BSG, Urteil vom 26.07.2007 - B 13 R 4/06 R
Fundstelle
openJur 2011, 95875
  • Rkr:

1. Der Rentenversicherungsträger verstößt auch dann gegen seine Pflicht zum Hinweis auf eine mögliche Antragstellung (§ 115 Abs 6 SGB 6), wenn er zwar ein Hinweisschreiben absendet, dieses den Versicherten aber nicht erreicht. 2. Für ein solches Hinweisschreiben besteht weder eine Zugangsvermutung noch gelten die Grundsätze des Anscheinsbeweises.

Tatbestand

Der Kläger, der im Dezember 2000 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, begehrt die Zahlung seiner Regelaltersrente (RAR) ab 1.1.2001, obwohl er erst im April 2002 einen Rentenantrag gestellt hat.

Der am 1935 geborene Kläger bestand im Jahr 1966 die Prüfung zum Diplom-Kaufmann und im Jahre 1974 die zum Steuerberater. Im Anschluss daran war er bis 1989 als Steuerberater tätig; im Jahre 1990 gab er eine eidesstattliche (Offenbarungs-)Versicherung ab. Nach dem Kontospiegel der damals für den Kläger zuständigen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) wurde an ihn am 11.12.2000 ein Anschreiben nach § 115 Abs 6 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) abgesandt.

Anfang April 2002 beantragte der Kläger bei der BfA "Altersrente für langjährig Versicherte wegen Vollendung des 63. Lebensjahres". Die Beklagte ermittelte für den Kläger 257 Beitragsmonate sowie 96 Monate als Ausfallzeit, insgesamt 353 Monate an rentenrechtlichen Zeiten. Sie gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 18.9.2002 RAR ab 1.4.2002 (Zahlbetrag zunächst EUR 109,41/Monat). Im Widerspruchsverfahren beantragte der Kläger die Zahlung von Rente "ab 1.1.2000", weil die RAR mit dem Monat beginne, der auf die Vollendung des 65. Lebensjahres folge. Die Beklagte wies den Rechtsbehelf durch Widerspruchsbescheid vom 11.3.2003 zurück. Ein Anspruch auf einen früheren Rentenbeginn nach dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch entfalle, weil der Kläger mit maschinellem Schreiben der BfA vom 11.12.2000 auf die Möglichkeit der Gewährung von RAR hingewiesen worden sei.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Konstanz mit Urteil vom 22.4.2004 abgewiesen: Ein Herstellungsanspruch stehe dem Kläger nicht zur Seite. Die BfA habe den Kläger mit Schreiben vom 11.12.2000 iS des § 115 Abs 6 SGB VI hingewiesen; unerheblich sei, dass er vortrage, ein derartiges Schreiben nicht erhalten zu haben, denn der BfA könne eine Pflichtverletzung nicht vorgeworfen werden.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat sich mit Urteil vom 23.11.2004 der Argumentation des SG angeschlossen und die Berufung zurückgewiesen.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger inhaltlich eine Verletzung des § 115 Abs 6 SGB VI. Die Beklagte genüge ihrer Hinweispflicht nach dieser Vorschrift nicht, wenn sie die notwendigen Hinweisschreiben im Rahmen ihrer automatisierten Massenverwaltung verschicke und damit nicht das Risiko der Postzustellung wie nach § 37 Abs 2 Halbsatz 2 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) trage. Der Anspruch auf Erteilung eines Hinweises nach § 115 Abs 6 SGB VI verkümmere zu bloßer Theorie, wenn der Betroffene nicht die Möglichkeit habe, von dem notwendigen Inhalt Kenntnis zu nehmen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. November 2004 und das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 22. April 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. September 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. März 2003 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Regelaltersrente ab 1. Januar 2001 in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, dass der Hinweis eines Rentenversicherungsträgers nach § 115 Abs 6 SGB VI außerhalb eines Verwaltungsverfahrens iS des § 8 SGB X erfolge; demgemäß könne die Regelung des § 37 SGB X auch nicht analog herangezogen werden. Im Übrigen genüge auch im Rahmen dieser Vorschrift nicht das schlichte Bestreiten, eine Postsendung erhalten zu haben.

