OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2003 - 18 B 1459/03
Fundstelle
openJur 2011, 23617
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 27 L 1787/03
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert, soweit darin der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wurde, dem Antragsteller zu 2. (damals: Antragsteller zu 3.) eine Duldung für den Zeitraum von sechs Monaten zu erteilen.

Der auf diese Verpflichtung gerichtete Antrag der Antragsteller wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie 1/3 der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens. Wegen der übrigen Verfahrenskosten I. Instanz bleibt es bei der unanfechtbaren Kostenentscheidung zu Lasten des Antragsgegners in dem angefochtenen Beschluss.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet.

Aus den vom Antragsgegner dargelegten Gründen, die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - vom Senat nur zu prüfen sind, ergibt sich, dass der angefochtene Beschluss in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu ändern ist.

Der im Beschwerdeverfahren nur noch im Streit stehende Antrag der beiden - in dem erstinstanzlichen Beschluss als Antragsteller zu 1. und 3. bezeichneten - Antragsteller, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller zu 2. eine Duldung für den Zeitraum von sechs Monaten zu erteilen, ist - den Ausführungen des Antragsgegners folgend - abzulehnen. Der volljährige und vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller zu 2. und seine Mutter, die Antragstellerin zu 1., haben einen Anspruch auf zeitweise Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers zu 2. und Erteilung einer Duldung an ihn nach § 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes - AuslG - wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nicht glaubhaft gemacht.

Die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers zu 2. kann sich hier nur aus übergeordnetem Recht ergeben. Dabei gilt es zwar zu beachten, dass den Schutzgewährungen des Art. 6 Abs. 1 GG in Anbetracht der familiären Bindungen zwischen den Antragstellern erhebliches Gewicht zukommen. Es entspricht aber der in den §§ 17 ff. AuslG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Wertung, dass den erwachsenen Kindern von Ausländern - insbesondere wenn diese, wie die Antragstellerin zu 1., lediglich im Besitz einer Duldung sind - der Zuzug zum Zwecke der Familienzusammenführung grundsätzlich nicht ermöglicht wird. Ausnahmen sind allenfalls in Betracht zu ziehen, wenn nach den Verhältnissen des Einzelfalles eine derartige Beistandsgemeinschaft besteht, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen zwingend angewiesen ist.

Vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19.96 -, InfAuslR 1998, 213; OVG NRW, Urteil vom 24. Februar 1999 - 17 A 139/97 -, InfAuslR 1999, 345 (349), und Senatsbeschlüsse vom 2. März 2001 - 18 B 1657/00 -, vom 4. März 2003 -18 B 1647/02- und vom 8. Mai 2003 - 18 B 542/02 -.

Diese für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aufgestellten Voraussetzungen sind hier bereits im Rahmen des Abschiebungsschutzes zu berücksichtigen, weil die Antragsteller für den Antragsteller zu 2. letztlich einen Daueraufenthalt in Deutschland erstreben, ein solcher aber nicht im Wege einer Duldung nach § 55 AuslG ermöglicht werden kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 1999 - 1 C 6.99 -, InfAuslR 2000, 16; Senatsurteil vom 25. Mai 2000 - 18 A 4648/96 - und Senatsbeschlüsse vom 2. März 2000 - 18 175/00 -, vom 29. Mai 2000 - 18 B 577/00 -, vom 9. Mai 2001 - 18 B 400/01 - sowie vom 31. Mai 2002 - 643/02 -.

Von dem Vorstehenden ausgehend erweist sich die Abschiebung des Antragstellers zu 2. nicht als rechtlich unmöglich. Wie der Antragsgegner zutreffend geltend macht, ergibt sich aus der fachärztlichen Stellungnahme des Arztes für Psychiatrie und Neurologie T. von den S. L. W. vom 1. Juli 2003 nicht, dass die Antragstellerin zu 1. zur Vermeidung einer wesentlichen Verschlimmerung einer im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz relevanten Erkrankung auf die weitere Anwesenheit des Antragstellers zu 2. im Bundesgebiet zwingend angewiesen ist.

