BVerfG, Beschluss vom 08.06.1998 - 1 BvR 650/97
Fundstelle
openJur 2011, 25464
  • Rkr:
Tenor

Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.Damit erledigen sich die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer, der B... e.V., hat sich im Ausgangsverfahren vergeblich gegen einen vollziehbaren Planfeststellungsbeschluß betreffend die Eisenbahn-Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt gewandt, dessen Verwirklichung die Inanspruchnahme seines Grundeigentums erfordert. Die Verfassungsbeschwerden richten sich unmittelbar insbesondere gegen die Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und mittelbar gegen das Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSchWAG). Gerügt wird insbesondere die Verletzung der Art. 14 und 19 Abs. 4 GG.

II.

Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung liegen nicht vor. Die Verfassungsbeschwerden werfen keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Fragen auf (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt; die Verfassungsbeschwerden haben keine Aussicht auf Erfolg (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, denen die im Bundesschienenwegeausbaugesetz ergangene Bedarfsfestlegung zugrundeliegt, sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Der verfassungsrechtliche Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist nicht verletzt.

a) Aus Art. 14 Abs. 1 GG und dem mit diesem Grundrecht eng verzahnten Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) folgt, daß der staatliche Zugriff auf das Eigentum grundsätzlich der Kontrolle durch die zuständigen Gerichte unterworfen ist; der fachgerichtliche Rechtsschutz darf nur ausnahmsweise aus besonderen Gründen entzogen oder geschmälert werden (vgl. BVerfGE 24, 367 <401 ff.>; 95, 1 <22 f.>). Danach bestehen hier auch im Hinblick auf die enteignungsrechtliche Vorwirkung der Planfeststellung gemäß § 22 Abs. 2 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine verbindliche Festlegung des Verkehrsbedarfs durch das Bundesschienenwegeausbaugesetz.

b) Die Beeinträchtigung des Rechtsschutzes ist im Vergleich zum Rechtsschutz ohne die Vorgabe des § 1 Abs. 1 BSchWAG praktisch kaum meßbar und fällt damit nicht ins Gewicht (so bereits Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 9. Februar 1996 - 1 BvR 1752/95; Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juli 1995 - 2 BvR 2397/94, NVwZ 1996, S. 261).

aa) Das folgt einmal aus der begrenzten Reichweite der gesetzlichen Bedarfsfestschreibung.

Nach der Auslegung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs konkretisiert die gesetzliche Regelung zwar den Bedarf im Sinne der Planrechtfertigung für das Vorhaben mit bindender Wirkung auch für die Kontrolle durch die Gerichte; das schließt die bedarfsbezogene Alternativenprüfung mit ein. Der Verkehrsbedarf stellt jedoch nur einen unter vielen Belangen dar, die bei der Planung von Bundesschienenwegen zu berücksichtigen sind. Nach der vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vertretenen Rechtsauffassung kann eine nach der gesetzlichen Festlegung unter verkehrlichen Aspekten vorzugswürdige Trasse immer noch an entgegenstehenden öffentlichen oder privaten Belangen scheitern; das gilt auch im Hinblick auf eine im Verhältnis zu diesen Belangen vorzugswürdige Alternativtrasse ("Null-Option"). Insbesondere wird auch der für die konkrete Betroffenheit entscheidende "grundstücksgenaue" Verlauf der Trasse erst im Planfeststellungsverfahren bestimmt (vgl. dazu auch BVerwGE 98, 339 <346 f.>; 100, 238 <254 f.>).

