OLG Köln, Urteil vom 01.04.1992 - 27 U 83/91
Fundstelle
openJur 2012, 73416
  • Rkr:

1. Arzt und Anstaltsträger einer stationär untergebrachten psychisch kranken Person haben die Pflicht, zu verhindern, daß der Patient die Absicht zur Selbstschädigung nicht verwirklichen kann. Die Sicherheit des Patienten ist bei der stationären Behandlung oberstes Gebot.

2. Eine Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung ist nicht veranlaßt, wenn eine endogene Depression, bei der es zu Ausfällen mit schlimmen Konsequenzen kommen kann, nicht anzunehmen, die akute Gefährdung (Suizidgefahr) nicht erkennbar ist. Eine solche, die Menschenwürde angreifende Zwangsmaßnahme kann gegebenenfalls als Behandlungsfehler angesehen werden. Bemerkung: Das Urteil ist rechtskräftig.

Tenor

Die Berufung der Kläger gegen das am 29. Januar 1991 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 5 O 248/90 - wird zurückgewiesen. Die Kosten der Berufung tragen die Kläger. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die nach §§ 511, 511 a ZPO statthafte

Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden

(§§ 516, 518, 519 ZPO) und damit zulässig. Sie ist sachlich jedoch

nicht gerechtfertigt.

Das Landgericht hat als

Anspruchsgrundlage für den geltendgemachten Schadensersatz mit

Recht allein § 844 Abs. 1 BGB in Erwägung gezogen, weil mangels

Unterbringungsanordnung nach den Vorschriften des PsychKG NW

Amtshaftung gemäß § 839 BGB, Artikel 34 GG nicht in Betracht kommt.

Der Senat vermag indessen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eine

schadensursächliche Pflichtverletzung von Bediensteten des

Beklagten nicht festzustellen. Das geht zu Lasten der Kläger, weil

sie die anspruchsbegründenen Umstände zu beweisen haben.

Im hier gegebenen Fall einer

stationären Unterbringung und Behandlung einer psychisch kranken

Person haben Arzt und Anstaltsträger die Pflicht, alle nach den

Umständen erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und Anordnungen zu

treffen, um einen erkannten oder jedenfalls erkennbaren Willen des

Patienten zur Selbstbeschädigung nicht zur Verwirklichung

gelangen zu lassen. Nach ständiger gesicherter Rechtsprechung muß

die Sicherheit des Patienten bei der stationären Behandlung

oberstes Gebot sein (vgl. z. B. BGH AHRS Kza 3060/2; 3060/3; OLG

Frankfurt AHRS Kza 3060/5; BayObLG AHRS Kza 3060/8; OLG Düsseldorf

AHRS Kza 3060/12). Ist es nach Lage des Falles erforderlich, den

psychisch kranken Patienten vor einer Flucht aus der Anstalt zu

bewahren, weil außerhalb des Einflußbereiches des Klinikpersonals

mit einer Selbstbeschädigung zu rechnen ist, muß die Unterbringung

hinreichend sicher sein, um so befürchtende Schäden zu

verhindern.

Nach dem Gutachten des Sachverständigen

Prof. Dr. P. sowie den Aussagen der Zeugen Dr. W. und G. ist eine

Verletzung der dargelegten Pflichten zum Nachteil der Tochter der

Kläger nicht anzunehmen.

Es gereicht dem Beklagten nicht zum

Vorwurf, daß A. Unterbringung in eine geschlossene Abteilung nicht

angeordnet worden ist. Da A. mit der ihr vorgeschlagenen

Unterbringung nicht einverstanden war, hätte eine solche Maßnahme

die Einleitung des Verfahrens nach §§ 17 ff PsychKG NW erfordert.

Die dafür nach § 11 PsychKG notwendigen Voraussetzungen, nämlich

eine nach dem krankhaften Verhalten des Patienten nicht anders

abwendbare gegenwärtige Gefahr, daß er Selbstmord begeht oder sich

erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, waren zum damaligen

Zeitpunkt nicht objektivierbar. Nach A. Krankenheitsbild war nicht

zu befürchten, daß "ein schadensstifendes Ereignis unmittelbar

bevorstand oder sein Eintritt wegen seiner Unberechenbarkeit zwar

unvorhersehbar, wegen besonderer Umstände jedoch jederzeit zu

erwarten war" (vgl. Wortlaut des § 11 Abs. 2 PsychKG).

Solche Gründe sind nicht feststellbar.

