VG Düsseldorf, Urteil vom 16.11.2010 - 3 K 8653/08
Fundstelle
openJur 2011, 74046
  • Rkr:
Tenor

Es wird festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des (seinerzeitigen) Ministeriums fürArbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2008 betreffend Teile des zwischen denBeigeladenen abgeschlossenen Entgelttarifver-trags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe in Nordrhein-Westfalenvom 19. Februar 2008 - in Kraft getreten am 1. März 2008 - rechts-widrig ist und den Kläger inseinen Rechten verletzt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen,die diese jeweils selbst tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckendenBetrags vorläufig vollstreckbar.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der im September 2008 ausgesprochenen Allgemeinverbindlicherklärung eines zwischen den Beigeladenen im Februar 2008 geschlossenen und Anfang März 2008 in Kraft getretenen Entgelttarifvertrags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe in NRW. Abweichend von dem Vorgängertarifvertrag sah dieser unter Wegfall der vormaligen Tarifgruppe 1 nur noch neun Tarifgruppen (2 - 10) vor; hiervon wurde nur die Tarifgruppe 2 (a - einfachste Tätigkeiten - früher Tarifgruppe 1 mit 5,34 Euro brutto / Stunde bzw. 902,00 Euro brutto / Monat - 6,30 Euro brutto / Stunde bzw. 1.065,00 Euro brutto / Monat sowie b - Tätigkeiten, die durch Anlernen erworben werden - früher Tarifgruppe 2 mit 7,22 Euro brutto / Stunde bzw. 1.220,00 Euro brutto / Monat - und a ab dem 13. Beschäftigungsmonat mit 7,44 Euro brutto / Stunde bzw. 1.257,00 Euro brutto / Monat) für allgemeinverbindlich erklärt.

Der Kläger ist Franchisenehmer der I GmbH aus M und Inhaber eines dem Franchisekonzept entsprechenden Pizzalieferdienstes in N mit 34 Arbeitnehmern (2008).

Er hat am 13. Dezember 2008 Klage erhoben.

Zu deren Begründung führt der Kläger aus, dass die nach § 5 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) erforderlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung nicht vorgelegen hätten. Der seinerzeitige Arbeitsminister Laumann habe sie allein aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ohne ausreichende Prüfung angenommen; dies gelte sowohl hinsichtlich des erforderlichen Beschäftigtenquorums als auch im Hinblick auf das öffentliche Interesse. Die zu Grunde gelegten Zahlen seien insgesamt fehlerhaft. Sie würden schon durch die eigene Internetseite des Beigeladenen zu 1. widerlegt; die Zahlen des Landesamts für Daten und Statistik (LDS NRW) seien wegen der Freiwilligkeit der Meldungen nicht verlässlich und zudem - da von September 2004 - veraltet. Auf der Grundlage der berufsgenossenschaftlichen Zahlen sei für 2008 mindestens von einer Beschäftigtenzahl von ca. 240.000 auszugehen; mit einen Zuschlag für die Teilzeitbeschäftigten ergebe sich eine geschätzte Gesamtbeschäftigtenzahl von wenigstens 280.000 bzw. mindestens 295.000. Ein Abzug der anderweitig tarifgebundenen Beschäftigten sei bei der Berechnung der sog. großen Zahl nicht vorzunehmen. Die Umsetzung des für allgemeinverbindlich erklärten Entgelttarifvertrags, der über zwei Drittel seines Gesamtpersonals betreffe, beeinträchtige ihn - den Kläger - in seinen grundrechtlich geschützten Freiheiten; die Betriebsfortführung erscheine angesichts von Lohnsteigerungen in Höhe von mehr als 37 % wirtschaftlich sinnlos.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des (seinerzeitigen) Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. September 2008 betreffend Teile des zwischen den Beigeladenen abgeschlossenen Entgelttarifvertrags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 19. Februar 2008 - in Kraft getreten am 1. März 2008 - rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die Klage bereits für unzulässig und verweist insoweit auf die arbeitsrechtliche Literatur, die ein Feststellungsinteresse wegen der Möglichkeit der Inzidentkontrolle einer Allgemeinverbindlicherklärung im Rahmen einer konkreten arbeits- bzw. bürgerlichrechtlichen Streitigkeit verneine. Dies gelte erst recht, weil der Kläger den Tariflohn tatsächlich gar nicht zahle, sondern sich vorsätzlich rechtswidrig verhalte. Auch eine Zahlungsklage eines Mitarbeiters des Klägers sei nicht anhängig, sodass dieser letztlich lediglich ein von jeder eigenen rechtlichen Betroffenheit losgelöstes gerichtliches Rechtsgutachten erstrebe.

