OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.05.2003 - 10 B 145/03
Fundstelle
openJur 2011, 22503
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin und die Beschwerde des Beigeladenen wird der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 18. Dezember 2002 geändert.

Der Antrag wird (insgesamt) abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Hausgrundstücks T. weg 2 in Bonn. In einer Entfernung von ca. 80 m befindet sich das ca. 162,5 m hohe Verwaltungsgebäude der Beigeladenen (sog. Post-Tower). Gegen den vorhabenbezogenen Bebauungsplan, der die planungsrechtliche Grundlage für dieses Gebäude darstellt, hatte u.a. die Antragstellerin Normenkontrollklage (7a D 101/99.NE) erhoben. Außerdem hatte sie sich gegen die für das Gebäude erteilte Baugenehmigung mit einem Widerspruch sowie einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gewandt. Nach längeren Verhandlungen beendeten die Antragstellerin und die Rechtsvorgängerin des Beigeladenen die anhängigen Verfahren einvernehmlich. Nach § 1 der zwischen den Parteien unter dem 8. Mai 2001 getroffenen Vereinbarung erhielt die Antragstellerin von der Beigeladenen einen Betrag in Höhe von 3.020.000,-- DM. Nach einer von der Beigeladenen zuvor vorgenommenen Grobeinschätzung beträgt der Wert des Grundstücks der Antragstellerin einschließlich der aufstehenden Baulichkeiten insgesamt 1.700.000,-- DM.

Im Laufe des Jahres 2002 ließ die Beigeladene an dem Verwaltungsgebäude eine computergesteuerte, dynamische Lichtanlage anbringen. Diese von dem französischen Künstler Yann Kersalé konzipierte Fassadenbeleuchtung soll die Besonderheiten des Post-Towers auch am Abend und in der Nacht im Stadtbild sichtbar machen. Die Antragsgegnerin hält eine Baugenehmigung für diese Anlage nicht für erforderlich. Hingegen erteilte sie unter dem 29. Oktober 2002 eine Baugenehmigung für die Errichtung von zwei Werbeanlagen oberhalb des höchsten Geschosses, die jeweils ein Posthorn als Firmenlogo darstellen.

Am 2. Oktober 2002 hat die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht um einstweiligen Rechtsschutz gegen die Lichtanlage nachgesucht.

Sie hat beantragt,

der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung aufzugeben, der Beigeladenen das Anbringen von 56 Scheinwerfern vom Typ "Exterior 600" sowie 3.000 Neonröhren - jeweils drei Röhren kombiniert, also 1.000 Dreifachkombinationsleuchten - in den Zwischenräumen der zweischaligen Glasfassade, der dem Grundstück der Antragstellerin zugewandten Südwestseite der Konzernzentrale der Deutschen Post AG in der Rheinaue bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Antrag vom 26. September 2002 zu untersagen,

hilfsweise,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, der Beigeladenen bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Antrag vom 26. September 2002 die Inbetriebnahme der beschriebenen Lichtanlage auf der dem Grundstück der Antragstellerin zugewandten Südwest-Seite der Konzernzentrale der Deutschen Post AG zu untersagen.

Mit Beschluss vom 18. Dezember 2002 hat das Verwaltungsgericht Köln den Hauptantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses abgelehnt, weil die Lichtanlage zwischenzeitlich fast vollständig installiert worden war. Dem Hilfsantrag hat es hingegen stattgegeben. Mit Zwischenverfügung vom 29. Januar 2003 hat der Senat den Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vorläufig bis zur Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren ausgesetzt.

II.

Die Beschwerden der Antragsgegnerin und des Beigeladenen sind zulässig, insbesondere genügen die jeweiligen Beschwerdebegründungen den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO.

Die Beschwerden sind auch begründet, denn das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Beigeladenen bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Antrag auf ordnungsbehördliches Einschreiten gegen die Lichtanlage die Inbetriebnahme derselben zu untersagen. Der Antrag der Antragstellerin auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung ist nämlich unbegründet. Entgegen den Ausführungen des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO iVm den §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).

Unabhängig von der Frage, ob die beanstandete Lichtanlage der Baugenehmigungspflicht unterliegt oder nicht, setzt der gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemachte Anspruch auf Einschreiten gegen den Beigeladenen bei jeder denkbaren - hier nicht im Einzelnen zu erörternden - Fallgestaltung jedenfalls voraus, dass der Antragstellerin gegen die von dem Beigeladenen am Post-Tower betriebene Lichtanlage ein Abwehrrecht zusteht. Der Senat kann hier letztendlich offen lassen, ob die Antragstellerin auf ein solches Abwehrrecht wirksam verzichtet hat (1.), jedenfalls stellt die Geltendmachung eines derartigen Abwehrrechtes durch die Antragstellerin eine unzulässige Rechtsausübung dar, die gegen die Grundsätze von Treu und Glauben verstößt (2.). Außerdem käme ihrem Interesse bei einer Abwägung im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme nur ein geringes Gewicht zu (3.).

