OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.10.2015 - 8 B 868/15
Fundstelle
openJur 2016, 5018
  • Rkr:
Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 6. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 1.800,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.

Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene gerichtliche Interessenabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, stellt die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass keine rechtlichen Bedenken gegen die im Hauptsacheverfahren angefochtene Fahrtenbuchauflage bestehen, nicht in Frage.

Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO kann die zuständige Behörde gegenüber einem Fahrzeughalter für ein oder mehrere auf ihn zugelassene oder künftig zuzulassende Fahrzeuge die Führung eines Fahrtenbuchs anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war. Die Ermittlung des Fahrzeugführers war vorliegend nicht möglich (dazu 1.). Die Fahrtenbuchauflage ist in ermessensfehlerfreier Weise ergangen (dazu 2.).

1. Vorliegend war die Ermittlung des Fahrzeugführers nicht möglich. Dies ist der Fall, wenn die Bußgeldbehörde nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat.

Unmöglichkeit in diesem Sinne ist auch gegeben, wenn die Bußgeldbehörde im Rahmen ihrer Ermittlungen eine Person ernsthaft verdächtigt hat, letztlich aber keine ausreichende Überzeugung von dessen Täterschaft gewinnen konnte. Abzustellen ist diesbezüglich auf das im Ordnungswidrigkeiten- bzw. Strafverfahren erforderliche Maß der Überzeugung. Maßgeblicher Zeitpunkt ist - soweit kein gerichtliches Verfahren folgt -, der Abschluss des behördlichen Verfahrens, also der Erlass des Bußgeldbescheids gemäß § 65 OWiG bzw. die Einstellung des Verfahrens nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 25. März 2008 ? 8 A 586/08 -, NZV 2008, 536 = juris Rn. 4, 13 ff., vom 9. Juni 2011 - 8 B 520/11 -, NZV 2012, 148 = juris Rn. 16, und vom 30. Juni 2015 - 8 B 1465/14 -, juris Rn. 11; Sächs. OVG, Beschluss vom 4. August 2014 - 3 B 90/14 -, LKV 2015, 39 = juris Rn. 4; Bay. VGH, Beschluss vom 23. Februar 2015 ? 11 CS 15.6 -, juris Rn. 16; zur Maßgeblichkeit der gerichtlichen Überzeugung von der Täterschaft im Falle des Einspruchs vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. September 2012 - 8 B 985/12 -, juris Rn. 11 ff.

Ob die Aufklärung angemessen war, richtet sich danach, ob die Bußgeldbehörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Oktober 1978 - 7 C 77.74 -, DÖV 1979, 408 = juris Rn. 16, und vom 17. Dezember 1982 - 7 C 3.80 -, BayVBl. 1983, 310 = juris Rn. 7, sowie Beschlüsse vom 21. Oktober 1987 - 7 B 162.87 -, NJW 1988, 1104 = juris Rn. 4, und vom 9. Dezember 1993 - 11 B 113.93 -, juris Rn. 4; OVG NRW, Urteil vom 30. November 2005 ? 8 A 280/05 -, NWVBl. 2006, 193 = juris Rn. 21.

Zu den danach angemessenen Ermittlungsmaßnahmen gehört in erster Linie, dass der Fahrzeughalter möglichst umgehend - im Regelfall innerhalb von zwei Wochen - von dem mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoß benachrichtigt wird, damit er die Frage, wer zur Tatzeit sein Fahrzeug geführt hat, noch zuverlässig beantworten und der Täter Entlastungsgründe vorbringen kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 1978 - VII C 77.74 -, DÖV 1979, 408 = juris Rn. 18, sowie Beschluss vom 25. Juni 1987 - 7 B 139.87 -, DAR 1987, 393 = juris Rn. 2.

Eine solche Benachrichtigung begründet für den Halter eine Obliegenheit, zur Aufklärung des mit seinem Fahrzeug begangenen Verkehrsverstoßes so weit mitzuwirken, wie es ihm möglich und zumutbar ist. Dazu gehört es insbesondere, dass er den bekannten oder auf einem gegebenenfalls vorgelegten Lichtbild der Verkehrsüberwachungsanlage erkannten Fahrer benennt oder zumindest den möglichen Täterkreis eingrenzt und die Täterfeststellung durch Nachfragen im Kreis der Nutzungsberechtigten fördert.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. November 2005 - 8 A 280/05 -, NWVBl. 2006, 193 = juris Rn. 25.

