aa)

Eine Unbilligkeit im Sinne von § 258 AO setzt grundsätzlich voraus, dass dem Steuerpflichtigen ein unangemessener Nachteil durch die Vollstreckung droht. Ein solcher kann überhaupt nur drohen, wenn der Steuerpflichtige die Steuerschuld nicht mit vorhandenen Mitteln begleichen kann. Daher gehört zu den Voraussetzungen eines Vollstreckungsaufschubs gemäß § 258 AO auch, dass der Ast. darlegt und glaubhaft macht, zur Begleichung der Steuerschuld nach seinen Vermögensverhältnissen aktuell nicht in der Lage zu sein.

bb)

Entgegen der Auffassung des Ast. hat sich an diesem Grundsatz durch BMF-Corona nichts geändert. Auch von der Pandemie nachhaltig negativ betroffene Steuerschuldner, also solche mit Einkommensreduzierungen im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie, die nach ihren allgemeinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen ihre Steuerschulden aber gleichwohl bezahlen können, müssen dies auch weiterhin, trotz Pandemie, tun. BMF-Corona schützt nicht zahlungsfähige Steuerschuldner vor der Steuerzahlung, sondern nur zahlungsunfähige vor der Vollstreckung.

cc)

Zwar ergeben sich Zweifel nicht aus der unterlassenen Vorlage eines angeblichen Sparbuchs.

Es erscheint schon zweifelhaft, ob das FA ein berechtigtes Interesse hätte, ein klassisches Sparbuch, wie es im vergangenen Jahrhundert verbreitet war, einzusehen, wenn die Bank im Rahmen der Drittschuldnererklärung erklärt, auf den Konten des Schuldners sei kein Guthaben. Dies kann aber offen bleiben.

Denn ein solches klassisches Sparbuch (qualifiziertes Legitimationspapier im Sinne von § 808 Abs. 1 BGB, bisweilen auch hinkendes Inhaberpapier genannt) liegt nicht vor. Ausweislich der Internetseite der C... Sparkasse handelt es sich bei einem "Sparkassenbuch Gold online" (so die vollständige Bezeichnung in der Drittschuldnererklärung der C... Sparkasse) um ein Sparkonto, das per Online-Banking geführt wird und bei dem die Kontoauszüge dem Kunden in dessen elektronisches Postfach bei der Sparkasse übermittelt werden. Die Bezeichnung als "Sparkassenbuch" durch die C... Sparkasse steht dem nicht entgegen.

Die Aufforderung des FA an den Ast., die "Urkunde" Sparkassenbuch Gold online vorzulegen, geht fehl.

dd)

Verbleibende, aus Sicht des Senats nicht ausgeräumte Zweifel ergeben sich jedoch daraus, dass nach Pfändung des Anspruchs des Ast. gegen die Sparkasse vom 14.05.2020 auf Gewährung von Zutritt zum vom Schuldner bei dieser unterhaltenen Schließfach oder Schrankfach und auf deren Mitwirkung bei dessen Öffnung sowie nach Aufforderung an den Ast. vom 20.06.2020 auf Vorlage des Schlüssels zum Schließfach und trotz wiederholten Hinweises des FA auf den nicht gewährten Zugang zum Schließfach im vorgerichtlichen und im gerichtlichen Verfahren der Ast. bis heute dem FA keinen Zugang zum Schließfach gewährt hat. Die bloße Mitteilung, im Schließfach sei zum Zeitpunkt der Pfändung kein Geld gewesen, reicht nach Auffassung des Senats nicht aus. Der Ast. hatte hinreichend Zeit, mit dem FA einen Termin zu vereinbaren und diesem das leere Schließfach zur Inspektion zu öffnen. Die andauernde Weigerung, dem FA Zugang zu dem "gepfändeten" Schließfach zu gewähren, begründet den Verdacht, dort könnten Geld oder Wertgegenstände sein, mit denen die Steuerschuld (zumindest teilweise) getilgt werden könnte und deren Pfändung durch das FA bei Öffnung des Schließfachs der Ast. besorgt. Anders ist die Weigerung kaum erklärlich.

ee)

Entgegen der Auffassung des Ast. liegt darin auch kein widersprüchliches Verhalten und keine widersprüchliche Argumentation.

Das FA vertritt die Auffassung, bei Zugrundelegung der vom Ast. mitgeteilten Daten zu seinem Einkommen und Vermögen sei es ausgeschlossen, dass dieser die Rückstände bis zum 31.12.2020 tilge, gleichzeitig sei aber aufgrund mangelnder Mitwirkung nicht ausgeschlossen, dass der Ast. über weitere, bisher noch unbekannte Vermögensgegenstände verfüge. Hierin liegt weder ein widersprüchliches Verhalten noch eine sich widersprechende Argumentation, denn beide Aussagen sind miteinander unproblematisch vereinbar, nicht logisch widersprüchlich. Erst recht liegt darin kein Verstoß gegen Treu und Glauben (venire contra factum proprium). Das FA hat bei dem Ast. keine berechtigte Erwartung geweckt, in einer bestimmten Situation in bestimmter Weise zu verfahren, und diese Erwartung dann enttäuscht.

III.1.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

2.

Die Beschwerde wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt 1 i. V. m. § 128 Abs. 3 FGO zur Fortbildung des Rechts zugelassen.

Es erscheint klärungswürdig und klärungsbedürftig, welche sich aus der bisherigen Rechtsprechung zu § 258 AO ergebenden allgemeinen Grundsätze für die Ermessensausübung des FA bei Gewährung eines Vollstreckungsaufschubs durch BMF-Corona suspendiert sind und welche daneben weitergelten.

Der Senat geht dabei davon aus, dass die Pandemie nicht am 31.12.2020 enden und BMF-Corona daher über den 31.12.2020 hinaus verlängert werden wird, so dass die sich ergebenden Rechtsfragen auch noch nach dem 31.12.2020 von Bedeutung sein werden.

Insbesondere erscheint klärungsbedürftig, ob BMF-Corona auch für Steuerschulden aus der Zeit vor der Pandemie Anwendung findet, ob der Schuldner glaubhaft machen muss, die Steuerschulden bis zum (bisher) 31.12.2020 begleichen zu können und ob der Schuldner seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend offenlegen muss oder nur seine Gewinneinbußen durch die Pandemie.

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