Die Klage sei überdies unbegründet, da die Allgemeinverbindlicherklärung rechtmäßig sei. Dies ergebe sich bereits aus dem in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung in diesem Zusammenhang anerkannten Beweis des ersten Anscheins, der auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren Geltung beanspruche. Unabhängig davon sei die Ermittlung der maßgeblichen Zahlen ordnungsgemäß erfolgt. Dies gelte zunächst für die sog. große Zahl. Auf der Grundlage der vom Beigeladenen zu 1. mitgeteilten Zahlen und des Statistischen Jahrbuchs NRW 2007 sei eine Zahl von 151.000 zukünftig vom fachlichen, persönlichen und räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags erfassten Beschäftigten errechnet worden; hierbei seien von den insgesamt im Gastgewerbe tätigen 215.000 Menschen die 44.000 Unternehmer und die 20.000 anderweitig tarifgebundenen Beschäftigten der Systemgastronomie in Abzug gebracht worden. Richtigerweise nicht abgezogen worden seien hingegen die Arbeitnehmer der höheren Tarifgruppen. Ebenso zutreffend sei - unter Rückgriff auf die Zahlen des Beigeladenen zu 1. - die sog. kleine Zahl ermittelt worden; die eingesetzte Zahl von (mindestens) 17.850 Mitgliedsbetrieben ergebe sich auch aus der Rückantwort des Beigeladenen zu 1. an den Bundesverband in Berlin (vom 3. Juli 2008), die den Mitgliederstand per 1. Juli 2008 aufliste. Hiervon ausgehend habe sich die Zahl der von tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer insgesamt auf 123.596 belaufen. Die Zahlen der Berufsgenossenschaft hätten hingegen im Hinblick auf das 50 % - Quorum keine Aussagekraft, da in deren Daten neben Arbeitnehmern ebenso Unternehmer sowie Ein-Mann- und Familienbetriebe enthalten seien; zudem habe die Berufsgenossenschaft eine hohe Fluktuation zu verzeichnen.

Die beiden Beigeladenen stellen keinen Antrag.

Der Beigeladene zu 1. erläutert, dass die Zahl von 44.000 Unternehmern der Handels- und Gaststättenzählung von 1993 entstamme, die jeweils nur fortgeschrieben worden sei.

Über die Allgemeinverbindlichkeit des neuen - seit dem 1. Juni 2010 geltenden - Entgelttarifvertrags ist derzeit noch nicht entschieden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg, denn sie ist sowohl zulässig (I.) als auch begründet (II).

I. Der Kläger kann sein Begehren zulässigerweise in Gestalt einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO verfolgen. Er begehrt die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind unter einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis die rechtlichen Beziehungen zu verstehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt auf Grund einer öffentlichrechtlichen Norm für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben. Daran fehlt es, wenn nur abstrakte Rechtsfragen wie die Gültigkeit einer Norm zur Entscheidung gestellt werden. Auch bloße Vorfragen oder unselbstständige Elemente eines Rechtsverhältnisses können nicht Gegenstand einer Feststellungsklage sein.

Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 28. Januar 2010 - 8 C 38.09 -, juris, Rn. 32.

