BGH, Urteil vom 29.06.2016 - 2 StR 588/15
Fundstelle
openJur 2016, 8544
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers H. F. wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 3. Juni 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die dagegen gerichteten Revisionen der Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers H. F. haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg.

I.

1. Die zur Tatzeit 58jährige Angeklagte wurde im Alter von 16 Jahren mit dem später Geschädigten, dem zuletzt 67jährigen I. F. zwangsverheira- tet. Die Ehe, aus der mehrere Kinder hervorgingen, war geprägt von Gewalt und Erniedrigungen. I. F. schlug und quälte seine Frau wie auch die ge- meinsamen Kinder. Mit der Geburt des jüngsten Sohnes, dem Zeugen E. F. , im Jahre 1990 änderte sich die Situation dahingehend, dass I. F. , der seinem jüngsten Sohn sehr zugetan war, sowohl seinen bis dahin teilweise sehr exzessiven Alkoholkonsum als auch seine gewalttätigen Übergriffe auf die anderen Familienmitglieder nach und nach reduzierte. Die Atmosphäre in der Familie blieb gleichwohl angespannt und war von lautstarken Streitigkeiten und verbalen Erniedrigungen seitens des Geschädigten geprägt. Als die Angeklagte sich im Jahre 1995 schließlich entschloss, ihren Ehemann zu verlassen, erkrankte dieser an Krebs, weshalb sie davon absah. I. F. gesundete, litt aber alsbald - wie auch die Angeklagte - an Diabetes und Bluthochdruck und musste sich im Jahre 2005 einer beidseitigen Unterschenkelamputation unterziehen. Er saß ab 2008 im Rollstuhl und erlitt in der Folgezeit mehrere Herzinfarkte. Unterstützung erfuhr er vor allem von seinem jüngsten Sohn, dem Zeugen E. F. .

Die Angeklagte ihrerseits war infolge des jahrelang durchlittenen Martyriums seelisch krank geworden und litt vor allem unter depressiven Stimmungen und unspezifischen Schmerzen. Die Eheleute lebten zuletzt nur noch mit ihren Söhnen B. und E. F. zusammen.

Zum Tatgeschehen:

Ende 2012 warf der Geschädigte seinen älteren Sohn, den Zeugen B. F. , nach einem Streit aus der Wohnung. Als der Sohn am 2. Januar 2013 wieder zurückkehren wollte, verwies ihn der Geschädigte abermals der Wohnung. Die Angeklagte war hierüber ausgesprochen verärgert.

Am Morgen des 3. Januar 2013 zwischen 8 und 9 Uhr verließ der Sohn E. F. das Haus. Sein multimorbider Vater saß zu diesem Zeitpunkt ange- zogen in seinem Rollstuhl im Wohnzimmer. In der Folgezeit, spätestens aber kurz vor 10 Uhr, erlitt er einen Herzinfarkt, der dazu führte, dass er in hilflosem Zustand und in getrübter Bewusstseinslage auf dem Boden zum Liegen kam.

Als die Angeklagte ihren zwischenzeitlich bewusstlosen Ehemann auf dem Boden liegend antraf, fasste sie spontan den Entschluss, ihn zu töten. Hierzu nahm sie einen Schal oder anderen Gegenstand aus Stoff, legte ihn dem auf dem Rücken liegenden I. F. um den Hals und zog das Stoffteil vor seinem Kehlkopf fest zusammen. Nach einiger Zeit erschrak sie jedoch über ihr Tun und ließ von dem Geschädigten ab. Sie beseitigte das Strangulationswerkzeug und lief zu ihren Nachbarn, um Hilfe zu holen. Als die Angeklagte an der Wohnungstür der Nachbarn klingelte, war ihr Ehemann bereits an den Folgen des erlittenen Herzinfarkts gestorben.

2. Die Angeklagte hat die Tat bestritten und sich eingelassen, sogleich nach dem Auffinden ihres Ehemanns zu den Nachbarn geeilt zu sein.

Davon, dass der Geschädigte noch zu Lebzeiten stranguliert wurde, hat sich das Landgericht aufgrund sicherer medizinischer Beweisanzeichen überzeugt. Die Annahme der Täterschaft der Angeklagten beruht maßgeblich auf ihrem Motiv und ihrer Gelegenheit zur Tat, wobei das Gericht sowohl einen Alternativtäter als auch eine Selbsttötung ausgeschlossen hat.

Das Landgericht konnte jedoch nicht ausschließen, dass der Geschädigte zuvor bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte und dieser letztlich todesursächlich gewesen ist. Zwar habe sich durch medizinische Beweiszeichen nicht belegen lassen, dass I. F. tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten habe. Dafür sprächen aber zahlreiche konkret festgestellte Umstände. Der multimorbide Geschädigte habe bereits mehrere Infarkte erlitten; auch sei sein Herz durch eine Verkalkung zweier Herzkranzschlagadern vorgeschädigt gewesen. Er sei in der Vergangenheit auch bereits mehrfach aus dem Rollstuhl gefallen. Dafür, dass er einen Herzinfarkt erlitten habe, spreche auch, dass weder Abwehrverletzungen noch Spuren einer Kampfhandlung festgestellt werden konnten. Dies wäre aber zu erwarten gewesen, da die Strangulation noch zu Lebzeiten erfolgte und er - auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass er das Beruhigungsmittel Diapezam in einer normal therapeutisch wirksamen Konzentration im Blut hatte - nicht völlig kraft- und wehrlos war.

