OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.10.2018 - 15 B 1361/18
Fundstelle
openJur 2019, 6788
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 6 L 1139/18

Die unmittelbare Umgebung einer Privatwohnung ist von Versammlungen freizuhalten, die nach Art und Dauer geeignet sind, einen mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden psychischen Druck zu erzeugen (sog. "Belagerungssituation").

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,- € festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers mit dem sinngemäßen Antrag,

den angefochtenen Beschluss zu ändern und

dem Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO aufzugeben, weitere Versammlungen der Beigeladenen zum Thema Schwangerschaftsabbruch ("Gebetsvigilien") vor dem Gebäude S. 9 bis 11 in B. vorläufig zu untersagen,

hat keinen Erfolg.

Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen nicht zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung.

Der Antragsteller hat bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht glaubhaft gemacht, dass ihm der geltend gemachte Anordnungsanspruch zusteht.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers handelt es sich bei den von Mitgliedern des Beigeladenen vor dem Haus S. 9 bis 11 abgehaltenen "Gebetsvigilien" um Versammlungen im Sinne von Art. 8 Abs. 1 GG, die nur unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG verboten werden können. Ein Einschreiten wegen unerlaubter Sondernutzung im Sinne von § 18 StrWG NRW kommt deshalb von vornherein nicht in Betracht; im Übrigen wäre der Antragsgegner hierfür aber auch nicht zuständig.

Die im beigeladenen Verein organisierten Teilnehmer der Zusammenkünfte suchen das Haus S. 9 bis 11 erklärtermaßen auf, weil sich dort im Erdgeschoss eine Frauenarztpraxis befindet, die sie als "Abtreibungsstätte" bezeichnen. Dabei beschränken sich die Teilnehmer nicht auf Gebete, sondern tragen auch größere Plakate, die Föten abbilden und die Aufdrucke tragen "MAMA lass mich leben" bzw. "PAPA ich bin dein Junge". Jedenfalls insoweit handelt es sich bei den Vigilien nicht, wie der Beigeladene vorträgt, um eine ausschließlich an Gott gerichtete "Gebetswache", sondern um eine kollektive Meinungskundgabe, die darauf gerichtet ist, die Öffentlichkeit sowie die Betreiber und Besucherinnen und Besucher der Arztpraxis für das Lebensrecht der Ungeborenen bzw. gegen die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen einzunehmen. Diese Meinungskundgabe ist auch nicht nur von untergeordneter Bedeutung, sondern stellt bei objektiver Betrachtung den wahrnehmbaren Kern der Zusammenkünfte dar.

Vgl. in diesem Zusammenhang mit Blick auf § 17 VersG auch VG Berlin, Beschluss vom 23. Juni 2005 - 1 A 105.05 -, juris Rn. 16 ff.

Hiervon ausgehend besteht ein Untersagungsanspruch des Antragstellers auf der Grundlage von § 15 Abs. 1 VersG nur dann, wenn die Versammlung subjektiv-öffentliche Rechte des Antragstellers (als Bestandteil der öffentlichen Sicherheit) unmittelbar gefährdet und überdies die Situation einer Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist.

Vgl. insoweit etwa OVG LSA, Beschluss vom 25. April 2012 - 3 M 100/12 -, juris Rn. 4 f.; Hess. VGH, Beschluss vom 7. Dezember 1993 - 3 TG 2347/93 -, juris Rn. 21 ff.; siehe außerdem OVG S.-H., Beschluss vom 29. August 2018 - 4 MB 95/18 -, juris Rn. 13 ff.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters nach Art. 8 Abs. 1 GG prinzipiell auch die Auswahl des Orts und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst ist. Die Behörde hat lediglich zu prüfen, ob durch die Wahl des konkreten Versammlungsorts Rechte anderer oder sonstige verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter der Allgemeinheit beeinträchtigt werden. Ist dies der Fall, kann der Veranstalter die Bedenken durch eine Modifikation des geplanten Ablaufs ausräumen oder aber es kommen versammlungsrechtliche Auflagen in Betracht, um eine praktische Konkordanz beim Rechtsgüterschutz herzustellen. Art. 8 Abs. 1 GG und dem aus ihm abgeleiteten Grundsatz versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde entspricht es, dass auch bei Auflagen das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters im Rahmen des Möglichen respektiert wird. Ferner ist von Bedeutung, ob durch die Auflage die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung beseitigt werden kann, ohne den durch das Zusammenspiel von Motto und geplantem Veranstaltungsort geprägten Charakter der Versammlung erheblich zu verändern.