Art und Umfang der Ermittlungstätigkeit der Bußgeldbehörde können sich an den Erklärungen des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung an der Ermittlung der für den Verkehrsverstoß verantwortlichen Person ab und liegen der Bußgeldbehörde auch sonst keine konkreten Ermittlungsansätze vor, ist es dieser regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende, kaum Aussicht auf Erfolg bietende Aufklärungsmaßnahmen zu betreiben.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 1982 - 7 C 3.80 -, VRS 64, 466 = juris Rn. 7, sowie Beschlüsse vom 21. Oktober 1987 - 7 B 162.87 -, NJW 1988, 1104 = juris Rn. 4 f., und vom 9. Dezember 1993 ? 11 B 113.93 -, juris Rn. 4; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Auflage 2015, § 31a StVZO Rn. 5; Beck/Berr, OWi-Sachen im Straßenverkehrsrecht, 6. Aufl. 2012, Rn. 325.

Die Mitwirkungsobliegenheit besteht vor dem Hintergrund, dass ein Foto für die Verfolgung einer Verkehrsordnungswidrigkeit nicht erforderlich ist und oftmals auch gar nicht gefertigt werden kann, grundsätzlich unabhängig davon, ob dem Halter ein Foto vorgelegt wird. Nichts anderes kann gelten, wenn zwar ein Lichtbild vorgelegt wird, dieses aber - gleich aus welchen Gründen - keine Identifikation ermöglicht.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 9. Dezember 2013 ? 8 A 2166/13 -, Seite 3 des Beschlussabdrucks, vom 12. März 2015 - 8 B 1163/14 -, Seite 9 des Beschlussabdrucks, beide nicht veröffentlicht, und vom 30. Juni 2015 - 8 B 1465/14 -, juris Rn. 21.

Aus welchen Gründen der Halter keine Angaben zur Sache macht, ist unerheblich. Die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage nach § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO setzt vor allem nicht voraus, dass der Halter seine Mitwirkungsobliegenheiten schuldhaft nicht erfüllt hat oder die Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers sonst zu vertreten hat.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11. Oktober 2007 ? 8 B 1042/07 -, NZV 2008, 52 = juris Rn. 6, vom 28. Oktober 2013 - 8 A 562/13 -, juris Rn. 14., vom 11. November 2013 - 8 B 1129/13 -, juris Rn. 12 ff., und vom 14. November 2013 - 8 A 1668/13 -, juris Rn. 14.

Dabei kann der Halter eines Fahrzeugs nicht verlangen, von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, wenn er in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren ein Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrecht geltend gemacht hat. Ein "doppeltes Recht", nach einem Verkehrsverstoß einerseits im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Zeugnis bzw. die Aussage zu verweigern und zugleich trotz fehlender Mitwirkung bei der Ermittlung des Fahrzeugführers auch von einer Fahrtenbuchauflage verschont zu bleiben, besteht nicht. Ein solches "Recht" widerspräche dem Zweck des § 31a StVZO, nämlich der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs zu dienen. Die Ausübung des Schweigerechts steht der Anwendbarkeit des § 31a StVZO auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegen.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 1981 ? 2 BvR 1172/81 -, NJW 1982, 568 = juris Rn. 7; BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juni 1995 - 11 B 7.95 -, BayVBl. 1996, 156 = juris Rn. 2 ff., und vom 11. August 1999 - 3 B 96.99 -, NZV 2000, 385 = juris Rn. 3; Beck/Berr, OWi-Sachen im Straßenverkehrsrecht, 6. Aufl. 2012, Rn. 334.

Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, gemessen hieran lägen die Voraussetzungen für den Erlass einer Fahrtenbuchauflage vor, wird durch das Beschwerdevorbringen nicht in Frage gestellt.

