VG Berlin, Beschluss vom 26.07.2016 - 33 L 255.16 A
Fundstelle
openJur 2016, 9039
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Der nach § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 75 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) zulässige, sinngemäße Antrag der Antragsteller,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage VG 33 K 256.16 A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juli 2016 anzuordnen,

über den gemäß § 76 Abs. 4 S. 1 AsylG die Einzelrichterin zu entscheiden hat, bleibt ohne Erfolg. Das gesetzlich angeordnete Vollzugsinteresse überwiegt das Suspensivinteresse der Antragsteller, einstweilen vom Vollzug ihrer Ausreisepflicht verschont zu bleiben. Denn ihre Klage wird nach der gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage voraussichtlich keinen Erfolg haben.

Nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylG) an, wenn der Ausländer dorthin abgeschoben werden soll und wenn feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind im Fall der Antragsteller erfüllt.

Bei dem vom Bundesamt in der Abschiebungsanordnung genannten Staat der Republik Polen handelt es sich um den gemäß § 27a AsylG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat. Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. So verhält es sich für die Republik Polen gemäß den vorliegend anwendbaren Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO). Aufgrund dem Umstandes, dass die Antragsteller zunächst illegal in die Republik Polen eingereist sind, ist diese für deren Asylersuchen zuständig (Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO). Die Antragsgegnerin richtete dementsprechend Wiederaufnahmegesuche an die Republik Polen, denen diese mit Datum vom 18. Mai 2016 entsprach. Die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO endet frühestens im November 2016 und war daher zum Zeitpunkt des Eingang des Eilantrags am 16. Juli 2016 noch nicht abgelaufen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Möglichkeit eines Mitgliedstaates zum Selbsteintritt, da dieser Möglichkeit kein subjektives Recht eines Asylbewerbers auf Selbsteintritt gegenüber steht (EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11–, Rn. 37, NVwZ 2014, 129 [130]; sowie Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen vom 18. April 2013, Rn. 64ff.).

Ferner sind nach der gegenwärtigen Auskunftslage keine Umstände für einen Ausnahmefall erkennbar, die es gebieten würden, einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Überstellung der Antragsteller nach Polen zu gewähren (vgl. bereits Beschlüsse der Kammer vom 24. Oktober 2013 – VG 33 L 450.13 A – und vom 27. November 2013 – VG 33 L 500.13 A –, jeweils juris; sowie aktuell Beschluss vom 19. Mai 2016 – VG 33 L 160.16 A –, S. 3; siehe auch BayVGH, Urteil vom 19. Januar 2016 – 11 B 15.50130 –, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Antragstellers zu 2.) (vgl. VG Ansbach, Urteil vom 10. Dezember 2015 – AN 14 K 15.50373 –, juris, Rn. 36 ff. n.w.N.).

Dem stehen die Ausführungen in dem von der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller angeführten Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 10. Dezember 2015 (VG 5 L 1209/14 A, beck-online; unveröffentlichte Parallelentscheidung vom selben Tag: VG 5 L 1306/14.A), nicht entgegen. Zwar hat der Einzelrichter in den dortigen Verfahren die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine vom Bundesamt in einem Dublin-Verfahren ausgesprochene Abschiebungsanordnung nach Polen angeordnet, weil er die Gefahr gesehen hat, dass die minderjährigen Antragsteller nicht kindgerecht untergebracht werden und damit bei der Rücküberstellung einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sind. Diesen Ausführungen ist zwar insoweit zu folgen, dass systematische Mängel des Asylverfahrens auch dadurch begründet sein können, wenn der betreffende Mitgliedstaat das Recht auf Freiheit nach Art. 6 Grundrechte-Charta beispielsweise durch willkürliche Anordnung der Haft oder der Bedingungen der Haft oder andere Grundrechte der Grundrechte-Charta missachtet (dazu VG Berlin, Beschluss vom 23. Januar 2015 – VG 23 L 717.14 A –, juris, Rn. 9-11). Dies ist aber auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierung von Asylantragstellern in der Republik Polen nicht der Fall.

Soweit der Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam seine gegenteiligen Ausführungen mit einem „datumslosen Länderbericht Polen der österreichischen Asylkoordination“ begründet, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieser Länderbericht nach den Erkenntnissen der erkennenden Einzelrichterin Teil des Abschlussberichtes des „Information and Cooperation Forums (ICF)“ ist. In diesem Projekt wurde durch dreizehn Nichtregierungsorganisationen (u.a. durch die erwähnte Asylkoordination Österreich) die „Aufnahmebedingungen für Asylwerberinnen in Deutschland, Österreich und die angrenzenden Beitrittsstaaten“ untersucht. Der Bericht wurde bereits Ende Januar 2005 (siehe Einleitung), d.h. vor über elf (11) Jahren, abgeschlossen und kann daher nicht mehr zur aktuellen Erkenntnisgewinnung herangezogen werden. In den aktuellen Erkenntnismitteln des Gerichts zur Republik Polen finden sich keine Hinweise auf willkürliche Inhaftierung von Schutzsuchenden oder andere gravierende Verstöße gegen Unionsgrundrechte.

