VG Gelsenkirchen, Urteil vom 26.01.2016 - 5 K 3118/11
Fundstelle
openJur 2016, 3615
  • Rkr:

1. Ob eine angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, beurteilt sich grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigung. Allerdings haben spätere Änderungen zu Lasten des Bauherrn außer Betracht zu bleiben, während nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind.

2. § 15 Abs. 1 BauNVO als Ausprägung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots findet im Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich keine Anwendung mehr, wenn das Rücksichtnahmegebot von der vorausgegangenen planerischen Abwägung gleichsam "aufgezehrt" ist.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die für erstattungsfähig erklärt werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Kläger wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens des jeweiligen Vollstreckungsgläubigers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.

Gründe

Über die Klage entscheidet im Einverständnis mit den Beteiligten die zuständige Berichterstatterin, vgl. § 87 a Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung, vgl. § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die angefochtene Baugenehmigung vom 29. Juni 2011 in Gestalt der ersten Nachtragsbaugenehmigung vom 29. Juni 2012 und der zweiten Nachtragsbaugenehmigung vom 17. Juli 2012 sowie der Abweichungsbescheid vom 29. Juni 2011 verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Zunächst handelt es sich entgegen der Ansicht des Klägers bei den ersten beiden Nachtragsbaugenehmigungen nicht um ein sog. "Aliud" zur ursprünglichen Baugenehmigung. Grundsätzlich lässt sich die Frage, wie weit die Wirkung einer Baugenehmigung reicht und in welchem Fall ein "aliud" gegenüber der beantragten Anlage vorliegt, kaum allgemein oder "abstrakt" beantworten.

Vgl. Boeddinghaus, BauO, § 75 Rn. 46 mit Verweis auf Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 27. Januar 1997 - 4 B 2/97 -.

Demnach ist ein Aliud dann anzunehmen, wenn sich das neue Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem ursprünglich genehmigten Vorhaben unterscheidet. Dies gilt unabhängig davon, ob die baurechtliche Zulässigkeit des abgewandelten Bauobjekts als solche im Ergebnis anders zu beurteilen ist. Ein baurechtlich relevanter Unterschied zwischen dem ursprünglich genehmigten und dem abgewandelten Bauvorhaben ist immer dann anzunehmen, wenn sich für das abgewandelte Bauvorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt, das heißt diese geänderten Voraussetzungen eine erneute Überprüfung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfordern. Dies folgt aus Sinn und Zweck der Baugenehmigung, die sicherstellen soll, dass nur solche Bauvorhaben zur Ausführung gelangen, deren Vereinbarkeit mit den öffentlichrechtlichen Vorschriften im Sinne des § 75 Abs. 1 Satz 1 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (BauO NRW) von der Bauaufsichtsbehörde festgestellt worden ist.

Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteile vom 21. Februar 2007 - 10 A 27/07 -, vom 4. Mai 2004 - 10 A 1476/04 - und vom 7. November 1996 -7 A 4820/95 -, jeweils zitiert nach juris.

Grundsätzlich kann nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine bereits erteilte Baugenehmigung nur dann durch eine Nachtragsbaugenehmigung ergänzt oder geändert werden, soweit dadurch das Vorhaben nicht in seinem Wesen verändert wird. Die Nachtragsbaugenehmigung ist zwar ein Verwaltungsakt, der eine eigene Regelung mit Außenwirkung beinhaltet, sie modifiziert aber nur die ursprünglich erteilte Baugenehmigung und rechtfertigt - für sich genommen - die Verwirklichung des Vorhabens nicht. Sie betrifft kleinere Änderungen, darf aber inhaltlich nicht ein von dem Genehmigungsgegenstand wesensverschiedenes Vorhaben - "aliud" - regeln.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2004 - 10 A 1476/04 -, zitiert nach juris.

