VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.04.2018 - 11 S 428/18
Fundstelle
openJur 2020, 33933
  • Rkr:

Der Streitwert für eine Anfechtungsklage gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines Unionsbürgers, der den höchsten Ausweisungsschutz im Sinne von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 28 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie genießt, beläuft sich auf 10.000,- EUR.

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 10. Januar 2018 - 5 K 3884/16 - wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere nach § 124a Abs. 4 Sätze 1 und 4 VwGO rechtzeitig gestellt und begründet worden. Er ist jedoch unbegründet. Die Berufung ist nicht - wie ausschließlich geltend gemacht - nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung zuzulassen.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen vor, wenn unter Berücksichtigung der vom Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10.03.2004 - 7 AV 4.03 -, DVBl. 2004, 838, vom 15.12.2003 - 7 AV 2.03 -, NVwZ 2004, 744, vom 12.11.2002 - 7 AV 4.02 -, juris, vom 11.11.2002 - 7 AV 3.02 -, DVBl. 2003, 401, und vom 14.06.2002 - 7 AV 1.02 -, DVBl. 2002, 1556). Mit anderen Worten: Sie sind immer schon dann begründet, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 03.03.2004 - 1 BvR 461/03 -, NJW 2004, 2510, Kammerbeschluss vom 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 -, NVwZ 2011, 546). Dabei ist davon auszugehen, dass das Zulassungsverfahren das Berufungsverfahren nicht vorwegnehmen soll (BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.2009 - 1 BvR 812/09 -, NJW 2010, 1062), es sei denn, es lässt sich schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen, das Verwaltungsgericht habe die Rechtssache im Ergebnis richtig entschieden und die angestrebte Berufung werde deshalb keinen Erfolg haben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.03.2004, a.a.O.), sofern nicht seinerseits andere Gründe wiederum auf einen anderen Zulassungsgrund hinführen würden (vgl. hierzu Bader u.a., VwGO, 6. Aufl., § 124 Rn. 22). Dabei sind auch nach Erlass der angegriffenen Entscheidung und bis zum Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) neu eingetretene Tatsachen sowie erhebliche Änderungen des maßgeblichen Rechts zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14.06.2002 und vom 15.12.2003, jew. a.a.O.; Bader u.a., a.a.O., § 124 Rn. 26 ff.). Zur Darlegung ernstlicher Zweifel ist eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erforderlich. Der Streitstoff muss dabei unter konkreter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil gesichtet, rechtlich durchdrungen und aufbereitet werden; erforderlich ist eine fallbezogene Begründung, die dem Berufungsgericht eine Beurteilung der Zulassungsfrage ohne weitere eigene aufwendige Ermittlungen ermöglicht. Das Maß der zu leistenden Substantiierung kann dabei von der jeweiligen Begründungsdichte und dem Begründungsaufwand der Entscheidung abhängig sein.

Gemessen hieran zeigt die Antragsbegründung, die im Kern die Auslegung und Anwendung des § 6 FreizügG/EU durch das Verwaltungsgericht rügt, keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils auf:

1. Ohne Erfolg macht der Kläger geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass die abgeurteilten Straftaten einen ausreichend hohen Schweregrad für eine Maßnahme nach § 6 Abs. 1-3 und 5 FreizügG/EU aufwiesen. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Verwaltungsgericht dies nämlich keineswegs allein auf den Umstand gestützt, dass der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verurteilt wurde.

Vielmehr war sich das Gericht der spezifischen Maßstäbe bewusst, wie sie sich insbesondere aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 23.11.2010 - C-145/09 <Tsakouridis> - und vom 22.05.2012 - C-348/09 <I.> -, beide juris) ergeben (UA S. 8 f.). Es hat nicht nur festgehalten, dass nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU, der Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) umsetzt, die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht genügt, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen (UA S. 7 f.), sondern auch die spezifischen Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU bedacht, die aus dem Tatbestandsmerkmal "zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit" folgen. Dazu gehört namentlich, dass Maßnahmen nach dieser Vorschrift auf außergewöhnliche Umstände begrenzt sind und die Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit einen besonders hohen Schweregrad aufweisen muss (vgl. EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - C-145/09 -, Rn. 40 f., a.a.O.) sowie dass dann, wenn Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses angesehen werden, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweisen muss. Dies hat das Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles zu klären (EuGH, 22.05.2012 - C-348/09 <I.> -, Rn. 33, a.a.O.).