Ausgehend davon unterliegt die gesetzliche Bedarfsfestlegung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken mit Blick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Erst die weitere Konkretisierung der Grundsatzentscheidung des Bedarfsgesetzgebers ergibt, ob das Vorhaben überhaupt durchgeführt wird und welche Grundstücke dafür gegebenenfalls in Anspruch genommen werden sollen. Im Rahmen dieser der Planfeststellungsbehörde obliegenden Entscheidung sind Raum, Einzelheiten der Trassenführung und mögliche Varianten sowie alle für und gegen das Vorhaben in seiner konkreten Gestalt sprechenden Belange abzuwägen und zu prüfen, ob das Vorhaben in dieser konkreten Gestalt im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG dem Wohl der Allgemeinheit dient.

bb) Auch soweit die Bindungswirkung der gesetzlichen Bedarfsfestlegung reicht, werden die Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle bei Projekten der vorliegenden Art regelmäßig nicht dadurch wesentlich eingeschränkt, daß die Bedarfsentscheidung in Gesetzesform ergeht.

Die gerichtliche Prüfung ist - auch nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs - nicht gänzlich ausgeschlossen. So ist das Gesetz von den Gerichten daraufhin zu überprüfen, ob die Feststellung des Bedarfs evident unsachlich ist.

Daß der von der Rechtsprechung für die Kontrolle exekutivischer Bedarfsbestimmungen angewandte Maßstab des "vernünftigerweise Gebotenseins" (vgl. BVerwGE 56, 100 <118 f.>) bei der Prüfung des Prognoseergebnisses und der Gewichtung der verschiedenen bedarfsbezogenen Belange bei Großprojekten der vorliegenden Art eine deutlich intensivere gerichtliche Prüfung zugelassen hätte, ist von den Verfassungsbeschwerden schon nicht dargelegt und auch nicht ersichtlich. Die Bedarfsfestlegung nach § 1 Abs. 2 BSchWAG ist nach den Feststellungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs eingebettet in die gesamtstaatliche Bundesverkehrswegeplanung 1992 (vgl. auch § 3 Abs. 2 BSchWAG). Damit handelt es sich um eine verkehrspolitische Leitentscheidung auf einer der individuellen Betroffenheit weit vorgelagerten Ebene. Bei derart übergreifenden, von vielen politischen und wirtschaftlichen Faktoren bestimmten und auf lange Frist ausgerichteten Entscheidungen mit notwendig hohem prognostischem Gehalt stößt die gerichtliche Kontrolle unabhängig von der Rechtsform der Entscheidung an die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 61, 82 <114 f.>; 84, 34 <50> m.w.N.).

c) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG darin sieht, daß das Gemeinwohl überhaupt auf vorgelagerter Ebene durch gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare verkehrspolitische Entscheidungen verbindlich konkretisiert wird, verkennt er den Gewährleistungsgehalt dieses Grundrechts. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht selbst Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern setzt deren Bestehen nach Maßgabe der Rechtsordnung im übrigen voraus (vgl. BVerfGE 61, 82 <110>; 83, 182 <194 f.>). Es ist demnach mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu beanstanden, daß sich staatliche, auf den Raum bezogene Planung nach dem einschlägigen Recht auf verschiedenen Ebenen vollzieht, und größere Projekte in gesamtstaatliche Zielsetzungen eingebunden werden. Eine solche stufenweise Konkretisierung des Gemeinwohlbezugs bestimmter Vorhaben trägt der Komplexität der zu regelnden Materie Rechnung. Der Einzelne hat danach einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz insoweit, als ihm die jeweils gegebene Rechtslage eine Rechtsposition einräumt.

2. Es ist nicht ersichtlich, daß der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bei der Auslegung und Anwendung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes gegen Art. 14 Abs. 3 GG verstoßen hätte.

a) Ohne Erfolg rügt der Beschwerdeführer, Art. 14 Abs. 3 GG sei verletzt, weil die den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrundeliegende Bedarfsfestlegung beziehungsweise der Planfeststellungsbeschluß selbst sonstiges Verfassungsrecht verletzten (vgl. BVerfGE 56, 249 <262>).

aa) Ein Verstoß gegen das in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierte Prinzip der Gewaltenteilung liegt nicht vor.