Dies zugrundegelegt, wird das Vorhaben durch die ersten beiden und von dem Kläger allein angefochtenen Nachtragsbaugenehmigungen nicht in seinem Wesen verändert. Da die erste Nachtragsbaugenehmigung lediglich die Einrichtung von vier Läden im Unter- und Erdgeschoss (namentlich E. , B. , F1. und E1. ) und die zweite Nachtragsbaugenehmigung die Raumaufteilung und Grundrissänderung im ersten und zweiten Obergeschoss sowie Änderungen an der Fassade genehmigt, sind hierdurch nicht im oben beschriebenen Sinne baurechtlich relevante Kriterien betroffen, die die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens als solches insgesamt neu in Frage stellen. Vielmehr wird bereits durch die ursprüngliche Baugenehmigung vom 29. Juni 2011 Einzelhandelsnutzung im Unter- und Obergeschoss zugelassen, so dass sich die erste Nachtragsbaugenehmigung als bloße Konkretisierung des bereits genehmigten Umfangs darstellt. Nichts anderes gilt für die Grundrissänderungen im ersten und zweiten Obergeschoss, da durch die veränderte Nutzungsaufteilung in drei statt in zwei Nutzungseinheiten, das Vorhaben als solches nicht berührt wird.

Die angefochtene Baugenehmigung verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot nach § 37 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVfG NRW). Nach dieser Vorschrift muss ein Verwaltungsakt hinreichend bestimmt sein. Allerdings kann sich der Kläger im Rahmen des hier vorliegenden Baunachbarstreits nicht uneingeschränkt auf die Verletzung dieser Vorschrift berufen. Vielmehr verlangt das Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG NRW in seiner nachbarrechtlichen Ausprägung, dass sich der Baugenehmigung und den genehmigten Bauvorlagen mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen lassen muss, dass nur solche Nutzungen erlaubt sind, die Nachbarrechte nicht beeinträchtigen können. Ist eine Baugenehmigung in dieser Hinsicht inhaltlich nicht hinreichend bestimmt, führt dies zu einem Abwehrrecht des Nachbarn, wenn sich die Unbestimmtheit gerade auf solche Merkmale des Vorhabens bezieht, deren genaue Festlegung erforderlich ist, um eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften auszuschließen und - zusätzlich - wenn die insoweit mangelhafte Baugenehmigung aufgrund dessen ein Vorhaben zulässt, von dem der Nachbar konkret unzumutbare Auswirkungen zu befürchten hat. Wie weit das nachbarrechtliche Bestimmtheitsgebot im Einzelnen reicht, beurteilt sich nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. September 2014 - 2 B 918/14 -, zitiert nach juris.

Nach diesem Maßstab ist ein den Kläger in seinen Rechten verletzender Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nicht festzustellen. Sofern eine Betriebsbeschreibung nicht zu den mit Zugehörigkeitsvermerk gekennzeichneten Anlagen zur Baugenehmigung vom 29. Juni 2011 genommen wurde, ergibt sich hierdurch keine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers. Denn ausweislich der Baugenehmigung und der Bauzeichnungen ist für ihn hinreichend erkennbar, dass es sich um die Neuplanung eines Geschäfts- und Wohnhauses handelt. Insbesondere die Bauzeichnungen lassen erkennen, welche Nutzung in jeweils welchen Gebäudeteilen beabsichtigt ist. Um welche konkrete gewerbliche Nutzung es sich handeln wird, muss dagegen noch nicht bereits im Zeitpunkt der ursprünglichen Genehmigung feststehen. Sollten in der Folge durch Nachtragsbaugenehmigungen konkrete und den Kläger in seinen subjektiven Rechten verletzende Nutzungen genehmigt werden, bleibt es dem Kläger unbenommen, sich gegen eine solche Nachtragsbaugenehmigung zur Wehr zu setzen. Dass die Baugenehmigung vom 29. Juni 2011 dagegen keine ausdrückliche Betriebsbeschreibung hinsichtlich der konkreten Nutzung der jeweiligen Einheiten enthält, führt dagegen aus den genannten Gründen nicht in der Weise zur Unbestimmtheit der Baugenehmigung, dass bereits dadurch der Kläger in seinen Rechten verletzt wird.

Soweit sich der Kläger auf eine mangelnde Bestimmtheit der Baugenehmigung aufgrund fehlender Standsicherheitsnachweise bezieht, ist von vornherein die mögliche Betroffenheit des Klägers in seinen Rechten nicht erkennbar.

Gleiches gilt für die vermeintliche Unbestimmtheit des am 29. Juni 2011 erteilten Abweichungs- und Befreiungsbescheids. Dass sich dieser auf die Abweichung nicht zum Grundstück des Klägers gerichtete Abstandflächen bezieht, ergibt sich eindeutig aufgrund der Bezugnahme auf die vorgelegten Zeichnungen und damit auf den Amtlichen Lageplan vom 20. Juni 2011, aus dem die Überschreitung der jeweiligen von dem Abweichungsbescheid umfassten Abstandflächen hervor geht.

