BVerfG, Beschluss vom 26.06.2003 - 1 BvR 1152/02
Fundstelle
openJur 2011, 25226
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. April 2002 - 2 A 2122/00 - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, welche verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Beurteilung der Erfolgsaussichten bei der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe zu stellen sind.

I.

1. Die Beschwerdeführer erstrebten im Ausgangsverfahren die Erteilung eines Aufnahmebescheides nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Im Jahre 1994 erhoben sie nach erfolgloser Durchführung des Vorverfahrens bei dem Verwaltungsgericht Klage. Das Verwaltungsgericht bewilligte den Beschwerdeführern mit Beschluss vom 9. September 1998 für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe und ordnete ihnen ihren Prozessbevollmächtigten zur Wahrnehmung ihrer Rechte bei. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 1. März 2000 ab. Zur Begründung führte es aus, in der Person des Beschwerdeführers zu 2 liege der Ausschlussgrund des § 5 Nr. 2 Buchstabe b BVFG vor, da er im Aussiedlungsgebiet den Rang eines Oberst bekleidet habe. Hinsichtlich der Beschwerdeführerinnen zu 1 und 3 greife deshalb der Ausschlusstatbestand des § 5 Nr. 2 Buchstabe c BVFG ein.

2. Hierauf beantragten die Beschwerdeführer am 7. April 2000 die Zulassung der Berufung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit Beschluss vom 9. November 2001 ließ das Oberverwaltungsgericht die Berufung der Beschwerdeführer ohne nähere Begründung zu. Am 23. Januar 2002 bestimmte der Vorsitzende Richter am Oberverwaltungsgericht den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19. April 2002 und teilte den Beschwerdeführern mit, das persönliche Erscheinen des Beschwerdeführers zu 2 in der mündlichen Verhandlung sei ratsam. Erfahrungsgemäß werde ihm hierfür ein Besuchsvisum erteilt. Sollte die Erteilung eines Visums abgelehnt werden, werde um einen Hinweis gebeten. Sollte dann das persönliche Erscheinen angeordnet werden, sei erfahrungsgemäß nur mit einem auf die Ausreise zum Termin beschränkten Visum zu rechnen. Hinsichtlich des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werde um die Vorlage der entsprechenden Nachweise gebeten. Am 13. März 2002 überreichten die Beschwerdeführer dem Oberverwaltungsgericht die angeforderten Nachweise, die zuvor aus der Russischen Föderation nach Deutschland übersandt und dort übersetzt werden mussten. Am 25. März 2002 wurde dem Oberverwaltungsgericht des Weiteren eine Bescheinigung über den Nebenverdienst des Beschwerdeführers zu 2 übersandt. Nach den - im Verlauf des Verfahrens nicht in Zweifel gezogenen - Angaben der Beschwerdeführer betrug ihr Familieneinkommen seinerzeit ca. 400 DM; verwertbares und einsetzbares Vermögen existierte nicht.

3. Ohne über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu entscheiden, führte das Oberverwaltungsgericht am 19. April 2002 eine mündliche Verhandlung durch, bei welcher der Beschwerdeführer zu 2 anwesend war. Die mündliche Verhandlung begann ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung um 10.15 Uhr und dauerte bis 14.15 Uhr. Hierbei wurde der Beschwerdeführer zu 2 ausführlich befragt. Das Oberverwaltungsgericht wies die Berufung mit Urteil vom 19. April 2002 zurück und stützte sein Urteil ebenfalls auf den Versagungsgrund des § 5 Nr. 2 Buchstaben b und c BVFG. Die Revision wurde nicht zugelassen. Die Beschwerdeführer haben einen Antrag auf Zulassung der Revision gestellt, über den das Bundesverwaltungsgericht noch nicht entschieden hat.

4. Mit - hier allein im Streit stehenden - Beschluss vom 19. April 2002 lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag der Beschwerdeführer auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren ab, "da die Berufung aus den Gründen des Urteils vom heutigen Tage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet". Urteil, Beschluss und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung wurden den Beschwerdeführern am 27. Mai 2002 zugestellt.

5. Am 26. Juni 2002 haben die Beschwerdeführer gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe versagenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerde erhoben, mit der sie eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG rügen. Sie führen aus, die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe hätten unstreitig vorgelegen. Bereits der Umstand, dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen habe, hätte Anlass sein müssen, ihnen Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zu bewilligen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage zu den Anforderungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 9, 124 <130 f.>; 10, 264 <270>; 22, 83 <87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394>; 67, 245 <248>; 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>).

1. Die angefochtene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebieten Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 9, 124 <130 f.>; 10, 264 <270>; 22, 83 <87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394>; 67, 245 <248>; 78, 104 <117 f.>). Verfassungsrechtlich ist es dabei unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>). Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, jedoch dann, wenn sie die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unter Verkennung der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit überspannen und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfG, NJW 2000, S. 1936 <1937>).

b) Diesen Anforderungen hat das Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG in seiner Entscheidung nicht genügt. Es hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe allein mit der Begründung abgelehnt, dass "die Berufung aus den Gründen des Urteils vom heutigen Tage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet". Diese Begründung wird dem Zweck der Prozesskostenhilfe, auch Unbemittelten den Zugang zum Rechtsschutz zu ermöglichen, nicht gerecht. Wäre nämlich Maßstab des Tatbestandsmerkmals "Aussicht auf Erfolg" (§ 114 ZPO) der tatsächliche Erfolg der Prozessführung in der Hauptsache, so könnte Prozesskostenhilfe regelmäßig nur bewilligt werden, wenn der Unbemittelte ihrer gar nicht bedarf. Namentlich werden ihm im Falle einer erfolgreichen Prozessführung überhaupt keine Gerichtskosten und zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendige Aufwendungen auferlegt, da der Erfolg in der Hauptsache regelmäßig mit der Kostentragungspflicht des Unterliegenden einhergeht (vgl. § 154 Abs. 1 VwGO). Folgerichtig soll die Prozesskostenhilfe nicht den Erfolg in der Hauptsache prämieren, sondern den Rechtsschutz nur ermöglichen. Hiervon kann aber nicht die Rede sein, wenn über einen spruchreifen Bewilligungsantrag erst zusammen mit der Hauptsache entschieden wird und die Entscheidung zudem mit einer Verkennung der Bewilligungsvoraussetzungen einhergeht.

Hinzu tritt im vorliegenden Fall, dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung auf Antrag der Beschwerdeführer zugelassen hat und damit vom Vorliegen eines der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO a.F. ausgegangen ist und dass das Erscheinen des Beschwerdeführers zu 2 zum Zwecke seiner ausführlichen Befragung in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich als ratsam bezeichnet wurde. Hierin tritt klar zu Tage, dass das Oberverwaltungsgericht die Erfolgsaussichten der Klage zu einem früheren Zeitpunkt des Berufungsverfahrens mindestens für offen hielt. Dies hätte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gerechtfertigt. Demgegenüber durfte die nach einer vierstündigen mündlichen Verhandlung gewonnene Erkenntnis, dass die Klage im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg hat, unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten kein Grund mehr sein, der Klage die Erfolgsaussichten - gewissermaßen nachträglich - abzusprechen.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberverwaltungsgericht bei Beachtung der sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Damit erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführer auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwaltes für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde (vgl. BVerfGE 62, 392 <397>; 71, 122 <136 f.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.