Entgegen der Auffassung des Beklagten geht es vorliegend nicht um ein ("von jeder eigenen rechtlichen Betroffenheit losgelöstes") unzulässiges gerichtliches Rechtsgutachten, sondern um die rechtlichen Beziehungen zwischen dem durch die Allgemeinverbindlicherklärung vom 5. September 2008 unmittelbar verpflichteten Kläger und dem durch das seinerzeitige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vertretenen Beklagten, der von seiner hoheitlichen Befugnis nach § 5 Abs. 1 TVG Gebrauch gemacht hat. Die eingehenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Einordnung einer Allgemeinverbindlicherklärung als "Rechtsetzungsakt eigener Art" und zur Zulässigkeit einer hiergegen gerichteten Feststellungsklage eines Arbeitgeberverbands in der vorgenannten Entscheidung

- vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 34 ff. -

hält die Kammer auf die vorliegende Konstellation für übertragbar, zumal das Bundesverwaltungsgericht offenbar davon ausgeht, dass ein nunmehr normunterworfener, bisher nicht tarifgebundener Arbeitgeber hierdurch (in Gestalt der unmittelbaren Beschränkung der Vertragsfreiheit und der Koalitionsfreiheit) in eigenen Rechten verletzt sein kann; dort entscheidungserheblich war (die zusätzliche Frage), ob dies auch für einen Arbeitgeberverband gilt, der durch die Allgemeinverbindlicherklärung weder berechtigt noch rechtlich verpflichtet wird.

Vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 45

Die Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts zur möglichen Rechtsverletzung eines unmittelbar Normunterworfenen werden durch die seitens des Beklagten angeführte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Tarifeinheit aus Sicht der Kammer nicht berührt.

Da sich der Kläger auf seine negative Koalitionsfreiheit und seine Berufsfreiheit beruft, hat er ein geschütztes rechtliches Interesse daran, die (bereits im Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung in dem durch § 5 Abs. 2 TVG eröffneten Rahmen) angezweifelte Rechtmäßigkeit dieser Beschränkung gerichtlich durch eine Feststellungsklage überprüfen zu lassen. Dem steht nicht entgegen, dass er den Tariflohn nach dem für allgemeinverbindlich erklärten Entgelttarifvertrag unstreitig gar nicht zahlt, denn für die Frage der Zulässigkeit kann es nicht darauf ankommen, ob sich ein Kläger "rechtstreu" oder "rechtswidrig" verhält. So ist es für die Zulässigkeit einer gegen einen belastenden Verwaltungsakt gerichteten Anfechtungsklage selbstverständlich irrelevant, ob sich der Betroffene an die Regelung hält oder nicht; wieso dies bei einer gegen einen "Rechtssetzungsakt eigener Art" gerichteten Feststellungsklage eines unmittelbar normunterworfenen und verpflichteten direkten Adressaten einer Allgemeinverbindlicherklärung anders sein sollte, erschließt sich der Kammer nicht.

Das Feststellungsinteresse besteht ungeachtet des Umstands fort, dass der zu Grunde liegende Entgelttarifvertrag mit Wirkung vom 1. Juni 2010 an abgelöst worden ist und die Allgemeinverbindlicherklärung des neuen Tarifvertrags unmittelbar bevorsteht, denn auch dann würde sich die streitbefangene Allgemeinverbindlicherklärung nicht erledigen; sie bliebe vielmehr Rechtsgrund für den durch den Beklagten bestimmten Zeitraum ihrer Gültigkeit; angesichts der im Hinblick auf das aktuelle Allgemeinverbindlicherklärungsverfahren ganz konkreten Wiederholungsgefahr würde bei Annahme einer Erledigung (durch Zeitablauf) unter dem Gesichtspunkt des Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Ergebnis nichts anderes gelten.

Die Zulässigkeit der von dem Kläger nach § 43 Abs. 1 erhobenen Feststellungsklage scheitert auch nicht etwa an der Subsidiaritätsregelung des § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Insoweit macht sich die Kammer zunächst die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in dem bereits mehrfach genannten Urteil zur Zulässigkeit der gegen eine Allgemeinverbindlicherklärung gerichteten Feststellungsklage eines Arbeitgeberverbands zu eigen.

Vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 56 ff.

Entgegen der von dem Beklagten (auf Seite 3 des Schriftsatzes seiner Prozessbevollmächtigten vom 10. September 2010) angeführten ganz überwiegenden Auffassung im arbeitsrechtlichen Schrifttum muss sich der Kläger auch nicht auf eine Inzidentkontrolle im arbeitsgerichtlichen Verfahren oder auf eine arbeitsgerichtliche Feststellungsklage verweisen lassen. Hinsichtlich der Inzidentkontrolle im Rahmen der (auf eine für allgemeinverbindlich erklärte Tarifnorm gestützten) Zahlungsklage eines Arbeitnehmers ergibt sich dies schon daraus, dass ein Arbeitgeber in einem solchen Verfahren beklagte Partei und damit der passive Teil ist, den erstrebten Klärungsprozess also gerade nicht aktiv betreiben kann. Zwar wäre dies bei einer arbeitsgerichtlichen Feststellungsklage des Arbeitgebers formal anders, auch hier wäre er aber - im Hinblick auf § 256 Abs. 1 ZPO - auf einen Arbeitnehmer angewiesen, der sich "ernsthaft mit ihm streiten will", sich also zumindest eines entsprechenden Tariflohnanspruchs berühmt. Den Weg einer etwaigen Provokation eines derartigen Streits mit einem normunterworfenen Berechtigten durch den ebenfalls normunterworfenen Verpflichteten hält die Kammer jedenfalls nicht für eine gegenüber dem ohnehin bestehenden Streit unmittelbar mit dem "Normgeber" einfachere und damit vorzugswürdige Möglichkeit der Rechtsverfolgung; gerade unter dem Gesichtspunkt der rechtswegübergreifenden Subsidiarität der verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage erscheint eine arbeitsgerichtliche Feststellungsklage vor diesem Hintergrund weder unmittelbarer und sachnäher noch wirksamer.

II. Die Feststellungsklage des Klägers ist auch begründet, denn die Allgemeinverbindlicherklärung vom 5. September 2008 ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten.

Die Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG, von der mangels Reklamierung eines sozialen Notstands im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 TVG nicht abgesehen werden konnte, lag im Zeitpunkt der Allgemeinverbindlicherklärung im September 2008 nicht vor. Zum einen hat der Beklagte nicht die gebotenen aktuellen Zahlen zu Grunde gelegt, zum anderen waren diese nur teilweise belastbar und schließlich wird das notwendige Beschäftigtenquorum selbst bei einer konservativen Berechnung auf der Grundlage aktueller und belastbarer Zahlen nicht erreicht.

Die in der vorgenannten gesetzlichen Bestimmung geforderte Repräsentativität des Tarifvertrags ist nur gegeben, wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Um dies beurteilen zu können, bedarf es der Kenntnis zweier Zahlen, nämlich einmal der Zahl der insgesamt vom Geltungsbereich des Tarifvertrags erfassten Arbeitnehmer (sog. große Zahl) und zum anderen der Zahl der von tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer (sog. kleine Zahl).

Vgl. Hessisches Landesarbeitsgericht (Hess. LAG), Urteil vom 4. Juni 2007 - 16 Sa 1444/05 -, juris, Rn. 38.

Das Beschäftigtenquorum muss im maßgeblichen Zeitpunkt der Allgemeinverbindlicherklärung objektiv vorliegen bzw. vorgelegen haben. Dies bedeutet für die zuständige oberste Bundes- oder Landesbehörde, dass sie diese Voraussetzung von Amts wegen sorgfältig unter genauer Auswertung des statistischen Materials zu prüfen hat. Für die gerichtliche Kontrolle folgt daraus mangels anderweitiger Vorgaben ohne Weiteres, dass sie nicht auf die bloße Überprüfung des von der Behörde ausgewerteten Materials beschränkt ist, sondern auch Zahlen heranziehen darf und muss, die der Behörde im Zeitpunkt ihrer Entscheidung über die Allgemeinverbindlichkeit (noch) nicht vorlagen; dies gilt insbesondere auch für solche (auf den maßgeblichen Zeitpunkt bezogene) Zahlen, die für die Behörde seinerzeit noch gar nicht erreichbar waren.