Auch im Übrigen vermag das Gericht einen den Kläger in seinen Rechten verletzenden Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot nicht festzustellen.

Die angefochtene Baugenehmigung vom 29. Juni 2011, einschließlich der angefochtenen ersten und zweiten Nachtragsbaugenehmigung, verstößt nicht gegen drittschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts.

Insbesondere verletzt sie den Kläger nicht wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen Abstandflächenvorschriften in seinen Rechten. § 6 BauO NRW vermittelt dem Kläger insoweit ein Abwehrrecht, als dass dieser die Einhaltung von Abstandflächen gegenüber seinem Grundstück geltend machen kann. Ein in Bezug auf die gemeinsame Grundstücksgrenze festzustellender Verstoß gegen Abstandflächenvorschriften liegt hier allerdings nicht vor.

Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Nach Satz 2 a) der Vorschrift ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandfläche nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden muss. Da der Bebauungsplan Nr. 00/000 "S1. Straße/C.------straße " in Bezug auf die gemeinsame Grundstücksgrenze zum Kläger eine Baulinie im Sinne des § 23 Abs. 2 der Baunutzungsverordnung (BauNVO) festsetzt, ist die grenzständige Bebauung nach § 6 Abs. 1 Satz 2 a BauO NRW zulässig und ein Verstoß gegen Abstandflächenvorschriften ausgeschlossen.

Ob eine angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, beurteilt sich zwar grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1993 - 4 C 19.90 -, zitiert nach juris.

Demnach wäre hier der Bebauungsplan Nr. XXX "S1. Straße/C.------straße /S2.---straße maßgeblich, da der Bebauungsplan Nr. 0/00 "S1. Straße/A.-------straße ", der im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung in Kraft war, durch Urteil des OVG NRW vom 26. April 2013 für unwirksam erklärt wurde.

Allerdings haben spätere Änderungen zu Lasten des Bauherrn außer Betracht zu bleiben, während nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sind. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts gewährleisteten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 1998 - 4 B 40/98 -, mit Bezug auf BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1965 - 4 C 3.65 - und Beschluss vom 22. April 1996 - 4 B 54.96 -, sowie OVG NRW, Beschluss vom 10. Mai 2007 - 10 B 305/07 -, jeweils zitiert nach juris.

Der Bebauungsplan Nr. 00/000 "S1. Straße/C.------straße " enthält nachträgliche Änderungen zu Gunsten des Beigeladenen. Durch diesen wird zum einen die grenzständige Bebauung und zum anderen eine bis zu dreigeschossige Bebauung, sofern diese einen Abstand von 0,8 H einhält, entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze zum Kläger ermöglicht.

An der Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 00/000 bestehen keine Bedenken, insbesondere wurde er ordnungsgemäß bekannt gemacht.

Die den Abwägungsvorgang betreffenden Rügen wären zudem inzwischen nach Überschreiten der Jahresfrist gemäß § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Baugesetzbuches (BauGB) verspätet.

Die Planerhaltungsvorschriften unterscheiden zwischen Mängeln im Abwägungsvorgang und Mängeln im Abwägungsergebnis. Mängel im Abwägungsvorgang sind nur unter den in § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB genannten Voraussetzungen beachtlich. Nach beiden Vorschriften muss der Mangel offensichtlich und auf das Ergebnis von Einfluss gewesen sein. Ein hiernach beachtlicher Mangel des Abwägungsvorgangs muss innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung der Satzung schriftlich gegenüber der Gemeinde unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht worden sein; andernfalls wird er, wenn bei Inkraftsetzung der Satzung auf die Voraussetzungen für die Geltendmachung der Verletzung von Vorschriften sowie auf die Rechtsfolgen hingewiesen worden ist, gemäß § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 3 BauGB unbeachtlich. Ein Mangel im Abwägungsergebnis ist demgegenüber stets beachtlich; er führt unabhängig vom Vorliegen weiterer Mängel der Abwägung zur (Teil-) Unwirksamkeit des Bebauungsplans.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. September 2010 - 4 CN 2/10 -, mit weiteren Nachweisen, zitiert nach juris.

