OLG Hamm, Urteil vom 04.12.2002 - 20 U 102/02
Fundstelle
openJur 2011, 19252
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 1 O 47/01
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 22. März 2002 verkündete Urteil der Zivilkammer I des Landgerichts Detmold wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1.

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Das Landgericht hat der auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente gerichteten Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin

8.156,54 EUR (= 15.952,50 DM) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz nach § 1 des Diskontüberleitungs-Gesetzes vom 09.06.1998, höchstens 9,26 % aus jeweils 354,63 EUR (= 693,60 DM) seit dem jeweils 02. eines jeden Monats in der Zeit von Mai 2000 bis Dezember 2001 und von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz nach § 247 BGB seit dem jeweils 02. eines jeden Monats für die Monate Januar, Februar und März 2002 und monatlich im Voraus ab April 2002 bis einschließlich Juni 2002 eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 354,63 EUR (= 693,60 DM) zu zahlen.

Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Die Beklagte greift das Urteil des Landgerichts mit der Begründung an, dass sie durch Schreiben vom 31.08.2000 wegen Verschweigens ihrer Erkrankungen wirksam vom Versicherungsvertrag zurückgetreten sei und den Vertrag durch Erklärung vom 07.03.2002 wegen arglistiger Täuschung angefochten habe. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

2.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Beklagte ist nach dem streitgegenständlichen Vertrag verpflichtet, an die Klägerin für den Zeitraum von Mai 2000 bis Juni 2002 eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente von 693,60 DM (= 354,63 EUR) zu zahlen.

a)

Die Klägerin, die als Nachtschwester in einem Haus für Suchtkranke in W tätig war, ist nach Abschluß des Versicherungsvertrages vom 07.12.1995 zu 100 % berufsunfähig geworden. Nach dem nachvollziehbaren und zutreffenden Gutachten der Sachverständigen H vom 04.10.2002 war die Klägerin ab November 1999 wegen eines systemischen Lupus erythematodes (SLE) insgesamt erwerbsunfähig und in keiner Weise mehr in der Lage, ihren Beruf als Nachtschwester auszuüben. Auch bei Beherrschung der schweren Schubsymptomatik und Stabilisierung des Krankheitsbildes würden entsprechende Einschränkungen weiterhin bestehen.

b)

Der Versicherungsvertrag ist nicht gemäß §§ 22 VVG, 123 Abs. 1 BGB wegen arglistiger Täuschung über Vorerkrankungen bei Antragstellung gemäß Anfechtungsschreiben vom 07.03.2002 unwirksam. Dabei kann dahinstehen, ob ein zur Anfechtung berechtigendes Verhalten der Klägerin vorlag und ob die erst nach mündlicher Verhandlung erster Instanz erklärte Anfechtungserklärung nach dem neuen Novenrecht des § 531 Abs. 2 ZPO noch Berücksichtigung finden kann. Denn die Anfechtungserklärung war vorliegend verfristet. Gemäß § 124 Abs. 1 BGB beträgt die Anfechtungsfrist ein Jahr, beginnend mit dem Zeitpunkt, in dem der Anfechtungsberechtigte die Täuschung entdeckt, d.h. vom Irrtum und vom arglistigen Verhalten des anderen Teils Kenntnis erlangt. Ein bloßer Verdacht oder Kennenmüssen reicht nicht. Andererseits ist nicht erforderlich, daß der Anfechtungsberechtigte alle Einzelheiten der Täuschung kennt (vgl. Palandt-Heinrichs, BGB, 61. Aufl. 2002, § 124 Rdn. 2). Die Anfechtung der Beklagten vom 07.03.2002 wird der Sache nach auf das Ulkusleiden der Klägerin gestützt, das verschwiegen worden sein soll. Hiervon hat die Beklagte jedoch nicht erst durch das gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten H vom 04.10.2002 erfahren. Vielmehr ergab sich diese Vorerkrankung auch bereits aus dem an die Beklagte gerichteten Anschreiben der Frau M vom 05.11.2000. Dort sind die streitgegenständlichen Vorerkrankungen im einzelnen aufgeführt, und hieraus ergab sich, daß bei ihr im Jahre 1993 abdominelle Beschwerden, Gastropathie, und im Juli 1995 abdominelle Beschwerden mit Gastritis vorlagen. Die Beschwerden, die nunmehr die Anfechtung stützen sollen, waren danach mit hinreichender Deutlichkeit bekannt. Von daher hatte entsprechende Kenntnis von Irrtum und vermeintlicher Täuschung bestanden, so daß die Anfechtungsfrist spätestens Ende 2001 abgelaufen war.

c)