Diejenige von den beiden in dem Gutachten gestellten Diagnosen, die nicht - wie die posttraumatische Belastungsstörung - lediglich benannt, sondern - wie die schwere depressive Episode der Antragstellerin zu 1. - aus den mit ihr geführten Explorationsgesprächen konkret hergeleitet und in ihren Auswirkungen beschrieben wird, ist bereits im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz angesichts der von der Antragstellerin zu 1. als auslösend geschilderten Ursachen grundsätzlich nicht relevant. Nach ständiger Senatsrechtsprechung führt nämlich nicht jede mit der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit eines Bleiberechts für die Bundesrepublik Deutschland und einer bevorstehenden Rückkehr ins Heimatland einhergehende, mithin also letztlich abschiebungsbedingte Gefährdung bzw. Verschlechterung des Gesundheitszustandes auf einen Duldungsgrund. Indem das Ausländergesetz die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht, nimmt es in diesem Zusammenhang vielfach zu erwartende Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand der Betroffenen in Kauf und lässt diese nur unter besonderen Umständen als Duldungsgründe gelten.

Vgl. die Senatsbeschlüsse vom 1. Juli 2002 - 18 B 1516/01 -, vom 9. Januar 2003 - 18 B 2409/02 -, vom 28. März 2003 - 18 B 35/03 - und vom 8. Mai 2003 - 18 B 542/02 -.

Diese in Bezug auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand des von der Abschiebung selbst betroffenen Ausländers entwickelte Rechtsprechung muss auch für den Gesundheitszustand der Angehörigen des Abzuschiebenden gelten, da das Ausländergesetz die psychischen Auswirkungen der Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf seine nahen Angehörigen gleichermaßen in Kauf nimmt.

Das depressive Leiden der Antragstellerin zu 1. rührt von solchen - grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähigen - psychischen Auswirkungen der drohenden Abschiebung von Angehörigen her.

Die Beschreibung der Symptome und der Ursachen für die schwere depressive Episode der Antragstellerin zu 1. beschränkt sich in der fachärztlichen Stellungnahme vom 1. Juli 2003 - nur diese war entscheidungstragend für den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts - auf eine durch die drohende Abschiebung der männlichen Familienmitglieder der Antragstellerin zu 1. (ihres Ehemannes sowie des volljährigen Antragstellers zu 2. und eines weiteren minderjährigen Sohnes) bedingte Erkrankung. Beschrieben wird bei der Antragstellerin zu 1. eine "deutliche depressive Symptomatik mit Grübelneigung, gedanklicher Fixierung und Einengung auf die sie belastenden Themen (vor allem drohende Abschiebung inhaftierter Familienmitglieder), ... Zukunftsängsten, Resignation und Verzweiflung" (Seite 3). Den Explorationsgesprächen war zu entnehmen, dass sie "hauptsächlich durch die Trennung von ihrem Ehemann und beiden Söhnen ... leidet" und "nicht wisse, was sie machen solle, wenn ihr Mann und die Söhne in die Türkei abgeschoben würden" (Seite 4, vgl. auch Seite 6). Angesichts der von der Antragstellerin zu 1. wegen der drohenden Trennung von den männlichen Familienmitgliedern, die von ihr als schützend, behütend und stark erlebt würden, empfundenen intensiven Gefühlen von Schutzlosigkeit, Verunsicherung und Bedrohung hält der Oberarzt T. es für "aus therapeutischer Sicht wünschenswert", dass die Antragstellerin zu 1. in einem gesicherten und schützenden sozialen Umfeld in Form eines intakten Familienverbandes leben könnte (Seiten 7, 8).