An der Wirksamkeit des Abwägungsergebnisses als solchem hat das Gericht keine durchgreifenden Zweifel. Insbesondere liegen keine Anhaltpunkte für die Unwirksamkeit der Festsetzung einer Baulinie gemäß § 23 Abs. 2 BauNVO entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze sowie der Zulässigkeit einer bis zu dreigeschossigen Bebauung, sofern diese einen Abstand von 0,8 H einhält, vor, noch wurden solche seitens des Klägers vorgetragen.

Auch im Übrigen wurden von dem Kläger keine die Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 00/000 nach sich ziehenden Gründe vorgetragen, noch sind sie sonst für das Gericht ersichtlich.

Ein Verstoß gegen § 6 BauO NRW liegt neben der demnach aufgrund des Bebauungsplans Nr. 00/000 zulässigen grenzständigen eingeschossigen Bebauung darüber hinaus nicht vor, da das Vorhaben die entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze getroffenen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 00/000 auch im Übrigen, namentlich hinsichtlich des zweiten und dritten Geschosses, einhält. Das zweite Geschoss weist eine Wandhöhe von 9,77 m auf. Nach der textlichen Festsetzung Nr. 4, wonach - gleichlaufend mit der Vorschrift in § 6 Abs. 5 Satz 1 BauO NRW - in dem Bereich der maximal dreigeschossigen Bebauung die Tiefe der Abstandfläche 0,8 H beträgt, ist zur klägerischen Grundstücksgrenze ein Abstand von 7,816 m einzuhalten. Das dritte Geschoss weist eine Wandhöhe von 13,4 m auf. Der Mindestabstand beträgt damit 10,72 m. Aus dem Amtlichen Lageplan vom 20. Juni 2011 geht hervor, dass diese Mindestabstände eingehalten werden.

Ein Verstoß des Vorhabens gegen drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts liegt ebenfalls nicht vor. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich hier nach § 30 Abs. 1 BauGB, da es im Geltungsbereich des am 28. März 2014 in Kraft getretenen Bebauungsplans Nr. 00/000 "S1. Straße/ C.------straße " liegt.

Der Kläger kann sich insbesondere nicht erfolgreich auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme berufen.

Das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme soll angesichts der gegenseitigen Verflechtungen der baulichen Situation benachbarter Grundstücke einen angemessenen planungsrechtlichen Ausgleich schaffen, der einerseits dem Bauherrn ermöglicht, was von seiner Interessenlage her verständlich und unabweisbar ist, und andererseits dem Nachbarn erspart, was an Belästigungen und Nachteilen für ihn unzumutbar ist. Die Beachtung des Rücksichtnahmegebots soll gewährleisten, Nutzungen, die geeignet sind, Spannungen und Störungen hervorzurufen, einander so zuzuordnen, dass Konflikte möglichst vermieden werden. Die sich daraus ergebenden Anforderungen sind im Einzelfall festzustellen, wobei die konkreten Umstände zu würdigen, insbesondere die gegenläufigen Interessen des Bauherrn und des Nachbarn in Anwendung des Maßstabes der planungsrechtlichen Zumutbarkeit gegeneinander abzuwägen sind. Dabei kann desto mehr an Rücksichtnahme verlangt werden, je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung dessen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt; umgekehrt braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, desto weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm mit dem Bauvorhaben verfolgten Interessen sind.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. Januar 1983 - 4 C 59.79 -, vom 28. Oktober 1993 - 4 C 5.93 - und vom 23. September 1999 - 4 C 6.98 -; OVG NRW, Beschluss vom 3. September 1999 - 10 B 1283/99 -, sowie zuletzt VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 13. November 2015 - 5 L 1900/15 -; jeweils zitiert nach juris.

Dabei reichen bloße Lästigkeiten für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine qualifizierte Störung im Sinne einer Unzumutbarkeit.

Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 17. Januar 2014 - 5 L 1469/13 - und vom 23. August 2013 - 6 L 737/13 - sowie Urteil vom 21. August 2014 - 5 K 3451/13 -; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), Urteil vom 12. Juli 2012 - 2 B 12.1211 -; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2012 - 2 S 50.10 -; jeweils zitiert nach juris.

Der Kläger kann sich hier bereits deshalb nicht mit Erfolg auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme berufen, da die Erwägungen im Zusammenhang mit der aufgrund der Festsetzung der Baulinie sowie der dreigeschossigen Bebauungsmöglichkeit gebotenen Rücksichtnahme auf die Nutzungen in der Umgebung des Plangebiets bereits in die dem Bebauungsplan zugrunde liegende Abwägung der öffentlichen und privaten Belange eingeflossen sind.