Vgl. zu alledem BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2015 - 1 BvQ 25/15 -, juris Rn. 9, Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 -, juris Rn. 64, Beschlüsse vom 2. Dezember 2005 - 1 BvQ 35/05 -, juris Rn. 23 ff., vom 5. September 2003 - 1 BvQ 32/03 -, juris Rn. 27 ff. und vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, juris Rn. 61 - Brokdorf; OVG NRW, Beschlüsse vom 3. November 2017 - 15 B 1370/17 -, juris Rn. 12.

Vorliegend fehlt es bereits an einer Gefährdung von Rechten des Antragstellers.

Zwar kann durch eine Versammlung vor bzw. in der unmittelbaren Umgebung einer Privatwohnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG des Wohnungsinhabers verletzt sein. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt unter anderem einen unantastbaren Bereich privater Lebensführung. Um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen muss dem Einzelnen ein "Innenraum" verbleiben, "in dem er sich selbst besitzt und in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt".

BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 - 1 BvL 19/63 -, juris Rn. 21.

Die unmittelbare Umgebung einer Privatwohnung ist deshalb von Versammlungen freizuhalten, die nach Art und Dauer geeignet sind, einen mit diesem Schutzweck nicht zu vereinbarenden psychischen Druck zu erzeugen (sog. "Belagerungssituation").

Vgl. insofern BVerfG, Beschluss vom 10. September 1987 - 1 BvR 1112/87 -, juris Rn. 6 ff.; OVG LSA, Beschluss vom 25. April 2012 - 3 M 100/12 -, juris Rn. 4 f.; Bay. VGH, Beschlüsse vom 23. Oktober 2008 - 10 ZB 07.2665 -, juris Rn. 15, vom 2. Oktober 2000 - 24 ZS 00.2881 -, juris Rn. 5, und vom 17. Februar 1995 - 21 CS 95.616 -, BayVBl. 1995, 528; Hess. VGH, Beschluss vom 7. Dezember 1993 - 3 TG 2347/93 -, juris Rn. 23; OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 24. Mai 1986 - 7 B 36/86 -, NVwZ 1986, 935.

Aus dem Vortrag der Beschwerde geht aber nicht hervor, dass die seitens des Beigeladenen vor dem Haus S. 9 bis 11 ausgerichteten "Gebetsvigilien" diese Schwelle überschritten. Danach handelt es sich bei dieser Veranstaltung um den Teil einer Vigil, die in der Regel an jedem vierten Donnerstag im Monat durchgeführt wird. An eine jeweils um 10 Uhr im B1. Dom beginnende Messe schließt sich eine Prozession an, die zum Haus S. 9 bis 11 führt, um sodann wiederum im B1. Dom zum Abschluss zu kommen. Der Antragsteller trägt vor, der "Gebetsaufenthalt" vor der Frauenarztpraxis beschränke sich auf den Zeitraum von einer Stunde und umfasse ca. zehn Teilnehmer. Bei dieser Sachlage ist nicht erkennbar, dass die Zusammenkünfte den Antragsteller, der mit seinem elfjährigen Sohn ebenfalls in dem besagten Haus wohnt, in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG oder in dem Recht auf Achtung seines Familienlebens bzw. in seinem Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 GG beeinträchtigen. Die Versammlungen richten sich nicht gegen den Antragsteller, sondern gegen die in seiner Nachbarschaft betriebene Arztpraxis. Bei dieser Sachlage sind sie aus Sicht eines verständigen Dritten nicht geeignet, psychischen Druck auf den Antragsteller auszuüben, der ihm seine Privatwohnung als Rückzugsraum für sich und seine Familie entziehen würde, selbst wenn dabei Plakate mitgeführt werden, die Föten abbilden und die Aufschrift, "MAMA lass mich Leben" bzw. "PAPA ich bin dein Junge" tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).