Die im Artikel der Zeitschrift des Bayerischen Flüchtlingsrates erwähnten Haftgründe „Feststellung der Identität“ und „Verhinderung eines Missbrauchs des Asylverfahrens“ (Hinterland Nr. 29/2015, S. 72) sind an sich sachgerechte Inhaftierungsgründe, sofern sie maßvoll eingesetzt werden. Dass in geschlossenen Zentren auch solche Personen untergebracht werden, die sich zwar selbst als minderjährig bezeichnen, von den polnischen Behörden aber als volljährig eingeschätzt werden, begegnet keinen rechtlichen Bedenken, solange diese Alterseinschätzung nicht willkürlich erfolgt und einer angemessenen rechtlichen Überprüfung zugänglich ist, woran keine Zweifel vorgetragen oder sonst ersichtlich sind. Auch die rechtliche Beurteilung der Unterbringungen von Minderjährigen in geschlossenen Zentren hängt entgegen der Ansicht des Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller von der Art der Unterbringung der Minderjährigen ab.

Nach dem aktuellen Bericht der Helsinki Foundation for Human Rights vom 13. November 2015 (Asylum Information Database aida, Country Report: Poland) befinden sich keine unbegleiteten Minderjährigen in geschlossenen Zentren (S. 65). In allen geschlossenen Zentren gibt es nach diesem Bericht Sportstätten und Spielplätze (S. 71), die zeitlich unbegrenzt genutzt werden können (S. 71). Ferner gibt es Zugang zum Internet und (unbegrenzt) zu Fernsehen (S. 71). In den Zentren, in denen schulpflichtige Schutzsuchende untergebracht werden, wird ferner Unterricht angeboten (Bericht der Helsinki Foundation, S. 72; siehe auch Hinterland Nr. 29/2015, S. 72). Dieser Unterricht bleibt zwar quantitativ und qualitativ hinter dem regulären Schulunterricht in der Republik Polen zurück (Bericht der Helsinki Foundation, S. 72 f.; Hinterland Nr. 29/2015, S. 73). Da dieser Mangel aufgrund der maximalen Aufenthaltsdauer des Minderjährigen in einem geschlossenen Zentrum (Bericht der Helsinki Foundation, S. 68: 6 bzw. 12-18 Monate) aber zeitlich begrenzt ist (zum Zugang zur Bildung für Schutzsuchende außerhalb der geschlossenen Zentren: Bericht der Helsinki Foundation, S. 58 ff.), kann die erkennende Einzelrichterin darin keinen solch gravierenden Verstoß sehen, der einen „systemischen“ Mangel des „Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen“ in der Republik Polen begründen würde (zur gegenteiligen Situation, wenn der Zugang während des gesamten Asylverfahrens gänzlich ausgeschlossen ist, beispielsweise VG Magdeburg, Urteil vom 2. September 2015 – VG 9 A 399/14 –, juris, Rn. 43 ff.).

Der Überstellung der Antragsteller in die Republik Polen stehen auch keine inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegen, zu deren Prüfung das Bundesamt in Fällen der Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG – anders als sonst in Asylverfahren – ausnahmsweise verpflichtet ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 – OVG 2 S 6.12 –, juris). Die – im Dublin-Gespräch erwähnte, indes im gerichtlichen Verfahren nicht nachgewiesene – Schwangerschaft der Antragstellerin zu 1.) steht jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt (etwa 14. Woche) ihrer Reise in die Republik Polen nicht entgegen. Das gleiche gilt für die chronische Angina der Antragstellerin zu 1.). Bei der angegeben Disbakteriose des Antragstellers zu 2.) handelt es sich um eine nachgeburtliche Magen-Darm-Erkrankung, die nicht (mehr) behandlungsbedürftig ist.

Für das Asylverfahren des Ehemannes bzw. Vaters der Antragsteller ist ebenfalls die Republik Polen zuständig. Die jeweiligen Übernahmeersuchen des Bundesamtes für die Antragsteller und den Ehemann bzw. Vater zeigen, dass dem Bundesamt die Familieneinheit bewusst und eine Trennung der Familie gerade nicht beabsichtigt ist. Unabhängig von der Frage, ob der Dublin-Bescheid vom 4. Juli 2016 dem Ehemann bzw. Vater der Antragsteller bereits wirksam zugestellt wurde oder eine solche Zustellung an die Verfahrensbevollmächtigte noch aussteht, folgt daher aus der Familieneinheit kein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

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