Damit wird der zuständigen obersten Bundes- oder Landesbehörde nichts Unmögliches (im Sinne "seherischer Fähigkeiten" hinsichtlich noch nicht erschienener statistischer Jahrbücher) abverlangt, denn von ihr wird lediglich gefordert, dass sie bei der Ermittlung der sog. großen Zahl jeweils das zum maßgeblichen Zeitpunkt verfügbare aktuellste statistische Material heranzieht; schon angesichts der Bedeutung der Allgemeinverbindlicherklärung versteht es sich von selbst, dass sie dabei auch zur Nutzung der sich aus ihrer Stellung innerhalb der Exekutive ergebenden (besonderen) Ermittlungswege verpflichtet ist. Allerdings trägt sie - und nicht der durch die Allgemeinverbindlicherklärung nunmehr normunterworfene und verpflichtete - Arbeitgeber das Risiko, wenn sich die so ermittelte (sog. große) Zahl später im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle als nicht belastbar erweist.

Für die sog. kleine Zahl gilt dies sinngemäß, wobei es in der Natur der Sache liegt, dass im Rahmen deren Ermittlung auf die Angaben der entsprechenden Arbeitgeberverbände zurückgegriffen werden muss.

Vgl. Hess. LAG, a. a. O., Rn. 52

Dass diese Angaben durch die oberste Bundes- oder Landesbehörde sorgfältig - von Amts wegen - (auch im Hinblick auf die Vergleichbarkeit in zeitlicher Hinsicht) zu prüfen sind, legt die Kammer als ebenfalls selbstverständlich zu Grunde, weil es die einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung stellende Tarifvertragspartei andernfalls weitgehend in der Hand hätte, den Erfolg ihres Antrags durch entsprechende Angaben zu "steuern".

Den vorgenannten Anforderungen an die Aktualität der Zahlen liegt auch die an Sinn und Zweck des § 5 TVG orientierte Überlegung zu Grunde, dass durch eine Allgemeinverbindlicherklärung jeweils den aktuellen arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Gegebenheiten Rechnung getragen werden soll; dies schließt notwendigerweise die Verwendung veralteter Zahlen aus.

Im Einzelnen gilt bei der Ermittlung der maßgeblichen Zahlen Folgendes:

Da auf Arbeitnehmer abzustellen ist, müssen bei der Ermittlung der sog. großen Zahl Unternehmer ausgeklammert bleiben bzw. deren Zahl (im Rahmen der Auswertung des statistischen Materials) von der Gesamtbeschäftigtenzahl - wie hier durch den Beklagten geschehen - in Abzug gebracht werden.