§ 15 Abs. 1 BauNVO als Ausprägung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebots findet im Baugenehmigungsverfahren grundsätzlich keine Anwendung mehr, wenn das Rücksichtnahmegebot von der vorausgegangenen planerischen Abwägung gleichsam "aufgezehrt" ist. Die Vorschrift ergänzt lediglich die Festsetzungen des Bebauungsplans, soweit dieser selbst noch keine Lösung für bestimmte Konfliktsituationen enthält. Ihre Anwendung darf aber nicht zur Korrektur der planerischen Entscheidung führen. Grundsätzlich gebietet das in § 1 Abs. 7 BauGB enthaltene Gebot der Konfliktbewältigung, dass jeder Bebauungsplan die von ihm selbst geschaffenen oder ihm sonst zurechenbaren Konflikte zu lösen hat, indem die von der Planung berührten Belange zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden. Die Planung darf nicht dazu führen, dass Konflikte, die durch sie hervorgerufen werden, zu Lasten der Betroffenen letztlich ungelöst bleiben.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Januar 2014 - 10 B 1323/13 -, mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 12. September 2013 - 4 C 8.12 -, zitiert nach juris.

Hiervon ausgehend, ist die durch die grenzständige sowie dreigeschossige Bebauung entlang der nördlichen Grundstücksgrenze des Vorhabengrundstücks verursachte Beeinträchtigung des Klägers in der den entsprechenden Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegenden Abwägung hinreichend berücksichtigt worden. Ausweislich der Begründung zum Bebauungsplan vom 17. Dezember 2013 hat sich der Rat mit den Auswirkungen einer grenzständigen bzw. dreigeschossigen Bebauung zulasten der Nachbarn befasst. Nach umfassender Auswertung der Verschattungsstudie des Dipl. Met. H. M. vom 12. Dezember 2013 ist er zu dem Schluss gekommen, dass die grenzständige eingeschossige Bebauung zu keiner zusätzlichen Verschattung der nördlich und südlich benachbarten Wohngebäude führe. Auch eine Bebauung mit einem Mindestabstand von 3,0 m führe hier zu keiner Verbesserung. Das Ausmaß der zusätzlichen Verschattungsdauer der Wohngebäude und der Gärten werde im Wesentlichen durch die Blockrandbebauung sowie das 1. und 2. Obergeschoss der Innenhofbebauung beeinflusst. Da diese Bebauung jedoch die Abstandflächen gemäß § 6 BauO NRW einhalten müsse, seien dennoch entstehende Verschattungseffekte regelmäßig hinzunehmen (siehe S. 19 unten). An den Feststellungen der Verschattungsstudie, die der Einschätzung des Plangebers zugrunde lag, bestehen keine Bedenken. Insbesondere wurde hier - anders als bei der ursprünglichen und vom OVG NRW in seiner Entscheidung vom 26. April 2013 noch gerügten Verschattungsstudie - in die Bemessung der 17. Januar als wintertypische Tag einbezogen sowie eine worstcase Betrachtung vorgenommen. Hinzu kommt, dass der Plangeber in der textlichen Festsetzung Nr. 4 ausdrücklich die Anwendung des Schmalseitenprivilegs nach § 6 Abs. 6 BauO NRW ausgeschlossen hat, um somit zusätzliche Beeinträchtigungen für die angrenzenden Nachbarn auszuschließen.

Aufgrund dieser umfassenden Berücksichtigung der Belange der im Norden angrenzenden Nachbarn sowie der Folgen einer grenzständigen Bebauung scheidet eine Korrektur des planerischen Willens über das Gebot der Rücksichtnahme vorliegend aus.