Gründe

Die Revision des Klägers hat im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits Erfolg.

Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann nicht entschieden werden, ob dem Kläger der geltend gemachte Herstellungsanspruch aufgrund einer Verletzung der Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 SGB VI zusteht oder nicht.

Zu Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, dass die Rentenversicherungsträger (hier: die damals zuständige BfA) ihrer Hinweispflicht nach der genannten Vorschrift bereits durch Absendung eines entsprechenden Hinweisschreibens genügten; vielmehr muss der Hinweis dem Berechtigten auch zur Kenntnis gekommen sein.

Nach § 115 Abs 6 SGB VI sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. In gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung kann bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen solche Hinweise erfolgen sollen.

Nach § 1 dieser Richtlinien (abgedruckt zB im VerbKomm, § 115 SGB VI, Anlage) werden Versicherte, die ausweislich ihres Versicherungskontos die allgemeine Wartezeit erfüllen und eine Rente der Rentenversicherung weder beziehen noch beantragt haben, spätestens im Monat der Vollendung des 65. Lebensjahrs darauf hingewiesen, dass sie RAR rechtzeitig erhalten können, wenn sie diese bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragen, in dem sie das 65. Lebensjahr vollenden.

Zu Recht hat die damals zuständige BfA im Fall des Klägers eine entsprechende Hinweispflicht angenommen; demzufolge hat sie auch, wie vom LSG festgestellt, am 11.12.2000, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem 65. Geburtstag des Klägers am 2000, an ihn ein entsprechendes Hinweisschreiben abgeschickt. Damit allein hat sie ihrer Hinweispflicht jedoch nicht genügt.

Denn ein derartiges Hinweisschreiben erfüllt seinen Zweck nicht, wenn es den Berechtigten nicht erreicht. Nichts anderes folgt aus dem Sinn des Wortes "hinweisen" (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Aufl 1999: "jemandes Aufmerksamkeit auf etwas lenken, jemanden <besonders durch eine Äußerung> auf etwas aufmerksam machen").

Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 22.10.1996, BSGE 79, 168, 173 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1; so auch BSG 5. Senat vom 7.7.1998, SozR 3-2600 § 115 Nr 3 S 22; BSG 5. Senat vom 22.10.1998, SozR 3-2600 § 115 Nr 4 S 27), dass den Berechtigten nach § 115 Abs 6 SGB VI ein subjektives Recht (Anspruch) auf Erteilung des Hinweises zusteht. Dies entspricht Sinn und Zweck dieser Vorschrift, die nicht ausreichend Informierten vor Nachteilen aus dem Antragsprinzip zu bewahren. Ein subjektiv-öffentliches Recht auf einen Hinweis kann aber nicht erfüllt werden, wenn dieser Hinweis nicht beim Berechtigten ankommt. Ist das Hinweisschreiben nicht zugegangen, hat der Rentenversicherungsträger seine Hinweispflicht nicht erfüllt. Dem entspricht die Rechtslage auch für andere Schreiben der Leistungsträger an Versicherte, zB ein Arbeitsangebot (BSG vom 3.6.2004, B 11 AL 71/03 R, SGb 2004, 479) und für gerichtliche Hinweise in weiteren Zusammenhängen (zB zur Anhörung vor der Entscheidung über eine Berufung im vereinfachten Beschlussverfahren: BSG vom 21.6.2000, SozR 3-1500 § 153 Nr 11 mwN und vom 9.4.2003 - B 5 RJ 210/02 B; Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 25.4.2005, Buchholz 310 § 130a VwGO Nr 72 mwN) .