Aus der Gesamtbeschäftigtenzahl bei der Ermittlung der sog. großen Zahl entgegen der Auffassung des Beklagten und seiner dieser entsprechenden Vorgehensweise nicht herauszurechnen ist hingegen die Gruppe der anderweitig tarifgebundenen Arbeitnehmer; insoweit greifen die Einwände des Klägers durch. Zwar gilt für die anderweitig tarifgebundenen Arbeitnehmer der für die Allgemeinverbindlicherklärung vorgesehene Tarifvertrag naturgemäß jeweils nicht, gleichwohl fallen diese aber "unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags" im Sinne der oben genannten Vorschrift. Denn bei der Frage der Repräsentativität geht es gerade darum festzustellen, welchen Anteil die so Tarifgebundenen an der Gesamtzahl aller derer haben, auf die der in Rede stehende Tarifvertrag räumlich, fachlich und persönlich zugeschnitten ist. Dass in die Gesamtzahl nicht nur die so Tarifgebundenen sowie die nicht Tarifgebundenen, sondern auch die anderweitig Tarifgebundenen einzubeziehen sind, ergibt sich ohne Weiteres aus dem vom Kläger angebrachten Argument, dass ansonsten auch ein Tarifvertrag, der nur eine Minderheit von Arbeitnehmern betrifft, für allgemeinverbindlich erklärt werden könnte, nur weil der überwiegende Teil der Beschäftigten anderweitig tarifgebunden ist: Im Falle des Nebeneinanders von zwei verschiedenen (hinsichtlich ihres Geltungsbereichs identischen) Tarifverträgen könnte ein Tarifvertrag als repräsentativ eingestuft werden, der nur für die zweitgrößte Zahl der Tarifgebundenen gilt; beispielsweise wäre bei einer Gesamtzahl von 100.000 Arbeitnehmern und einem Tarifvertrag für (über die arbeitgeberbezogene Betrachtungsweise) 40.000 Arbeitnehmer und einem für 32.000 Arbeitnehmer der Weg zur Allgemeinverbindlichkeit des "kleineren" Tarifvertrags hinsichtlich des Quorums frei, weil die letztgenannte Zahl mehr als die Hälfte der sich (nach Abzug der auf den "größeren" Tarifvertrag entfallenden Arbeitnehmer) ergebenden 60.000 Arbeitnehmer ausmacht.

Entsprechend der Verfahrensweise des Beklagten sind bei der Ermittlung der sog. großen Zahl die Arbeitnehmer der höheren - nicht in die Allgemeinverbindlicherklärung einbezogenen - Tarifgruppen nicht abzuziehen. Ausgehend vom Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG weist der Beklagte insoweit zutreffend darauf hin, dass maßgebend grundsätzlich der Geltungsbereich des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags sei und es für die Frage, ob die Rechtssetzungsbefugnis eröffnet sei, nicht darauf ankomme, in welchem Umfang von dieser sodann Gebrauch gemacht werde.

Insoweit offenbar anders: Hess. LAG, a. a. O., Rn. 56

Da es keinen gesetzlichen Anhalt für eine Beschränkung auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt, verbietet sich nach Auffassung der Kammer eine isolierte Betrachtung dieses Personenkreises (und der entsprechenden Zahlen).

Ausgehend von den vorgenannten Überlegungen ergibt sich, dass die durch den Beklagten ermittelte und im September 2008 ("im Rahmen der Vergleichsrechnung") zu Grunde gelegte sog. große Zahl (mit 151.000) erheblich zu niedrig angesetzt war:

Der von der Beigeladenen zu 1. übernommene Rückgriff auf das Statistische Jahrbuch NRW 2007 und die dort genannte Zahl von insgesamt 214.611 (bzw. aufgerundet 215.000) Beschäftigten im Gastgewerbe Nordrhein-Westfalens war zwar zunächst (als Ausgangspunkt) durchaus zulässig, angesichts des Stands dieser Zahl (30. September 2004) hätte sich eine weitere Überprüfung - insbesondere durch ergänzende Anfrage an das damalige LDS NRW - aber geradezu aufgedrängt, zumal dessen Antwort vom 19. Mai 2008 nur Daten aus der Statistik der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten enthielt, die nur einen Teil aller Beschäftigten erfasst.