In Anwendung dieser Maßstäbe hat das Verwaltungsgericht - anders als der Kläger meint - eine individuelle Prüfung des konkreten Einzelfalls durchgeführt. Es ist von der Anwendbarkeit des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zugunsten des Klägers ausgegangen (vgl. zur Anwendbarkeit des verstärkten Ausweisungsschutzes bei Vollzug von Freiheitsstrafen den Beschluss des Senats vom 27.04.2016 - 11 S 2081/15 -, juris) und hat das Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit - im Anschluss an die Würdigung des Strafgerichts - unter spezifischer Berücksichtigung für und gegen den Kläger sprechender Gesichtspunkte, seines Verhaltens im Strafprozess sowie der Umstände und Folgen seiner Straftaten bejaht (UA S. 9 f.; vgl. zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Hintergründe der Straftaten und der Tatbegehung in diesem Zusammenhang auch BVerwG, Urteil vom 28.06.2011 - 1 C 18.10 -, BVerwGE 140, 72-77). Im Einklang mit den Anforderungen der unionsrechtlichen Rechtsprechung (vgl. EuGH, 22.05.2012 - C-348/09 -, Rn. 25 ff., a.a.O.) ist es angesichts der konkreten Umstände der vom Kläger begangenen Straftaten zu dem Ergebnis gelangt, dass diese dem Bereich besonders schwerer Kriminalität zuzurechnen sind. Es hat - entgegen der Darstellung des Klägers - sehr wohl auch berücksichtigt, dass der Kläger ein jahrzehntelang straffreies Leben vorweisen kann (UA S. 10), seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland wohnt und hier zwei leibliche Kinder sowie eine Verlobte nebst "Stieftochter" hat (UA S. 14). Unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid gemäß § 117 Abs. 5 VwGO (UA S. 14) hat es überdies die umfangreichen Integrationsleistungen und persönlichen Verhältnisse des Klägers in den Blick genommen, die der Beklagte detailliert aufgeführt (Bescheid S. 8 f.) und zum Anlass genommen hat, von der vollen Integration des Klägers und einem hohen Verwurzelungsgrad in der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Auch den Umstand, dass der Kläger und seine langjährige Lebensgefährtin zuletzt konkrete Heiratsabsichten hegten, hat das Verwaltungsgericht berücksichtigt (UA S. 12). Soweit der Kläger schließlich meint, das Verwaltungsgericht habe außer Acht gelassen, dass er in seinem Heimatland "überhaupt nicht integriert" sei, kann dahinstehen, ob seine Behauptung überhaupt zutrifft, nachdem er die italienische Sprache beherrscht, Geschwister in Italien hat und ursprünglich wohl auch plante, sich nach der Haftentlassung nach Italien zu begeben (vgl. Bericht der JVA ... vom 03.03.2014). Denn das Verwaltungsgericht hat sich mit dem Gesichtspunkt der Integration in den Heimatstaat entgegen dem klägerischen Vortrag jedenfalls individuell und einzelfallbezogen auseinandergesetzt sowie diesen in die Abwägung eingestellt (UA S. 14).

2. Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe "in keinster Weise" geprüft, ob von dem Kläger tatsächlich immer noch eine "gegenwärtige Gefahr" für Unionsbürger ausgehe, bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

Zunächst ist festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht auch insoweit von zutreffenden Maßstäben ausgegangen ist. Es hat gesehen, dass nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) vorausgesetzt wird, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft

oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt - wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten, - und dass die Beeinträchtigung des grundlegenden gesellschaftlichen Interesses - hier des Schutzes von Mädchen und Frauen vor sexuellen Übergriffen - ferner geeignet sein muss, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen (UA S. 9; zu diesen Erfordernissen EuGH, 22.05.2012 - C-348/09 -, Rn. 33 f., a.a.O.).