1.) In der Nachbarschaftsvereinbarung, die die Antragstellerin mit der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen unter dem 8. Mai 2001 geschlossen hat, hat die Antragstellerin als Gegenleistung für den Erhalt von 3.020.000,-- DM in § 2 mehrere Verpflichtungen übernommen. Die Absätze 4 und 5 dieser Regelung haben folgenden Wortlaut:

(4) Die Nachbarin als alleinige Eigentümerin des Grundstücks T. weg 2, deren Eigentum nicht durch Eigentums-, Anwartschafts- oder dingliche Nutzungsrechte Dritter beschränkt ist, verzichtet unwiderruflich auf alle zivilrechtlichen und öffentlichrechtlichen Abwehrrechte gegen das Bauvorhaben.

(5) Die Verpflichtungen nach den Absätzen (1) bis (4) gelten entsprechend, wenn der Bauherr oder ein Rechtsnachfolger für das Vorhaben eine neue oder geänderte Baugenehmigung erhalten, wenn und soweit die Nachbarin durch diese gegenüber der erteilten Baugenehmigung nicht spürbar schlechter gestellt wird.

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Nachbar auch im öffentlichen Recht auf seine Abwehrrechte mit materiellrechtlicher Wirkung verzichten kann, soweit diese zur Disposition des Einzelnen stehen. Es unterliegt auch der Dispositionsbefugnis von Grundstückseigentümern, durch wechselseitige Vereinbarungen für die in ihrem Verfügungsbereich liegenden Grundstücke die Geltendmachung bestimmter materieller Abwehrpositionen auszuschließen. Hat der Nachbar - wie hier - nicht gegenüber der Bauaufsichtsbehörde auf seine Abwehrrechte verzichtet, sondern sich nur gegenüber dem Bauherrn privatrechtlich verpflichtet, auch öffentlichrechtlich keine Einwände gegen dessen Bauvorhaben zu erheben, kann es - ohne dass es eines Zugangs der Vereinbarung bei der Baugenehmigungsbehörde bedürfte - gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, wenn er gleichwohl gegen die Zulassung des Bauvorhabens öffentlich- rechtlich vorgeht.

Vgl. hierzu die Nachweise bei Mampel, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, Herne und Berlin 1994, Rn. 437 und bei Hahn/Schulte, Öffentlichrechtliches Baunachbarrecht, München und Berlin 1998, Rn. 408 und 412.

Bevor jedoch im Zusammenhang mit Verzichtserklärungen auf die Grundsätze von Treu und Glauben nach § 242 BGB, die auch im öffentlichen Recht gelten,

vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 62. Aufl. § 242 Rn. 17,

zurückgegriffen wird, ist zu prüfen, welchen Inhalt und Umfang der Verzicht hat. Diese Prüfung des rechtsgeschäftlich erklärten Verzichts hat nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen (§§ 133, 157 BGB) zu erfolgen. Zudem besteht die Möglichkeit, das Vorliegen eines stillschweigenden Verzichts im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu bejahen.

Vgl. dazu: Roth, in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 2, 2. Auflage, München 1985, § 242 Rn. 293 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 18. Dezember 1979 - VI ZR 52/78 -, NJW 1980, 1681.

Auch wenn hier bei summarischer Prüfung Überwiegendes dafür spricht, dass die von der Antragstellerin abgegebene Verzichtserklärung bei Beachtung der genannten Auslegungsgrundsätze auch die Errichtung und den Betrieb der Lichtanlage in der gläsernen Außenhaut des Towers mit umfasst, sieht der Senat davon ab, diese Rechtsfrage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren abschließend zu beurteilen. Dies gilt ebenso für die von den Beteiligten angesprochene Frage einer möglichen Sittenwidrigkeit der gesamten Nachbarschaftsvereinbarung.

Vgl. dazu: BGH, Urteil vom 2. Juli 1999 - V ZR 135/98 -, BRS 62 Nr. 195 = BauR 2000, 252 f.

2.) Der von der Antragstellerin geltend gemachte Abwehranspruch stellt aber jedenfalls eine unzulässige Rechtsausübung gegenüber dem Beigeladenen dar. Das Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung, das im Gebot von Treu und Glauben verankert ist, gilt auch im öffentlichen Recht. Es ist von Amts wegen zu berücksichtigen,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Oktober 2001 - 10 B 1053/00 -, BRS 63 Nr. 198; Urteil vom 14. März 2000 - 8 A 1242/98 -, Beschluss vom 22. Juni 1990 - 7 B 740/90 -, BRS 50 Nr. 180; Bay. VGH, Urteil vom 8. Dezember 1975 - Nr. 246 I 72 -, BRS 29 Nr. 78,

so dass die von der Antragstellerin behaupteten Verwertungsverbote bezüglich der Nachbarschaftsvereinbarung nicht bestehen (§ 86 Abs. 1 VwGO).