Sofern sich der Kläger außerdem auf unzumutbare Einsichtsmöglichkeiten auf sein Grundstück aufgrund der Möglichkeit der Errichtung bodentiefer Fenster an der nördlichen Außenwand sowie der Errichtung von Terrassen beruft, ist unabhängig von der Frage, ob auch diese Erwägungen in den Abwägungsvorgang eingeflossen sind und damit von dem Bebauungsplan aufgezehrt wurden, ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme ausgeschlossen. Denn die bodentiefen Fenster sowie Terrassen befinden sich im Bereich der zwei- bzw. dreigeschossigen Bebauung, die ihrerseits - wie gezeigt - die Abstandflächen im Sinne des § 6 BauO NRW einhalten. Für die Anwendung des bundesrechtlichen Rücksichtnahmegebots verbleibt jedoch aus tatsächlichen Gründen regelmäßig dann kein Raum, soweit die durch dieses Gebot geschützten Belange durch spezielle bauordnungsrechtliche Vorschriften geschützt werden und das konkrete Vorhaben deren Anforderungen genügt.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 2000 - 4 C 3.00 - und vom 7. Dezember 2006 - 4 C 11.05 -; OVG NRW, Beschl. v. 11. März 2003- 7 B 240/03 -; VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 14. Oktober 2010 - 10 L 765/10 -; jeweils zitiert nach juris; Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 12 Rn. 8; Boeddinghaus/Hahn/Schulte/Radeisen, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Bd. II, § 51 Rn. 9, 211.

Die Vorschrift des § 6 BauO NRW soll durch Mindestabstände die Gefahr der Brandübertragung, der Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung, der unangemessenen optischen Beengung oder der Störung des Wohnfriedens vorbeugen und ganz allgemein vermeiden, dass die Lebensäußerungen der in der Nachbarschaft wohnenden und arbeitenden Menschen zu intensiv aufeinander einwirken (sog. Sozialabstand).

Vgl. Beschluss der erkennenden Kammer vom 12. März 2012 - 5 L 1112/12 -, zitiert nach juris.

Anhaltspunkte, die trotz des Einhaltens der Abstandflächenvorschriften gleichwohl einen qualifizierten Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot im oben genannten Sinne begründen, sind hier nicht feststellbar. Hinzu kommt vor allem, dass sich die Einsichtsmöglichkeiten sowohl auf geschäftsübliche Zeiten - und damit gerade nicht auf die besonders geschützten Abendstunden sowie auf Wochenenden - beschränken dürften als auch der Umstand, dass die rückwärtige Fassade des Gebäudes des Klägers etwa 20 Meter von der Grundstücksgrenze entfernt liegt.

Der vorliegende Sachverhalt ist entgegen der Ansicht des Klägers mit der Entscheidung der Kammer vom 14. Juni 2012 (5 K 1588/09), in der die Kammer die angefochtene Baugenehmigung für die Errichtung eines Seil- und Klettergartens wegen Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufhob, von vornherein bereits deshalb nicht im Ansatz vergleichbar, da dem Bewertungsmaßstab in jenem Fall - anders als hier - eine erstmalige Einsichtnahmemöglichkeit auf das im Außenbereich gelegene Grundstück der Kläger zugrundelag.

Sofern der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund der auf dem Dach des Gebäudes errichteten Lüftungsanlage geltend macht, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Eine mit der - nach den Feststellungen in der mündlichen Verhandlung entsprechend der Genehmigung erfolgten - Errichtung der Lüftungsanlage einhergehende Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Kläger ist weder substantiiert vorgetragen noch aus sonstigen Gesichtspunkten für das Gericht erkennbar, zumal auch hier die Abstandflächen eingehalten werden.

Schließlich verletzt die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 29. Juni 2011 auch keine sonstigen nachbarschützenden Vorschriften des öffentlichen Rechts.

Eine Verletzung nachbarschützender Rechte durch die ebenfalls angefochtene erste Nachtragsbaugenehmigung vom 29. Juni 2012, mit der die Einrichtung von vier Einzelhandelsnutzungen im Unter- und Erdgeschoss genehmigt wurden, sowie durch die zweite Nachtragsbaugenehmigung vom 17. Juli 2012, mit der Änderungen der Grundrisse im 1. und 2. Obergeschoss sowie Änderungen an verschiedenen Fassaden und Veränderungen der Technikaufbauten auf dem Dach des Gebäudes genehmigt wurden, ist weder von dem Kläger vorgetragen, noch sonst ersichtlich.

Schließlich vermag der angefochtene Abweichungsbescheid vom 29. Juni 2011 den Kläger nicht in seinen Rechten zu verletzen, da hierdurch lediglich die Abweichung von Vorschriften über Abstandflächen, die insgesamt nicht zur Grundstücksgrenze des Klägers gelegen sind, genehmigt wurde.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, da dieser mit Erfolg einen Antrag gestellt und sich damit dem allgemeinen Prozessrisiko ausgesetzt hat.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.