Im Rahmen seiner Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr ist das Verwaltungsgericht weiter zutreffend davon ausgegangen, dass ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erforderlich ist, dass mithin an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, BVerwGE 144, 230, Rn. 18). Es ist sodann unter einzelfallbezogener Würdigung der besonderen Schwere der drohenden Straftaten einerseits sowie insbesondere des Haft- und Therapieverlaufs andererseits (UA S. 11 f.) der Prognoseentscheidung des Beklagten gefolgt.

Dabei hat sich das Verwaltungsgericht keineswegs - wie der Kläger meint - ausschließlich auf eine Stellungnahme vom 21.07.2015 gestützt, die der behandelnde Psychotherapeut ... nach dem Abbruch der Therapie in der Behandlungsabteilung für Sexualstraftäter der JVA ... verfasst hatte. Es hat auch nicht - entgegen der Darstellung des Klägers - den seither verstrichenen Zeitraum von mehr als zweieinhalb Jahren und die zwischenzeitlich eingetretene Entwicklung außer Acht gelassen. Der Therapieverlauf, die Umstände des Therapieabbruchs und das damalige Resümee des behandelnden Therapeuten, der Kläger verlasse sich allein auf seine medikamentöse Behandlung und zeige kein Interesse an der Entwicklung psychotherapeutischer Strategien zur Rückfallprävention, dienten dem Gericht vielmehr nur als Ausgangspunkt seiner Prognose. Es hat sodann festgestellt, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger nachhaltig an sich gearbeitet habe. Er verlasse sich "auch heute noch" (UA S. 12) ausschließlich auf die Behandlung mit Androcur. Seine Sexualproblematik habe er nicht aufgearbeitet, wie sich aus einem Bericht der JVA vom 11.04.2016 ergebe. Soweit er sich "zuletzt" um einen Therapieplatz in ... ... ... bemüht habe, handele es sich "derzeit" um eine bloße Absichtserklärung, die in Anbetracht der "schon früher gezeigten" opportunistischen Haltung des Klägers zu Therapieangeboten keine abweichende Prognose begründe. Dies gelte ebenso für die "zuletzt konkreter gewordenen" Heiratsabsichten des Klägers, nachdem er sich auch von seinen bereits begangenen Sexualstraftaten nicht durch das gleichzeitige Bestehen einer festen Beziehung habe abhalten lassen.

Nach alledem hat das Verwaltungsgericht für seine Prognose sehr wohl die seitherige Entwicklung und den - zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aktuellen Status quo in den Blick genommen. Im Übrigen schließt sich auch der Senat dieser Prognose nach den eindeutigen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer an, die die vorzeitige Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung - mehrfach - namentlich unter Hinweis auf die mangelnde psychotherapeutische Aufarbeitung der Straftaten abgelehnt und die Prognose dabei aus strafvollstreckungsrechtlicher Sicht stets neu überprüft hat (Beschlüsse vom 12.05.2016, 08.08.2016, 03.11.2016, 03.03.2017). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich - und im Übrigen auch mit der Begründung des Zulassungsantrags nicht vorgetragen -, die eine abweichende Bewertung aus ausländerrechtlicher Perspektive rechtfertigen könnten. Dies gilt zumal, da der Kläger aufgrund des spezifischen Vollzugsverlaufs keine vollzugsöffnenden Maßnahmen erhalten hat und deshalb mit Erreichen der Endstrafe nicht nur ohne abgeschlossene Therapie, sondern auch nahezu ohne jede tiefer gehende Vorbereitung und Erprobung von Verhaltensstrategien in Freiheit entlassen werden wird.