Bei dieser Beschreibung der Ursachen und Wirkungen in Form eines Leidens der Antragstellerin zu 1. handelt es sich gerade um die im Zusammenhang mit der Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer vielfach zu erwartenden Auswirkungen auf den gesundheitlichen, insbesondere psychischen Zustand sowohl des Abzuschiebenden als auch seiner in der Bundesrepublik Deutschland verbleibenden nahen Angehörigen, die das Ausländergesetz in Kauf nimmt und in aller Regel nicht - auch nicht im Falle einer aus therapeutischer Sicht "wünschenswerten" Leidensverringerung - als Duldungsgründe gelten lässt.

Für einen Ausnahmefall von dieser Regel ist der fachärztlichen Stellungnahme nichts zu entnehmen. Zwar meint der Arzt, dass es sich "katastrophal" auf den derzeitigen ohnehin labilen Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1. auswirken würde, wenn "ihr Ehemann und die beiden Söhne" in die Türkei abgeschoben würden, dass in diesem Falle mit einer erheblichen Verschlechterung der depressiven Symptomatik zu rechnen sei, wobei sogar suizidale Handlungen "unter diesen Umständen" nicht ausschließbar wären und der "Verlust der männlichen Familienmitglieder" für die Antragstellerin zu 1. einer existentiellen Bedrohung gleichkomme (Seite 9). Die Grundlage für diese von dem Arzt befürchteten Auswirkungen ist jedoch entfallen, da der Fall einer Abschiebung sämtlicher männlicher Familienmitglieder nicht - mehr - ansteht. Inzwischen haben der Ehemann und der noch minderjährige Sohn der Antragstellerin Duldungen erhalten.

Dass die vorstehend beschriebene existentielle Bedrohung durch eine erhebliche Verschlechterung der depressiven Symptomatik auch im Falle der Abschiebung allein des Antragstellers zu 2. voraussichtlich eintreten wird, ist der fachärztlichen Stellungnahme nicht zu entnehmen. Nach Angaben des Arztes lässt sich "eine Differenzierung, wessen Abschiebung gravierender für den Gesundheitszustand wäre (Ehemann, ein bestimmter Sohn oder beide Söhne), so nicht treffen" (Seite 9). Daraus ist aber nicht zu schließen, dass die Abschiebung allein des Antragstellers zu 2. - mag sie auch gravierende, vom Ausländergesetz aus den vorstehenden Gründen in Kauf genommene Auswirkungen haben - gerade zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin zu 1. mit einer existentiellen Bedrohung führen würde. Dies ist auch sehr unwahrscheinlich, da der Antragstellerin zu 1. im Falle der Abschiebung des Antragstellers zu 2. mit der weiteren Anwesenheit ihres Ehemannes, ihres minderjährigen Sohnes sowie dreier volljähriger Töchter das von dem Arzt für "wünschenswert" gehaltene schützende soziale Umfeld erhalten bleibt. Dass es sich nach Ansicht des Arztes auf den Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1. "positiv und stabilisierend" auswirken würde, wenn sowohl ihr Ehemann als auch beide Söhne in der Bundesrepublik Deutschland bleiben würden, vermag einen Ausnahmefall von der oben beschriebenen Regel des Ausschlusses eines Duldungsgrundes im Falle abschiebungsbedingter Leiden nicht zu begründen. Die Aussicht auf eine solche aus therapeutischer Sicht wohl wünschenswerte Besserung bzw. Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin zu 1. bewirkt insbesondere nicht die Glaubhaftmachung, dass die Antragstellerin zu 1. gerade auf die Anwesenheit und Lebenshilfe des Antragstellers zu 2. zwingend angewiesen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO und berücksichtigt hinsichtlich der erstinstanzlichen Verfahrenskosten den Umstand, dass das Begehren der Erteilung von ursprünglich drei Duldungen in einem Falle - betreffend den Antragsteller zu 2. - erfolglos geblieben ist. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1 iVm §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und berücksichtigt, dass beide Antragsteller nur eine Duldung - zugunsten des Antragstellers zu 2. - begehren, die im Beschwerdeverfahren im Streit steht.

Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG unanfechtbar.