OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.09.2002 - 7 B 1716/02
Fundstelle
openJur 2011, 21262
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 4 L 1265/02
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 12. Juli 2002 gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 16. Januar 2002 wird angeordnet.

Dem Antragsgegner wird aufgegeben, die Baumaßnahmen betreffend die gewerbliche Nutzung auf dem Grundstück Gemarkung L Flur 7 Flurstücke 561 und 631 sofort vollziehbar stillzulegen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner; die Beigeladenen tragen ihre eigenen außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Streitwert wird für beide Rechtszüge, für den ersten Rechtszug unter Änderung der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht abgelehnt. Das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs überwiegt gegenüber dem Interesse der Beigeladenen an der weiteren sofortigen Ausnutzung der ihnen erteilten Baugenehmigung, weil diese offensichtlich zu Lasten der Antragstellerin gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Baurechts verstößt.

Bei der Prüfung der strittigen Baugenehmigung im Hinblick auf ihre Nachbarverträglichkeit ist davon auszugehen, dass sowohl der Betrieb der Antragstellerin als auch das Vorhaben der Beigeladenen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 15 der ehemaligen Gemeinde L liegen und in diesem Plan als Industriegebiet - "GI" - ausgewiesen sind.

Von der Wirksamkeit dieses ein weit reichendes Areal umfassenden Bebauungsplans ist auszugehen, auch wenn er bislang nur in räumlich geringem Umfang umgesetzt wurde. Der Bebauungsplan ist insbesondere nicht etwa funktionslos geworden und deshalb nicht mehr gültig. Die Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans kommt nur dann in Betracht, wenn die Verhältnisse, auf die er sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzungen auf unabsehbare Zeit ausschließt, d.h. wenn nachträgliche Veränderungen eingetreten sind, die der Planverwirklichung objektiv entgegenstehen.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1993 - 4 C 7.91 - BRS 55 Nr. 34.

Davon kann angesichts des Umstands, dass der weit überwiegende Bereich des Plangebiets bislang baulich noch nicht genutzt ist, keine Rede sein. Auch der Umstand, dass die Stadt Menden, die nunmehr Trägerin der kommunalen Planungshoheit für das Plangebiet ist, für dieses zwischenzeitlich anderweitige Zielvorstellungen als eine Umsetzung des festgesetzten Industriegebiets, nämlich die Ansiedlung von Wohngebäuden verfolgt, macht den Plan noch nicht funktionslos.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1993 a.a.O..

Wenn und soweit der Plan nicht ausdrücklich aufgehoben worden ist, ist er - abgesehen von den hier nicht in Betracht kommenden Fällen des § 33 BauGB - als bindendes Ortsrecht weiterhin gemäß § 30 Abs. 1 BauGB alleinige Richtschnur für die Zulässigkeit von Vorhaben. Der Antragsgegner als Bauaufsichtsbehörde irrt, wenn er - wie im Bearbeitungsbogen zum Vorbescheidsantrag der Beigeladenen vom 10. Mai 2001 (Beiakte Heft 9) ausgeführt ist - meint, die Darstellungen des Bebauungsplans seien wegen der bevorstehenden Umwandlung "nicht mehr relevant", und deshalb die Auffassung vertritt, im Plangebiet zuzulassende Vorhaben seien daran auszurichten, ob sie wohngebietsverträglich sind.

Ausgehend von der Wirksamkeit der GI-Ausweisung macht die Beschwerde zu Recht geltend, dass es sich bei dem mit der strittigen Baugenehmigung vom 16. Januar 2002 nach deren Tenor genehmigten "Neubau eines Wohnhauses mit Carport" ersichtlich nicht um einen im Industriegebiet zulässigen Gewerbebetrieb mit einer nach § 9 Abs. 3 Nr. 1 der hier einschlägigen BauNVO 1968 ausnahmsweise zulässigen Wohnung für Betriebsinhaber handelt.