Demgegenüber ist der Hinweis des Klägers, das Fehlen einer Gefahr ergebe sich auch daraus, dass das Strafgericht (ursprünglich) keine Sicherungsverwahrung angeordnet habe, nicht von Belang. Denn zum einen knüpft die Anordnung der Sicherungsverwahrung - zumal bei Ersttätern - gegenüber der hier zu stellenden Prognose an abweichende rechtliche Voraussetzungen an. Zum anderen kommt es für die Prognose - wie der Kläger letztlich selbst argumentiert - auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an; es liegt insoweit auf der Hand, dass das erkennende Strafgericht den Vollzugsverlauf noch nicht berücksichtigen konnte.

3. Nach vorstehenden Ausführungen verhilft auch die Rüge des Klägers, das Verwaltungsgericht habe zur "Prognose des straffreien Verhaltens in der Zukunft" ein Sachverständigengutachten einholen müssen, dem Antrag nicht zum Erfolg. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich daraus - wie zuvor dargelegt - schon deshalb nicht, weil keine tatsächlichen Gesichtspunkte vorgetragen wurden, die zu einer abweichenden Prognose Anlass geben könnten.

Die Rüge führt aber darüber hinaus auch nicht auf einen Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Zwar kann der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ein unrichtiger oder unvollständiger Sachverhalt zugrunde liegen, wenn der verwaltungsprozessuale Untersuchungsgrundsatz verletzt worden ist. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt den Tatsachengerichten die Pflicht, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 30.06.2010 - 2 B 72.09 -, und vom 20.12.2012 - 4 B 20.12 -, beide juris; zum Erfordernis der zureichenden Sachverhaltsaufklärung auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 26.10.2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris). Dabei entscheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen nach Ermessen.

Die Rüge der Verletzung des verwaltungsprozessualen Untersuchungsgrundsatzes setzt zum einen die substantiierte Darlegung voraus, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Zum anderen muss dargelegt werden, dass entweder bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden war, oder dass sich dem Verwaltungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22.02.1988 - 7 B 28.88 -, NVwZ 1988, 1020, vom 31.01.1996 - 9 B 417.95 -, NVwZ 1996, 1102, und vom 01.03.2001 - 6 B 6.01 -, NVwZ 2001, 923). Werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils aus einem Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts in Gestalt der Verletzung der Aufklärungspflicht gerügt, wird der Zulassungsgrund daher nur dann ausreichend dargelegt, wenn dem Darlegungserfordernis der Verfahrensrüge genügt wird. Entspricht das Vorbringen diesen Anforderungen, so kommt eine Zulassung nur in Betracht, wenn auch eine entsprechende Verfahrensrüge zu einer Zulassung führen würde (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 17.02.2009 - 10 S 3156/08 -, juris).

Dass das Verwaltungsgericht seine Aufklärungspflicht verletzt haben könnte, ist nach diesen Maßstäben schon nicht ausreichend dargelegt; jedenfalls liegt in der Sache kein Fehler vor, der zur Zulassung der Berufung führt. Denn der - schon in erster Instanz anwaltlich vertretene - Kläger hat nicht dargelegt, dass er bereits im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung hingewirkt hätte, deren Unterbleiben er nunmehr rügt. Dass sich dem Verwaltungsgericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne ein solches Hinwirken von sich aus nicht aufdrängen musste, ergibt sich aus den obigen Ausführungen (unter 2.).

Hinzu kommt, dass der Kläger keine tatsächlichen Umstände vorträgt, über die durch Einholung eines Gutachtens hätte Beweis erhoben werden können, sondern mit seinem Zulassungsvorbringen lediglich das Unterbleiben der Einholung eines Gutachtens zur "Prognose" als solches rügt. Bei wortwörtlichem Verständnis wäre ein solcher Antrag - wäre er als Beweisantrag gestellt worden - nicht auf den Beweis einer Tatsache, sondern auf eine dem Gericht vorbehaltene und der Beweiserhebung nicht zugängliche rechtliche Würdigung gerichtet und deshalb unzulässig. Die Frage, ob eine Wiederholungsgefahr vorliegt, kann und muss das Gericht nämlich aufgrund der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls selbst beurteilen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (Urteile vom 28.01.1997 - BVerwG 1 C 17.94 -, Buchholz 402.240 § 48 AuslG 1990 Nr. 10 S. 41, vom 16.11.2000 - BVerwG 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 <193> m.w.N., und zuletzt vom 13.12.2012 - BVerwG 1 C 20.11 -, Rn. 23). Bei der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (BVerwG, Urteil vom 04.10.2012 - 1 C 13.11 -, InfAuslR 2013, 63).