Der Sachverständige Prof. P. hat nach Auswertung der Krankenakten

und unter Berücksichtigung der Aussagen der Zeugen Dr. W. und G.,

die seinerzeit mit A. Behandlung befaßt waren, überzeugend

dargelegt, daß die Patientin unter einer Belastungsreaktion bei

neurotischer Depression litt, was von den Ärzten zutreffend

diagnostiziert worden war. Eine endogene Depression, bei der es zu

Ausfällen mit schlimmen Konsequenzen kommen könne, sei nicht

anzunehmen gewesen. Bei der Patientin habe sich vielmehr seit

Jahren eine krisenhafte Entwicklung gezeigt, die pubertäre Züge

gehabt habe. Auf diese Depression sei sowohl medikamentös als auch

mittels anderer therapeutischer Maßnahmen (Gespräche,

Beschäftigungstherapie) richtig reagiert worden. Die seit 1982

geäußerten Suizidgedanken seien erkannt und ernstgenommen worden.

Eine Unterbringung in eine geschlossene Abteilung sei nicht

veranlaßt gewesen. Eine solche, die Menschenwürde A. mißachtende

(Zwangs-)Maßnahme wäre hier sogar als Kunstfehler zu bezeichnen

gewesen. Es sei richtig gewesen, daß die Behandler auf die

Suizidäußerungen eingegangen und sich mit der Ernsthaftigkeit

intensiv auseinandergesetzt hätten. Die offenbar gegebene akute

Gefährdung (Suizidgefahr) sei am Morgen des 07.09.1989 indessen

nicht erkennbar gewesen. Die geäußerten Schlafstörungen und

Angstanfälle seien mehr oder weniger ausgeprägt durchgehend, also

auch schon während des stationären Aufenthalts im August 1989

vorhanden gewesen. Auf die Unruhe und Ängstlichkeit der Patientin

sei durch ein Gespräch und die Ankündigung einer Óberprüfung der

Medikation angemessen reagiert worden. Im übrigen habe man die

während der Nacht aufgetretene Unruhe und Ängstlichkeit zutreffend

zunächst mit der dafür vorgesehenen Bedarfsmedikation bekämpfen

wollen. Schließ-lich sei darauf hinzuweisen, daß es keine

wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse darüber gäbe, warum sich

jemand plötzlich umbringe, seine jahrelangen Erwägungen und

Gedanken gerade zu diesem bestimmten Zeitpunkt in die Tat umsetze.

Einzelne Äu-ßerungen dritter Personen oder des Behandlers seien

kaum geeignet, eine Selbsttötung auszulösen.

Danach kann von der Notwendigkeit einer

Unterbringung in eine geschlossene Abteilung nicht ausgegangen

werden. Der Sachverständige hat sich mit den Vorwürfen der Kläger

umfassend und überzeugend auseinandergesetzt und insgesamt die

Frage, ob das Behandlungsteam unter Berücksichtigung aller Umstände

die Selbsttötung hätte verhindern können, verneint. Die akute

Selbstgefährdung sei nicht erkennbar gewesen.

Der Behandlungsseite kann auch nicht

vorgeworfen werden, daß sie keine ständige Óberwachung, etwa

mittels ununterbrochener Begleitung der Patientin durch

Klinikpersonal, angeordnet hat. A. sollte und wollte nach Einnahme

der Bedarfsmedikation zunächst zur Beschäftigungstherapie gehen, um

anschließend gegen 11.00 Uhr den vorgesehenen Gesprächstermin mit

dem Abteilungsarzt wahrzunehmen, wie ihr vorgeschlagen worden war.

Damit war sie zufrieden, weitergehende Óberwachungsmaßnahmen,

insbesondere eine Unterbringung, hatte sie abgelehnt. Es hat kein

Grund für die Annahme bestanden, sie werde sich gleichwohl diesem

Ablauf mit Selbstschädigungsabsicht entziehen. Daß sie dies doch

getan hat, war bei den gegebenen Umständen nicht voraussehbar,

jedenfalls kann das Nichterkennen dem Zeugen G. nicht als

schuldhafter Behandlungsfehler angelastet werden.

Schließlich kann nicht davon

ausgegangen werden, daß der tragische Ablauf der Geschehnisse hätte

verhindert werden können, wenn das Klinikpersonal sofort nach dem

Verbleib der Patientin geforscht hätte. Der Todeszeitpunkt lag kurz

nach 9.00 Uhr. A. muß sich also auf kürzestem Wege zu den

Bahngleisen begeben haben. Bei diesem engen zeitlichen

Zusammenhang spricht nichts dafür, daß A. rechtzeitig gefunden

worden wäre.

Die prozessualen Nebenentscheidungen

beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Wert der Beschwer: unter 60.000,--

DM.

Streitwert des Berufungsverfahrens:

8.150,18 DM.