Ob das Hinweisschreiben dem Kläger zugegangen ist, hat das LSG nicht festgestellt. Seiner Rechtsansicht folgend, hat es diesen Umstand für unerheblich gehalten. Soweit es darüber hinaus ausgeführt hat, "nach den sog Regeln des Anscheinsbeweises (müsse) davon ausgegangen werden", dass eine "Zustellung" des Schreibens erfolgt sei, weil bei der BfA kein Rücklauf zu verzeichnen sei, beruht diese Feststellung auf einem Rechtsirrtum. Die Rechtsprechung hat bereits geklärt, dass ohne eine nähere Regelung weder eine Vermutung für den Zugang eines mit einfachem Brief übersandten Schreibens besteht (Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 15.5.1991 - 1 BvR 1441/90, NJW 1991, 2757; ebenso bereits Bundesfinanzhof <BFH> vom 23.9.1966, BFHE 87, 203) noch insoweit die Grundsätze des Anscheinsbeweises gelten (BFH vom 14.3.1989, BFHE 156, 66 unter Aufgabe früherer Rechtsprechung: S 73; Bundesgerichtshof <BGH> vom 5.4.1978 - IV ZB 20/78, VersR 1978, 671; BGH vom 24.4.1996 - VIII ZR 150/95, NJW 1996, 2033, 2035 aE) .

Auch wenn nach der Lebenserfahrung die weitaus größte Anzahl der abgesandten Briefe beim Empfänger ankommt, ist damit lediglich eine mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit für den Zugang einer Briefsendung gegeben. Der Anscheinsbeweis ist aber nicht schon dann geführt, wenn zwei verschiedene Möglichkeiten eines Geschehensablaufs in Betracht zu ziehen sind, von denen die eine wahrscheinlicher ist als die andere (BGH vom 27.5.1957, BGHZ 24, 308, 312). Denn die volle Überzeugung des Gerichts vom Zugang lässt sich auf eine - wenn auch große - Wahrscheinlichkeit nicht gründen (BFH vom 14.3.1989, BFHE 156, 66, 71).

Diese Regeln gelten unabhängig davon, ob das übersandte Schriftstück einen Verwaltungsakt enthält und somit die Bestimmung des § 37 Abs 2 SGB X (oder eine der Parallelvorschriften des § 41 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz bzw § 122 Abs 2 Abgabenordnung) unmittelbar anwendbar ist. Hiernach gilt die Fiktion, ein schriftlicher Verwaltungsakt sei am dritten Tage nach der Abgabe zur Post bekannt gegeben, nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang und seinen Zeitpunkt nachzuweisen. In diesem Sinne aber bestehen schon dann "Zweifel", wenn der Adressat den Zugang - schlicht - bestreitet (BFH vom 14.3.1989, BFHE 156, 66, 71). Im Ergebnis nichts anderes gilt jedoch in anderen Rechtsbereichen; auch im Zivilrecht zB hat der Erklärende (bzw jener, der sich hierauf beruft) den Zugang einer Erklärung zu beweisen (so zB zur Mängelanzeige nach § 377 Handelsgesetzbuch: BGH vom 13.5.1987, BGHZ 101, 49, 55; dort auch dazu, dass eine Mängel"anzeige" empfangsbedürftig ist) .

Das LSG wird daher festzustellen haben, ob dem Kläger das Hinweisschreiben zugegangen ist. Eine Nichtaufklärbarkeit geht insoweit zu Lasten der Beklagten.