Die ausnahmsweise Zulassung von Wohnungen für Betriebsinhaber kommt sowohl in Gewerbe- als auch in Industriegebieten nur in Betracht, wenn das Wohnen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück mit Rücksicht auf die Art und Größe des Betriebs aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll ist.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 16. März 1984 - 4 C 50.80 - BRS 42 Nr. 73.

Dabei muss die Betriebswohnung dem Gewerbebetrieb zugeordnet und ihm gegenüber in Grundfläche und Baumasse untergeordnet sein.

Vgl.: BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 1999 - 4 B 46.99 - BRS 62 Nr. 78.

Eine Wohnnutzung, die gegenüber der gewerblichen Nutzung im Vordergrund steht, ist im Gewerbegebiet - wie auch im Industriegebiet - hingegen nicht zulässig.

Vgl.: Niedersächsisches OVG, Urteil vom 14. Juli 1993 - 1 L 6230/92 - BRS 55 Nr. 59 = NVwZ-RR 1984, 248.

Letzteres ist hier der Fall. Die Wohnnutzung dominiert das Vorhaben der Beigeladenen eindeutig, während die nach den genehmigten Bauvorlagen beabsichtigte gewerbliche Nutzung deutlich in den Hintergrund tritt. Dies wird schon daran deutlich, dass das Wohnhaus - auch wenn es zwei kleinere Büroräume im Obergeschoss erhalten soll - mit seinem umbauten Raum von über 600 m3 weit voluminöser ist als die gewerblichen Zwecken zugeordneten Flachdachanbauten, die insgesamt nur knapp 330 m3 umbauten Raum aufweisen. Angesichts dessen kann dahinstehen, ob der immerhin eine Grundfläche von rd. 30 m2 aufweisende Carport mit seinen typischen Dimensionen eines privater Wohnnutzung zugeordneten überdachten Stellplatzes für zwei Pkw nicht ganz oder teilweise auch der Wohnnutzung zuzuordnen ist. Die räumliche Dominanz des Wohngebäudes wird durch seine zentrale Lage in der Mitte zwischen den beiden Anbauten betont, während die gewerblicher Nutzung zugeordneten flachen Anbauten ihrem erkennbaren Erscheinungsbild nach nur den Eindruck mehr oder weniger untergeordneter Nebenanlagen erwecken.

Es liegen des Weiteren keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ein Wohnen auf dem "Betriebsgelände" mit Rücksicht auf die Art und Größe des von den Beigeladenen beabsichtigten Betriebs objektiv sinnvoll ist. Zwar wird der Betrieb in der genehmigten Betriebsbeschreibung als "Garten- und Landschaftsbaubetrieb" bezeichnet. Welche konkreten betrieblichen Aktivitäten auf dem Grundstück selbst stattfinden sollen, erschließt sich aus den genehmigten Bauvorlagen jedoch nur rudimentär. So sind in der Baubeschreibung zwar "Fahrzeugstellplätze und -garagen" erwähnt, Garagen sind in den genehmigten Bauvorlagen jedoch nicht eingetragen. Bei den Betriebsfahrzeugen bleibt ebenso offen, um was für Fahrzeuge es sich handeln soll, wie auch die weiteren sächlichen Betriebsmittel, die auf dem Grundstück selbst genutzt werden sollen, nicht näher umschrieben sind. Die genehmigte Betriebsbeschreibung enthält keine weiteren Angaben hierzu, sondern lediglich den Hinweis, dass Betriebsfahrzeuge und Geräte "auf dem Gelände und in den Betriebsgebäuden" untergebracht werden sollen. Hierzu enthält der genehmigte Lageplan keine weiteren Angaben über Stellplätze und/oder Lagerflächen, sodass davon auszugehen ist, dass allenfalls der Carport mit dem als "Lager" bezeichneten kleinen Anbau von rd. 12 m2 Grundfläche sowie die "Werkstatt", deren Zweckbestimmung ohnehin nicht näher erläutert ist, dieser Unterbringung dienen. Bereits hieraus erhellt, dass die gewerblichen Aktivitäten, die auf dem Betriebsgrundstück stattfinden sollen, nur von geringen Ausmaßen und geringer Intensität sind. Sie lassen auch nicht ansatzweise erkennen, weshalb sie sinnvollerweise durch ein Wohnen auf dem Betriebsgrundstück zu ergänzen sind.