Der Hinweis des Antragstellers, die Bußgeldbehörde habe mit an ihn gerichtetem Schreiben vom 30. Januar 2015 sowie mit weiterem Schreiben an seine nunmehrigen Verfahrensbevollmächtigten vom 3. März 2015 die Auffassung vertreten, dass er, der Antragsteller, das Fahrzeug geführt habe, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Der Antragsteller hat hierauf mit Schreiben vom 23. Februar und 4. März 2015 seine Fahrereigenschaft jeweils ausdrücklich bestritten und sich hinsichtlich des Fahrers auf sein Aussageverweigerungsrecht berufen. Er hat dabei auch darauf hingewiesen, dass der von der Bußgeldbehörde beauftragte Ermittlungsdienst der Stadt Dorsten nicht angegeben habe, welcher Nachbar ihn auf dem vorgelegten Lichtbild der Verkehrsüberwachungsanlage erkannt haben wolle. Die Bußgeldbehörde hat sodann ausweislich des Vermerks vom 13. März 2015 das Verfahren nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO eingestellt, weil die schlechte Bildqualität eine Verfolgung der Ordnungswidrigkeit nicht ermöglicht habe und der Fahrer auch sonst nicht habe ermittelt werden können. Dies erscheint angesichts des auf dem Lichtbild nur schemenhaft erkennbaren Fahrers ohne weiteres nachvollziehbar. Dass die Bußgeldbehörde zunächst anderer Auffassung war, angesichts des fortdauernden Bestreitens des Antragstellers letztlich aber keine ausreichende Überzeugung von dessen Täterschaft gewinnen konnte, führt nach den obigen Ausführungen zu keinem anderen Ergebnis.

2. Die Fahrtenbuchauflage ist in ermessensfehlerfreier Weise ergangen, vgl. § 114 Satz 1 VwGO.

Der Erlass einer Fahrtenbuchauflage für einen Zeitraum von neun Monaten verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser verlangt das Vorliegen eines Verkehrsverstoßes von einigem Gewicht. Ein nur einmaliger unwesentlicher Verstoß, der sich weder verkehrsgefährdend auswirken kann noch Rückschlüsse auf die charakterliche Ungeeignetheit des Kraftfahrers zulässt, genügt zum Erlass einer Fahrtenbuchauflage nicht. Die Bemessung des Gewichts einer Verkehrszuwiderhandlung ist dabei an dem in Anlage 13 zur Fahrerlaubnisverordnung (FeV) niedergelegten Punktesystem zu orientieren. Dabei ist bereits ab einem Punkt und auch schon bei der ersten derartigen Zuwiderhandlung von einem erheblichen Verstoß auszugehen.

Vgl. zur bisherigen Rechtslage nur BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1995 - 11 C 12/94 -, BVerwGE 98, 227 = juris Rn. 9, OVG NRW, Urteil vom 29. April 1999 ? 8 A 699/97 -, NJW 1999, 3279 = juris Rn. 21, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 9. September 1999 - 3 B 94/99 -, NZV 2000, 386 = juris Rn. 2.

Mit der Umstellung des 18-Punkte-Systems des Verkehrszentralregisters auf die Entziehung der Fahrerlaubnis bei acht in das Fahreignungsregister eingetragenen ("neuen") Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG und der damit einhergehenden Änderung der Anlage 13 zur FeV ist die Bedeutung der (weiterhin) mit einem oder mehreren Punkten bewehrten Zuwiderhandlungen zumindest gleichgeblieben.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. April 2015 - 8 B 198/15 -, Seite 9 f. des Beschlussabdrucks, nicht veröffentlicht, und vom 30. Juni 2015 - 8 B 1465/14 -, juris Rn. 34.

Nach Nr. 3.2.2 der Anlage 13 zur FeV i. V. m. § 1 Abs. 1 BKatV, Nrn. 11.3, 11.3.4 der Anlage zur BKatV war der Verkehrsverstoß (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h) mit einem Punkt im Fahreignungsregister einzutragen.

Die Straßenverkehrsbehörde handelt hierbei nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie die Länge der Fahrtenbuchauflage grundsätzlich an der vom Verordnungsgeber in der Anlage 13 zur FeV erfolgten Bewertung orientiert und auf eine weitere Binnendifferenzierung verzichtet. Darauf, ob ein Verstoß "am unteren Rand" einer punktebewerten Zuwiderhandlung liegt, kommt es somit nicht an.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1, 3 GKG. Dabei orientiert sich der Senat an Nr. 46.11 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013,

vgl. Beilage 2/2013 zu NVwZ Heft 23/2013; abzurufen auch unter http://www.BVerwG.de/medien/pdf/ streitwertkatalog.pdf,

und legt für jeden Monat der Geltungsdauer der Fahrtenbuchauflage einen Betrag von 400,- Euro zu Grunde. Angesichts der Vorläufigkeit dieses Verfahrens ist dieser Wert um die Hälfte herabzusetzen, vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).