Legt man das Zulassungsvorbringen demgegenüber dahingehend aus, dass sich die Beweiserhebung auf einen der rechtlichen Würdigung zugrundeliegenden Tatsachenkern hätte beziehen sollen, so fehlt es mangels Bezeichnung konkreter, unter Beweis gestellter Tatsachen jedenfalls an der gebotenen Substantiierung. Dass ein Fall vorliegt, in dem das Verwaltungsgericht nach dem vorstehenden Maßstab ein kriminalprognostisches Gutachten hätte beauftragen müssen, wird insoweit nicht ausreichend dargelegt. Dies gilt zumal unter Berücksichtigung des Umstands, dass dem Verwaltungsgericht im Ausgangspunkt bereits die Stellungnahme eines psychotherapeutischen Gutachters vorlag, gegenüber der sich die tatsächlichen Umstände - wie ausgeführt - auch im Hinblick auf das spezifische Krankheitsbild des Klägers bis zuletzt nicht signifikant verändert haben.

4. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht aus seiner Rüge, das Verwaltungsgericht habe festgestellt, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU lägen "offensichtlich" vor. Denn hierbei handelt es sich ersichtlich um das Ergebnis seiner eigenen Subsumtion ("nach dem eben Gesagten", UA S. 12).

Ebenso wenig stichhaltig ist die Beanstandung, das Verwaltungsgericht habe "zwingend weniger strikte Maßnahmen" als die Verlustfeststellung prüfen müssen. Der Kläger trägt schon nicht vor, welche dies - bei Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit - hätten sein können, denn für die von ihm insoweit vorgeschlagene Therapieauflage oder sonstige (vom Kläger nicht näher bezeichnete) Auflagen für den weiteren Aufenthalt fehlt es ersichtlich an einer ausländerrechtlichen Rechtsgrundlage. Mit dem bekundeten Bemühen des Klägers um eine ambulante Therapie hat sich das Verwaltungsgericht zudem auseinandergesetzt (UA S. 12) und ist zu dem - auch nach Auffassung des Senats - zutreffenden Ergebnis gelangt, dass der Beginn einer ambulanten Therapie nicht geeignet ist, die gestellte Prognose zugunsten des Klägers zu beeinflussen (vgl. ebenso die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss vom 03.03.2017, in der Gefangenenpersonalakte).

Für die Rüge schließlich, das Verwaltungsgericht hätte sich auch mit den Auswirkungen einer Verlustfeststellung "für Italien" und die dortigen Unionsbürger befassen müssen, lässt der Kläger einen rechtlichen Anknüpfungspunkt vermissen, der im Übrigen auch nicht ersichtlich ist.

5. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Streitwert im Falle einer Verlustfeststellung von Unionsbürgern in den Fällen des § 6 Abs. 1 bzw. Abs. 4 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 28 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - Unionsbürgerrichtlinie) auf 10.000 EUR festzusetzen ist (Beschluss vom 09.09.2016 - 11 S 1414/16 -). Zwar weicht die Rechtsstellung von Unionsbürgern, die den höchsten Ausweisungsschutz im Sinne von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. auch Art. 28 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie) genießen, hiervon ab. In ihren - insbesondere wirtschaftlichen - Auswirkungen unterscheidet sich die Verlustfeststellung ihnen gegenüber indes nicht in einer Weise, dass dies eine weitere Anhebung des Streitwertes rechtfertigen könnte.

Der Beschluss ist unanfechtbar.