Ob bei dieser Überprüfung bereits die dann wenig später im Statistischen Jahrbuch NRW 2008 erschienene - deutlich aktuellere - Zahl von 247.225 (Stand 30. September 2006) verfügbar gewesen wäre, die der von der Beigeladenen zu 1. auf ihrer eigenen Internetseite im August 2008 genannten Zahl von über 240.000 Beschäftigten sehr nahe kommt, kann auf sich beruhen. Denn maßgeblich für die gerichtliche Kontrolle sind die nunmehr für das Jahr 2008 verfügbaren Zahlen; dies sind die des Statistischen Jahrbuchs NRW 2009, das eine Zahl von insgesamt 281.788 Beschäftigten im Gastgewerbe Nordrhein-Westfalens (Stand: 30. September 2007) nennt. Hiervon sind lediglich die Unternehmer in Abzug zu bringen; diese nimmt die Kammer im Hinblick auf die in dem vorgenannten Statistischen Jahrbuch genannte Zahl von "Unternehmen" (Stand: 31. Dezember 2007) mit 38.469 an. Entgegen der Vorgehensweise des Beklagten konnte und kann keinesfalls ein Abzugsposten von ca. 44.000 Unternehmern angesetzt werden. Denn diese offenbar aus dem Schreiben des Beigeladenen zu 1. vom 7. August 2008 übernommene Zahl ist ausweislich der Erläuterungen des Vertreters des Beigeladenen zu 1. in der mündlichen Verhandlung stark veraltet, da sie aus dem Jahr 1993 herrührt; auch die von dem Vertreter des Beigeladenen zu 1. erklärte "Hochrechnung" der Zahl auf den aktuellen Zeitpunkt entbehrt einer tragfähigen Grundlage. Überdies stammt sie entgegen der Angabe in dem genannten Schreiben auch gar nicht aus der "Jahrbuchstatistik". Tatsächlich ist im Statistischen Jahrbuch NRW 2007 von 30.524 und im Statistischen Jahrbuch NRW 2008 von 33.460 "Unternehmen" die Rede. Es spricht nichts dafür, die Zahl aus dem Statistischen Jahrbuch NRW entsprechend dem gegen die Zahl von 44.000 Unternehmern erhobenen Einwand des Klägers - diese Zahl sei im Hinblick darauf zu hoch angesetzt, dass viele gastronomische Betriebe nicht inhabergeführt seien, sondern es sich um juristische Personen handele - nach unten zu korrigieren, denn dieser Einwand greift aus dem vom Beklagten genannten Grund - auch der Geschäftsführer einer GmbH sei in der Regel kein Arbeitnehmer und falle nicht unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags - nicht durch.

Die sog. große Zahl liegt demnach bei 243.319, die zu erreichende Hälfte also bei 121.659,5.

Dem steht lediglich eine sog. kleine Zahl von (maximal) 121.288 gegenüber.

Mangels anderweitigen aussagefähigen Materials geht die Kammer dabei - ebenso wie der Beklagte - von den durch den Beigeladenen zu 1. genannten Zahlen aus. Trotz der erheblichen Unschärfen gerade auch im Vergleich zu dem im Rahmen des vorherigen Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung gemachten Angaben gilt dies sowohl hinsichtlich des Anknüpfungspunkts "Mitgliedsbeiträge" als auch im Hinblick auf die vorgenommene Aufteilung (84 % der Mitgliedsbetriebe mit durchschnittlich nach Köpfen vier Arbeitnehmern und 16 % der Mitgliedsbetriebe mit durchschnittlich nach Köpfen zwanzig Arbeitnehmern). Auf der Grundlage der (von dem Beigeladenen zu 1. stammenden) Zahl von 17.850 Mitgliedsbetrieben zum maßgeblichen Zeitpunkt ist die Zahl von bei tarifgebundenen Arbeitgebern Beschäftigten (mit 14.994 x 4 zuzüglich 2.856 x 20 = 117.096) zwar rechnerisch zutreffend ermittelt, indes stimmt die Prämisse nicht: Gerade aus der Rückantwort des Beigeladenen zu 1. an den Bundesverband in Berlin (vom 3. Juli 2008), die den Mitgliederstand per 1. Juli 2008 auflistet, folgt nämlich ohne Weiteres, dass in die Berechnung der sog. kleinen Zahl höchstens 17.497 Mitgliedsbetriebe eingestellt werden können; diese Zahl ergibt sich aus der Summe von 17.850 Mitgliedsbetrieben abzüglich der 257 passiven und der 96 fördernden Mitglieder, die naturgemäß mangels Beschäftigten jeweils nicht mitgerechnet werden dürfen. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern waren demgemäß 114.788 Beschäftigte (14.697 x 4 zuzüglich 2.800 x 20) tätig. Löst man sich von diesem extrem konservativen Ansatz, der sowohl die in dem vorliegenden Zusammenhang nicht nachvollziehbare Zahl von 655 "weitere(n) Betriebe(n) von Mitgliedern (Zweitbetriebe und weitere Betriebe)" als auch die extrem hohe - handschriftlich eingefügte und nicht näher begründete sowie nicht um passive und fördernde Mitglieder bereinigte - Zahl für den Landesverband Lippe (1.100 gegenüber 736 im Rahmen des Jahresabschlusses 2007) unangetastet lässt, so ergeben sich noch deutlich niedrigere Zahlen (z. B. bei Annahme von 800 einzusetzenden lippischen Mitgliedsbetrieben, d. h. 17.197 Mitgliedsbetrieben insgesamt: 14.445 x 4 zuzüglich 2.752 x 20 = 112.820). Zuzüglich der richtigerweise in Ansatz gebrachten 6.500 Auszubildenden ergibt sich bei konservativem Ansatz eine sog. kleine Zahl von 121.288 und bei stärker realistischer Betrachtung eine solche von 119.320.