Durch die Nachbarschaftsvereinbarung vom 8. Mai 2001 hat sich die Antragstellerin den Verzicht auf ihre Nachbarrechte gegen den Post-Tower mit 3.020.000,-- DM entschädigen lassen. Davon dienen 1/3 dem Ausgleich der durch den Baukörper als solchen ausgelösten Wertminderung ihres Grundstücks, 1/3 dem Schadensersatz für Immissionen und 1/3 der Entschädigung für die durch den Baukörper bedingten gegenwärtigen und zukünftigen Bestandseinbußen und Aufwendungen an Haus und Außenanlagen ihres Grundstückes. Diese Entschädigungssumme entspricht bei realistischer Einschätzung jedenfalls in etwa dem doppelten Grundstückswert mit aufstehendem Haus. Zudem ist das Grundstück im Alleineigentum der Antragstellerin verblieben. Beeinträchtigungen durch Immissionen sind bereits ebenso mit einer Million DM entschädigt, wie gegenwärtige oder zukünftige Bestandseinbußen an Haus und Außenlangen, auf die eine weitere Million als Entschädigung entfällt. Infolge dessen ist der Eingriff in ihr Eigentum durch die bauliche Anlage des Beigeladenen und deren Nutzung derart überkompensiert, dass unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben kein Raum mehr für den hier geltend gemachten Abwehranspruch gegen die Lichtanlage gegeben ist. Der Senat verkennt nicht, dass die Antragstellerin zwar nach wie vor Eigentümerin des Grundstücks mit allen Rechten ist. Im Verhältnis zum Beigeladenen hat sie aber ihre Abwehrrechte "verkauft". Dadurch hat sie sich ihrer aus dem Eigentum am Grundstück resultierende Abwehrrechte im Verhältnis zum Beigeladenen weitestgehend entäußert. In der Kommentarliteratur zu § 242 BGB wird eine derartige Fallgestaltung im Anwendungsbereich der unzulässigen Rechtsausübung u.a. als der "Mangel im Recht wegen Nicht-Mehr-Berechtigung" bezeichnet. Danach kann die Rechtsausübung unzulässig sein, weil das Recht - in materiellrechtlicher Formulierung - zwar entstanden ist und der Inhalt des Rechtes der "Ausübung" auch abstrakt entspricht, der scheinbar Berechtigte sich aber auf ein Recht stützt, dass ihm in Wirklichkeit so nicht mehr zusteht, weil es inzwischen voll oder zeitweise erloschen ist.

Vgl. Schmidt in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 12. Auflage, 1983, § 242 Rn. 650; vgl. dort auch die Ausführungen zur so genannten "fraus legis" Rn. 689; sowie zum Fehlen eines schutzwürdigen Eigeninteresses bei der Geltendmachung einer Anfechtungsklage zu dem Zweck, sich das Anfechtungsrecht abkaufen zu lassen, Plandt/Heinrichs, a.a.O., § 242 Rn. 50.

Dasselbe muss gelten, wenn das Recht zwar nicht erloschen, aber - wie hier - inhaltlich nahezu vollständig entwertet ist.

(3) Besitzt somit die Antragstellerin im Verhältnis zum Beigeladenen nur noch eine formale Eigentumsposition, weil sie unter Behalt ihres Grundstücks mit 3.020.000,-- DM weit über dem Verkehrswert entschädigt worden ist, wäre ihr Inte- resse - unabhängig von der Frage der unzulässigen Rechtsausübung - bei einer Abwägung im Rahmen der jedenfalls zu prüfenden Frage, ob das Vorhaben des Beigeladenen ihr gegenüber gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, nur mit äußerst geringem Gewicht zu berücksichtigen. Zudem wäre bei einer derartigen Abwägung zu berachten, dass es sich - jedenfalls bei summarischer Prüfung - bei der von Yann Kersalé geschaffenen Lichtanlage um Kunst handelt. Auch Baukunst fällt nämlich unter den Tatbestand des nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Kunstwerkes. Ein Konflikt zwischen den Grundrechten anderer Rechtsträger und der Kunstfreiheit ist im Wege fallbezogener Abwägung zu lösen. Hierbei kommt der künstlerischen Konzeption auch dann ein besonderes Gewicht zu, wenn es mittelbar auf fremdes Eigentum einwirkt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 1991 - 4 B 138/90 -, NVwZ 1991, 983, 984; Scholz, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 3, Rn. 72 und Pernice, in H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 1996, Art. 5 Abs. 3 Rn. 40 mit weiteren Nachweisen.

Dieser Schutzanspruch wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es sich bei der beanstandeten Lichtanlage jedenfalls im Zusammenwirken mit den auf dem Gebäude befindlichen Postemblemen um Werbung im Sinne des § 13 Abs. 1 BauO NRW handelt.

Vgl. dazu Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Loseblattkommentar, Stand: Februar 2003, § 13, Rn. 13 ff.

Im Übrigen ist es der Antragstellerin somit auch zuzumuten, sich gegen etwaige Lichtimmissionen, die durch die angegriffene Lichtanlage hervorgerufen werden, durch Vorhänge, Jalousetten usw. zu schützen. Hierauf hat der Senat bereits in seiner Zwischenverfügung vom 29. Januar 2003 hingewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streiwertfestsetzung folgt aus §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.