Nach alledem seien beide Todesursachen als naheliegend anzusehen, weshalb die Strafkammer zu Gunsten der Angeklagten einen Herzinfarkt als Todesursache zu Grunde gelegt hat.

3. Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlages in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB verurteilt. Von dem Versuch des Totschlags sei sie nicht strafbefreiend zurückgetreten, weil der Geschädigte bei Vornahme ihrer Rettungsbemühungen bereits tot gewesen sei.

II.

Die Revision der Angeklagten hat Erfolg.

1. Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer einen Rücktritt der Angeklagten vom versuchten Totschlag ausgeschlossen hat, begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

§ 24 Abs. 1 StGB ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Vollendung mangels tatbestandsmäßigen Erfolges ausbleibt. Die Vorschrift ist vielmehr auch dann anwendbar, wenn zwar ein tatbestandsmäßiger Erfolg eintritt, dieser jedoch nicht kausal auf die Angriffshandlung des Täters zurückgeführt werden kann, der konkrete Erfolg also auch dann eingetreten wäre, wenn der Täter überhaupt nicht auf das Opfer eingewirkt hätte (sog. überholende oder abgebrochene Kausalität).

Soweit die Strafkammer einen Rücktritt ausgeschlossen hat, weil I. F. zu dem Zeitpunkt als die Angeklagte Rettungsbemühungen entfaltet hatte, bereits verstorben war, ist sie offenkundig von einem beendeten Versuch ausgegangen. Dies wird indes von den Feststellungen nicht getragen; es fehlen entsprechende Feststellungen zum Rücktrittshorizont der Angeklagten zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung.

Die Strafkammer hat zwar angenommen, dass die Angeklagte mit gehöriger Entschlossenheit das Strangulationswerkzeug zugezogen hat (UA S. 45) und dass die Strangulation todesursächlich gewesen sein kann (UA S. 24). Auch ist sie davon ausgegangen, dass es sich bei der Strangulation, die zu erheblichen Stauungsblutungen geführt hatte, um eine das Leben gefährdende Behandlung des Geschädigten gehandelt hat (UA S. 44). Dass aber die Angeklagte tatsächlich nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung angenommen hat, bereits alles Erforderliche zur Verwirklichung des angestrebten Erfolgs getan zu haben, lässt sich den Feststellungen nicht sicher entnehmen.

Die Strafkammer hat dahin gehend lediglich ausgeführt, die Angeklagte sei über ihr eigenes Verhalten erschrocken gewesen und habe das Bedürfnis gehabt, "alles wieder gut und die Tat rückgängig zu machen" (UA S. 15, 50).

Dies belegt aber vor dem Hintergrund, dass auch in objektiver Hinsicht nicht festgestellt ist, dass die Strangulation durch die Angeklagte tatsächlich ursächlich oder auch nur mitursächlich für den Tod des Geschädigten geworden ist, nicht ohne weiteres, dass die Angeklagte nach der letzten Ausführungshandlung bereits alles getan hatte, was nach ihrer Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausreichend war. Nicht ausgeschlossen ist vielmehr das Vorliegen eines nur unbeendeten Versuchs, von dem die Angeklagte durch bloße Untätigkeit hätte strafbefreiend zurücktreten können.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte für die Strafbarkeit der Angeklagten nicht an ihrem aktiven Tun angeknüpft werden können, weil insoweit von einem strafbefreienden Rücktritt ausgegangen werden muss, müsste sich der Tatrichter mit einem in diesem Fall "wiederauflebenden" möglichen pflichtwidrigen Unterlassen der Angeklagten auseinandersetzen.

Allerdings käme nach den bisherigen Feststellungen, die Zeitpunkt, Art und Schwere des Herzinfarkts offen lassen, nur ein (untauglicher) Versuch des Totschlags durch Unterlassen in Betracht, da zu Gunsten der Angeklagten davon ausgegangen werden müsste, dass eine Lebensrettung nicht mehr möglich war und damit das Unterlassen der Angeklagten für den Erfolg nicht mehr ursächlich gewesen sein konnte.

Erforderlich ist insoweit, dass die Angeklagte, als sie ihren, offensichtlich bewusstlosen Ehemann am Boden liegen sah, ihm in diesem Zustand keine Hilfe leistete und stattdessen zur Strangulation ansetzte, zum einen bewusst war, dass dieser aufgrund seiner schweren Verletzungen sterben könnte, zum anderen aber auch die Vorstellung hatte, dessen Leben könne noch durch ihr mögliche Maßnahmen gerettet oder in rechtlich erheblicher Weise verlängert werden (vgl. BGH, Urteil vom 13. Januar 2005 - 4 StR 469/04 - juris Rn. 23 f.).