Verlangt man, wovon die Beklagte in ihrer Revisionserwiderung auszugehen scheint, vom Adressaten eines angeblich nicht eingetroffenen einfachen Briefes mehr als ein schlichtes Bestreiten, das Schreiben erhalten zu haben - etwa das substantiierte Vorbringen von Umständen, die ein Abweichen von der "Erfahrung des täglichen Lebens" rechtfertigen, dass eine gewöhnliche Postsendung den Empfänger erreicht (so zB Engelmann in: von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 37 RdNr 13), bedeutet dies eine Überspannung der an den Adressaten zu stellenden Anforderungen. Denn ihm ist im Regelfall schon aus logischen Gründen nicht möglich, näher darzulegen, ihm sei ein per einfachem Brief übersandtes Schreiben nicht zugegangen (zum Grundsatz "negativa non sunt probanda" s auch BFH vom 14.3.1989, BFHE 156, 66, 71 mwN; im Einzelnen hierzu: Hebeler, DÖV 2006, 112, 114 f). Anders ist die Sachlage beim behaupteten verspäteten Zugang (hierzu zB BVerwG vom 24.4.1987 - 5 B 132/86) : Hier kann der Empfänger vortragen, wann genau und unter welchen Umständen er die Erklärung erhalten hat.

Da das LSG davon ausgegangen ist, die damals zuständige BfA sei ihrer Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 SGB VI bereits durch Versendung des Hinweisschreibens nachgekommen, muss der Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung der Frage des tatsächlichen Zugangs an das LSG zurückverwiesen werden.

Bei der Entscheidung hierüber mag das LSG auch den Umstand würdigen, dass der Kläger bereits in einem früheren Verfahren - nach der Beweiswürdigung des damals zuständigen Gerichts zu Unrecht - behauptet hat, eine Postsendung (damals: einen Verwaltungsakt) nicht erhalten zu haben (vgl das in den Verwaltungsakten befindliche Urteil des SG Berlin vom 27.1.1994 - S 76 Kr 741/92, Umdruck S 7 f) .

Aber auch dann, wenn davon auszugehen sein sollte, dass gegenüber dem Kläger die Hinweispflicht nach § 115 Abs 6 SGB VI nicht erfüllt wurde, steht damit nicht fest, dass dieser im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen wäre, als habe er rechtzeitig die RAR beantragt. Denn ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch setzt die Kausalität der Pflichtverletzung zum eingetretenen sozialrechtlichen Schaden voraus (vgl zB Senatsurteil vom 23.5.1996, SozR 3-5750 Art 2 § 6 Nr 15 S 52), konkret also, dass der Kläger dann, wenn er den Hinweis erhalten hätte, rechtzeitig den Rentenantrag gestellt hätte. Insoweit trägt der Kläger die negative Feststellungslast (Beweislast). War jedoch der Kläger zB auch ohne Hinweisschreiben über die Möglichkeit einer entsprechenden Rentenantragstellung informiert, könnte dies dagegen sprechen, dass er auf ein Hinweisschreiben den Rentenantrag tatsächlich gestellt hätte. Angesichts des Bildungsstands des Klägers (Diplom-Kaufmann, früherer Steuerberater, langjähriger Beitragszahler als Selbständiger, der die Beiträge langjährig persönlich durch Scheckeinwurf bei der BfA beglichen hat, mit der er im Übrigen noch in den Jahren 2000/2001 wegen der Abrechnung einer Beitragserstattung in Verbindung mit dem Verrechnungsersuchen einer Krankenkasse umfangreich korrespondiert hat und ihr ua eine "bedeutende Ignoranz" vorgeworfen hat, vgl Schreiben des Klägers vom 22.4.2000) kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass er über die Möglichkeit einer "Rente mit 65" nicht informiert war. Selbst wenn unmittelbar kein Grund dafür ersichtlich ist, warum der Kläger auf die - wenn auch nicht sehr hohe - Rentenzahlung zunächst bewusst hätte verzichten wollen, kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass er hierzu Anlass hatte - zB um den entsprechenden Vermögenswert, aus welchen Gründen auch immer, erst später erkennbar zu machen.

Sollte die Klage Erfolg haben, wäre die RAR ohne den erhöhten Zugangsfaktor (§ 77 Abs 1, 2 Nr 2 Buchst b SGB VI) zu berechnen (vgl Senatsurteil vom 8.12.2005, SozR 4-6580 Art 19 Nr 2 RdNr 19) .

Das LSG wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.