Die gesetzliche Festlegung des Bedarfs für ein bestimmtes Vorhaben stellt einen Vorgang staatlicher Planung dar. Staatliche Planung ist als solche nicht der Exekutive vorbehalten, sondern kann grundsätzlich auch vom Gesetzgeber wahrgenommen werden (vgl. BVerfGE 95, 1 <16>). Der Gesetzgeber bedurfte auch keiner besonders gewichtigen Gründe des Gemeinwohls, um die Bedarfsfestlegung an sich ziehen zu können. Der Beschwerdeführer verkennt insoweit, daß es vorliegend nicht um eine gesetzliche Detailplanung geht, die das Vorhaben mit enteignungsrechtlicher Vorwirkung "parzellenscharf" festlegt und damit in einen Bereich übergreift, der üblicherweise der mit dem erforderlichen Verwaltungsapparat und Sachverstand ausgestatteten Verwaltung vorbehalten ist (vgl. BVerfGE 95, 1 <17>). Die hier in Rede stehende Bedarfsfestlegung stellt eine verkehrspolitische Leitentscheidung auf gesamtstaatlicher Ebene dar. Eine solche Materie ist ihrer Natur nach geeignet, gesetzlich geregelt zu werden; dies stellt mit Blick auf das Prinzip der Gewaltenteilung eine ausreichende Rechtfertigung für das gesetzgeberische Tätigwerden dar (vgl. BVerfGE 95, 1 <16>).

Soweit der Beschwerdeführer die Möglichkeiten des Gesetzgebers zur notwendigen Fortschreibung planerischer Entscheidungen grundsätzlich in Frage stellen sollte, kann dem nicht gefolgt werden. Allerdings ist staatliche Planung auf konkrete Erfüllung angelegt und kann daher durch abweichende tatsächliche Entwicklungen eher in Frage gestellt werden, als der abstrakt-generelle Rechtssatz. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber von vornherein nicht in der Lage wäre, flexibel auf tatsächliche Entwicklungen zu reagieren und die einmal getroffene Entscheidung gegebenenfalls zu korrigieren. Das zeigt gerade das vom Beschwerdeführer angegriffene Bundesschienenwegeausbaugesetz. Gemäß § 4 Abs. 1 BSchWAG prüft der Bundesminister für Verkehr nach Ablauf von jeweils fünf Jahren, ob der Bedarfsplan der zwischenzeitlich eingetretenen Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung anzupassen ist; auch die Anpassung erfolgt durch Gesetz. Unvorhergesehenem Bedarf, insbesondere aufgrund einer Änderung der Verkehrsstruktur, trägt § 6 BSchWAG Rechnung. Damit hat der Gesetzgeber Voraussetzungen geschaffen, die die bedarfsgerechte Fortschreibung der Planung gewährleisten sollen.

bb) Die Rüge, der Planfeststellungsbeschluß und damit auch die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs verstießen gegen Art. 14 Abs. 3 GG, weil die private Vorfinanzierung des Projektes mit Art. 110 Abs. 1 GG und Art. 115 Abs. 1 GG unvereinbar sei, geht fehl. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, daß die Art der Finanzierung Gegenstand des Planfeststellungsbeschlusses ist.

b) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat bei der Auslegung und Anwendung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes die Bedeutung und Tragweite des Gemeinwohlerfordernisses nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG nicht verkannt. Das Gericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß dem Gesetzgeber bei der Festlegung des Bedarfs für bestimmte Verkehrsprojekte ein weiter Gestaltungs- und Prognosespielraum offensteht, der die gerichtliche Prüfung der sachlichen Rechtfertigung dieser Entscheidung auf eine Evidenzkontrolle beschränkt (vgl. BVerfGE 95, 1 <23> m.w.N.). Insoweit hat der Beschwerdeführer die Grundrechtsverletzung nicht substantiiert gerügt. Das Vorbringen, der Gesetzgeber habe diesen Spielraum mit der Entscheidung zugunsten einer Streckenführung über Ingolstadt (anstelle der "Augsburg-Variante") überschritten, ist ersichtlich nicht hinreichend.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung erledigen sich auch die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.