Vorsorglich weist die Kammer darauf hin, dass der vorstehenden Berechnung nicht mit Erfolg entgegengehalten werden kann, dass sie Zahlen in die Überlegungen einbeziehe, die zu anderen Zwecken erstellt worden seien. Abgesehen davon, dass sich auch der vorgenannte Jahresabschluss in dem Verwaltungsvorgang des Beklagten (Seite 156a) befindet, sollte es einem Arbeitgeberverband wie dem Beigeladenen zu 1. möglich sein, eine in sich schlüssige und - von dem konkreten Verwendungszweck unabhängige - einheitliche Verbandsstatistik zu führen. Dies gilt gerade auch hinsichtlich des auf Allgemeinverbindlicherklärung gerichteten Verfahrens, das kein Einzelfall ist, sondern regelmäßig durch einen Antrag des Beigeladenen zu 1. eingeleitet wurde und wird. Ohne die diesbezüglichen Anforderungen überspannen zu wollen, stellt sich aus Sicht der Kammer schon heute die Frage, ob es im elektronischen Zeitalter nicht ohne größeren Aufwand (sei es im Rahmen der Beitragserhebung oder im Rahmen anderweitiger Mitgliederverwaltung und befragung) möglich sein sollte, an aktuellere und vor allem belastbarere Zahlen zu gelangen.

War das in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG geforderte Beschäftigtenquorum im September 2008 nach alledem nicht gegeben, so kommt es auf den weiteren Einwand des Klägers, auch das nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TVG erforderliche öffentliche Interesse habe gefehlt, nicht an. Lediglich der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die Kammer Rechtsfehler in Gestalt eines Überschreitens der Grenzen des der obersten Bundes- oder Landesbehörde insoweit eingeräumten - nur eingeschränkt nachprüfbaren - Beurteilungsspielraums hier nicht zu erkennen vermag.

Die aus der fehlenden Repräsentativität des zu Grunde liegenden (mittlerweile abgelösten) Entgelttarifvertrags folgende Rechtswidrigkeit der (noch nicht erledigten) Allgemeinverbindlicherklärung vom 5. September 2008 verletzt den Kläger als unmittelbar normunterworfenen und hierdurch (gemäß § 5 Abs. 4 TVG) verpflichteten Arbeitgeber ohne Weiteres in seinen Rechten (in Gestalt der Vertragsfreiheit und der Koalitionsfreiheit).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3 sowie 162 Abs. 3 VwGO; die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 Sätze 1 und 2 ZPO.

IV. Die Kammer lässt die Berufung gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO im Hinblick darauf zu, dass die in der arbeitsrechtlichen Literatur überwiegend verneinte Frage der Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage in der vorliegenden Konstellation - soweit ersichtlich - höchst- und obergerichtlich noch nicht eindeutig geklärt ist.