Der von der Beklagten mit Schreiben vom 31.08.2000 erklärte Rücktritt vom Versicherungsvertrag gemäß §§ 16, 17 VVG ist unwirksam. Die Angabe der Klägerin auf die Gesundheitsfragen in dem Versicherungsantrag vom 02.11.1995 "Bagatellerkrankungen" war nicht falsch. Auch soweit unter Bagatellerkrankungen nach landläufiger Auffassung vor allem Husten, Schnupfen, Grippe, Unwohlsein, kleine Schnittverletzungen, Verstauchungen oder ähnliches zu verstehen sein wird, kann diesem Begriff kein feststehender, allgemein gültiger Inhalt beigemessen werden. Vielmehr handelte es sich hierbei nach Auffassung des Senats um eine subjektive Wertung der Klägerin, daß sie ihre Erkrankungen subjektiv selbst als Bagatellen ansieht. Welche Erkrankungen aber objektiv vorgelegen haben, blieb mit dieser Angabe offen. Insofern war es alsdann Sache der Beklagten nachzuweisen, daß die Klägerin ihre Erkrankungen nicht als Bagatellerkrankungen angesehen hat. Dieser Beweis ist nicht gelungen.

Insbesondere konnte die Klägerin bei Antragstellung ihren systemischen Lupus erythematodes (SLE) nicht angeben. Hierbei handelt es sich um eine chronischentzündliche, rheumatische Autoimmunerkrankung, die häufig die Haut, Gelenke, die Nieren, das Nervensystem, die serösen Häute und andere Organe des menschlichen Körpers betrifft. Die Rheumaerkrankung als solche war der Kläger bei Antragstellung noch nicht bekannt und ist nach dem Gutachten der Sachverständigen H retrospektiv erst im Jahre 1996 durch die Fachärztin S festgestellt worden. Hinsichtlich der vorherigen verschiedenen rheumatischen Symptombeschwerden hat die Sachverständige zuverlässig festgestellt, daß diese der Klägerin zunächst als Bagatellerkrankungen erschienen sein mögen. Erst nach Aufklärung durch einen Facharzt sind der Klägerin die Zusammenhänge insofern deutlich geworden. Auch Frau M hat in ihrem Schreiben vom 05.11.2000 bestätigt, daß es sich bis 1996 nur um flüchtige, diffuse und passagere Beschwerden gehandelt habe, wie sie jeder andere haben könne, ohne an einer rheumatischen Erkrankung zu leiden. Eine Diagnose konnte wegen Diffusität und Geringfügigkeit noch nicht gestellt werden. Die Beschwerden waren im wesentlichen auch kurzzeitig, wie etwa die Kniebeschwerden nach ihrer Schwangerschaft, wieder zurückgegangen. Eine ernsthafte Diagnose hat ausweislich des Gutachtens H in diesem Zeitraum auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Beschwerdebilder noch nicht bestanden.

Da sodann nur nach den ärztlichen Behandlungen und Erkrankungen der letzten drei Jahre gefragt wurde, müssen die Vorgänge vor dem 02.11.1992, insbesondere die zu Beginn ihrer Schwangerschaft aufgetretenen Beschwerden, außer Betracht bleiben.

Soweit bei der Klägerin ein Ulkusleiden gesichert war, dessen Beurteilung als Bagatelle in objektiver Hinsicht zweifelhaft ist, ist nicht feststellbar, daß die Klägerin dies nicht mehr als Bagatelle angesehen hat. Diese Erkrankung war zwar nach den Unterlagen der Hausärztin per Gastrokopie vom 13.10.1993 und 24.07.1995 dokumentiert. Allerdings erfolgte, wie auch die Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt hat, in diesem Zusammenhang lediglich eine geringe therapeutische Konsequenz, so daß die Klägerin auch hier an eine Bagatelle geglaubt haben kann.

Die Klägerin hatte in dem Versicherungsantrag als ihren Hausarzt Frau Dr. Mbamba angegeben. Abgesehen von ihrer Geburtsbegleitung war die Klägerin in dem fraglichen Zeitraum bei keinem anderen Arzt in ärztlicher Behandlung. Ein Rücktrittsgrund lag insofern nicht vor.

Angesichts der unklaren Angabe "Bagatellerkrankung" hätte es alsdann der Beklagten im Rahmen ihrer Risikoprüfung oblegen, sich weitergehend bei der Klägerin oder der angegebenen Ärztin über die Art der Erkrankungen zu erkundigen. Eine solche Nachforschung ist jedoch unterblieben.

d)

Der Zinsanspruch ist begründet gemäß §§ 284, 286 Abs. 1 BGB.

e)

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1 und 708 Nr. 10 ZPO. Die Zulassung der Revision war nicht veranlaßt (§ 543 ZPO n.F.).