Von einem solchen Totschlagsversuch durch Unterlassen hätte die Angeklagte auch nicht mehr strafbefreiend zurücktreten können. Der Rücktritt des Unterlassenstäters ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach den Grundsätzen des beendeten Versuchs beim Begehungsdelikt gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB zu beurteilen, da den Täter von der ersten Rettungsmöglichkeit an eine Pflicht zum Handeln trifft (BGH, Urteil vom 15. Mai 1997 - 5 StR 127/97, BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, beendeter 11; siehe auch BGH, Beschlüsse vom 10. März 2000 - 1 StR 675/99, NJW 2000, 1730, 1732; vom 29. Oktober 2002 - 4 StR 281/02, NStZ 2003, 252, 253 und vom 20. Dezember 2002 - 2 StR 251/02, BGHSt 48, 147, 149). Die Angeklagte konnte hier aber die Vollendung der Tat weder verhindern (§ 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB) noch wurde die Tat ohne ihr Zutun nicht vollendet (§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB).

III.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers haben ebenfalls Erfolg.

1. Die Beweiswürdigung leidet an zwei durchgreifenden Erörterungsmängeln.

a) Die Strafkammer hat rechtsfehlerhaft nicht erwogen, dass I. F. beim Ansetzen der Angeklagten zur Strangulation geschlafen haben könnte. Dies hätte das Fehlen von Abwehrverletzungen und Kampfeshandlungen erklären und deshalb der Annahme eines zuvor erlittenen Herzinfarkts entgegenstehen können.

Eine Erörterung hätte sich für die Strafkammer auch aufgedrängt, denn der Geschädigte hatte zum Tatzeitpunkt das beruhigend wirkende Medikament Diapezam zu sich genommen. Zudem hatten mehrere Zeugen angegeben, dass er kurz vor seinem Tod wiederholt beklagt habe, er sei in letzter Zeit so schläfrig und schlafe viel.

b) Die Strafkammer hat es rechtsfehlerhaft aber auch zu erörtern versäumt, ob die Strangulation den Eintritt des Todes des Geschädigten nicht zumindest beschleunigt hat.

Auch hierzu bestand Anlass, denn I. F. hat bei Vornahme der Strangulation nachweislich noch gelebt und war nur kurze Zeit später, als die Angeklagte bei den Nachbarn klingelte, bereits verstorben. Hinzu kommt, dass die Angeklagte nach den Feststellungen das Strangulationswerkzeug mit gehöriger Entschlossenheit zugezogen (UA S. 45) und die Strangulation zu erheblichen Stauungsblutungen geführt hat. Vor diesem Hintergrund liegt die Annahme nicht fern, dass ein solcher Strangulationsvorgang den Todeseintritt des multimorbiden und aufgrund eines Herzinfarkts in einer geschwächten Lage befindlichen Geschädigten, wenngleich nur um eine geringfügige Zeit, in jedem Fall zumindest beschleunigt haben muss.

Ein Beruhen des Urteils auf diesem Erörterungsmangel kann nicht ausgeschlossen werden, da eine vollendete Tötung bereits dann vorliegt, wenn die Handlung des Täters auch nur zu einer Lebenszeitverkürzung führt (vgl. BGH, Urteil vom 20. Mai 1980 - 1 StR 177/80, NStZ 1981, 218).

c) Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen vollendeten Totschlags durch Unterlassen kommt dagegen - entgegen der Auffassung der Revisionsführer - nicht in Betracht.

Sollte der von der Strafkammer zugunsten der Angeklagten angenommene Herzinfarkt allein todesursächlich gewesen sein, so besteht nach den übrigen Beweisergebnissen kein Anhalt für eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwieweit Rettungsbemühungen noch hätten erfolgreich sein können. Die Strafkammer konnte weder feststellen, zu welchem Zeitpunkt der Geschädigte einen Herzinfarkt erlitten hat noch wie viel Zeit zwischen seinem Auftreten bis zum Tod des Geschädigten verstrichen ist. Auch zu Art und Schwere des Infarkts konnten keine Feststellungen getroffen werden. Dem zugrunde lag, dass die Strafkammer, gestützt auf die Angaben der Sachverständigen schon nicht sicher nachweisen konnte, dass der Geschädigte überhaupt einen Herzinfarkt erlitten hat. Mangels Vorliegens jeglicher medizinischer Erkenntnisse war aber eine Erörterung, ob und inwieweit Rettungsbemühungen noch hätten erfolgreich sein können, offensichtlich nicht veranlasst.

War der Herzinfarkt demgegenüber nicht allein todesursächlich und die Strangulation vielmehr mitursächlich, so liegt der Schwerpunkt des strafbaren Verhaltens der Angeklagten auf einem positiven Tun.

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