Schließlich scheidet auch eine Zulassung des strittigen Vorhabens im Wege der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB aus. Sie würde die Grundzüge der Planung berühren, weil für eine Befreiung sprechende Gründe sich für eine Vielzahl betroffener Grundstücke im Plangebiet anführen ließen, und dies letztlich zu einer Änderung der Planungskonzeption führen würde. Die Befreiung kann jedoch nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben.

Vgl.: BVerwG, Beschluss vom 5. März 1999 - 4 B 5.99 - BRS 62 Nr. 99.

Aus der nach alledem zu verneinenden Zulässigkeit des Wohnens auf dem im Industriegebiet gelegenen Grundstück folgt, dass das Vorhaben der Beigeladenen insgesamt unzulässig ist. Es kann in seiner vorliegenden konkreten Ausgestaltung nicht in zwei jeweils voneinander unabhängige Bereiche - Gewerbebetrieb einerseits und Wohnen andererseits - aufgeteilt werden. Dem steht schon entgegen, dass das Wohnhaus, wenn auch in geringem Umfang, auch gewerblich, nämlich als Büro, genutzt werden soll. Im Übrigen sind die sog. gewerblichen Bauteile konstruktiv so mit dem Wohnhaus verzahnt, dass sie bei dessen Wegfall ohne Änderung des Vorhabens nicht errichtet werden könnten.

Aus dem Verstoß des strittigen Vorhabens gegen § 9 BauNVO folgt zugleich, dass die Antragstellerin dadurch auch in ihren Rechten verletzt ist. Als Eigentümerin eines Grundstücks, das durch denselben Bebauungsplan ebenfalls als Industriegebiet festgesetzt ist, kann sie die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens abwehren, weil hierdurch das nachbarliche Austauschverhältnis gestört und eine Verfremdung des Gebiets eingeleitet wird.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 - 4 C 23.98 - BRS 63 Nr. 80 m.w.N..

Damit erweist sich schon aus den angeführten Gründen, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen das genehmigte Vorhaben der Beigeladenen voraussichtlich Erfolg haben wird. Es kann daher letztlich dahinstehen, ob auch weitere Gründe eine Unvereinbarkeit des Vorhabens mit der getroffenen GI-Ausweisung bewirken. Insoweit weist die Antragstellerin zu Recht darauf hin, dass die konkrete Genehmigungspraxis der Antragsgegnerin weitere Ansiedlungsmöglichkeiten industriegebietstypischer Betriebe wenig realistisch erscheinen lässt mit der Folge, dass entgegen § 9 Abs. 1 BauNVO ein "Vorwiegen" störintensiver Betriebe nicht mehr in Betracht kommen und damit die Zweckbestimmung des festgesetzten Industriegebiets nicht mehr gewahrt werden kann.

Der Beschwerde war nach alledem uneingeschränkt, auch hinsichtlich der beantragten Maßnahmen zur Sicherung der Rechte der Antragstellerin, stattzugeben. Der Antragsgegner wird des Weiteren zu prüfen haben, ob den Beigeladenen das - nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin derzeit nicht von einer Baugenehmigung legalisierte - Wohnen weiterhin gestattet werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Bei der auf den §§ 25 Abs. 2 Satz 2, 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG beruhenden Festsetzung des Streitwerts hat der Senat die erhebliche Bedeutung einer Verhinderung des Vorhabens der Beigeladenen für die Antragstellerin berücksichtigt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).