OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.01.2016 - 20 UF 133/15
Fundstelle
openJur 2016, 2782
  • Rkr:

Zur Anwendung des Günstigkeitsprinzips in Fällen, in denen die Abstammung des Kindes gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EGBGB alternativ nach deutschem Sachrecht oder nach einem ausländischen Sachrecht bestimmt werden kann.

Jedenfalls dann, wenn eine Vaterschaftsanerkennung durch den biologischen Vater nicht erfolgt ist und auch nicht unmittelbar bevorsteht, ist eine aus dem ausländischen Sachrecht folgende Vaterschaftsfiktion gegenüber einer aus dem deutschen Sachrecht folgenden rechtlichen Vaterlosigkeit für das Kind auch dann günstiger, wenn die biologische Vaterschaft des betreffenden Mannes unwahrscheinlich oder nicht gegeben ist.

Tenor

1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Pforzheim vom 16.07.2015, Az. 5 F 35/15, wird zurückgewiesen.

2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

4. Der Verfahrenswert wird für das Beschwerdeverfahren auf 6.650 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragstellers, Kindesunterhalt für den am … 2011 geborenen M. zu zahlen.

Die Mutter von M. war mit dem Antragsteller verheiratet. Beide sind türkische Staatsangehörige. Im Jahr 2009 oder 2010 trennten sich die Eheleute. Mit Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bruchsal vom 19.4.2011, rechtskräftig seit demselben Tage, wurde die Ehe geschieden.

Am … 2011 wurde M. geboren. Er hat seinen Aufenthalt in Deutschland. Der Antragsteller wurde vom Standesamt P. als Kindesvater in der Geburtsurkunde eingetragen, da nach türkischem Recht (Art. 285 ZGB) der Ehemann auch dann als Vater gilt, wenn ein Kind vor Ablauf von 300 Tagen nach Ende der Ehe geboren wurde.

Die Mutter beantragte am 30.11.2011 Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. Im Dezember 2011 wurde der Vater von der Unterhaltsvorschusskasse zur Auskunftserteilung über seine Einkommensverhältnisse aufgefordert.

Ein im Auftrag des Antragstellers in Auftrag gegebenes nichtamtliches Vaterschaftsgutachten vom 19.9.2011 kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der vorliegenden Untersuchungsbefunde der Antragsteller als der biologische Vater von M. auszuschließen sei. Im vorliegenden Verfahren ist unstreitig, dass der Antragsteller nicht der biologische Vater ist. Der Antragsteller strengte ein Vaterschaftsanfechtungsverfahren beim Amtsgericht - Familiengericht - Bruchsal (Az. 2 F 306/12) an. Auf den im Vaterschaftsanfechtungsverfahren erteilten gerichtlichen Hinweis, dass nicht ersichtlich sei, was die Vaterschaft begründe, nahm der Antragsteller seinen Antrag auf Anfechtung der Vaterschaft zurück.

Auf Antrag der Unterhaltsvorschusskasse wurde im Verfahren des Amtsgerichts - Familiengericht - Pforzheim, Az. 12 FH 3/14, mit Beschluss vom 15.5.2014 der Antragsteller verpflichtet, an das Land Baden-Württemberg für das Kind M. rückständigen und laufenden Unterhalt ab 1.12.2011 zu zahlen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss in der beigezogenen Akte Bezug genommen. Eine vom Antragsteller eingelegte Beschwerde wurde nach Hinweis durch das Amtsgericht zurückgenommen.

Mit dem hier verfahrensgegenständlichen Antrag vom 29.1.2015 beantragt der Antragsteller Abänderung dieses Beschlusses dahingehend, dass er keinen, hilfsweise zukünftig keinen Unterhalt zahlen müsse. Zur Begründung hat er darauf abgestellt, dass er nicht der biologische Vater sei. Er sei auch nicht als rechtlicher Vater anzusehen. Die Abstammung des Kindes unterliege dem deutschen und nicht dem türkischen Abstammungsrecht. Anderes ergebe sich nicht aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB, denn für das Kind sei es nicht die günstigste Lösung, ihm einen rechtlichen Vater zuzuordnen, von welchem es tatsächlich nicht abstamme, vielmehr sei sicherlich die günstigste Lösung, ihm ohne Umwege zu seinem wirklichen Vater zu verhelfen. Das Land Baden-Württemberg ist als Antragsgegnerin dem Antrag entgegengetreten.

Das Amtsgericht hat durch Beschluss vom 16.7.2015 den Abänderungsantrag des Antragstellers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Soweit der Antragsteller Aufhebung für die Vergangenheit beantrage, sei der Antrag unzulässig, denn Abänderung könne nur für die Zeit ab Rechtshängigkeit des Antrags beantragt werden. Ein Antrag auf Abänderung für die Zukunft sei unbegründet. In Anwendung des Art. 19 EGBGB sei hier nach dem Günstigkeitsprinzip für die Frage der Abstammung das türkische Recht heranzuziehen, denn dies sei die Rechtsordnung, welche für das Kindeswohl günstiger sei. Nach dem Günstigkeitsprinzip gebühre derjenigen Rechtsordnung der Vorrang, nach welcher eine Abstammung zuerst wirksam festgestellt werden könne. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 16.7.2015 Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers. Der Antragsteller wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er macht geltend, durch die rechtliche Fiktion werde das Grundrecht auf Familie verletzt. Die Möglichkeit der Vaterschaftsanfechtung nach türkischem Recht sei nicht praktikabel und verstoße gegen das Verfassungsprinzip des effektiven Rechtsschutzes, da dort eine Anfechtungsfrist von einem Monat ab Kenntnis von der Geburt des Kindes gelte. Jedenfalls verweise das türkische IPR auf das deutsche Sachrecht zurück, was zu beachten sei.

Der Antragsteller beantragt:

Der Beschluss des Amtsgerichts Pforzheim vom 16.7.2015 wird aufgehoben.

Der Beschluss des Amtsgerichts Pforzheim vom 15.5.2014 zu dem Az. 12 FH 3/14 wird abgeändert, indem der Beschluss aufgehoben wird. Hilfsweise den Beschluss des Amtsgerichts Pforzheim vom 15.5.2014 zu dem Az. 12 FH 3/14 insoweit abzuändern, als der Antragsteller zukünftig keinen Unterhalt mehr zahlen muss.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die beigezogenen Akten des Amtsgerichts - Familiengericht - Pforzheim, Az. 2 F 306/12 und 12 FH 3/14, Bezug genommen.II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

1) Der Senat konnte gemäß §§ 68 Abs. 3 Satz 2, 117 Abs. 3 FamFG ohne erneute mündliche Verhandlung entscheiden, da nur Rechtsfragen aufgeworfen sind, zu denen die Beteiligten umfassend schriftlich Stellung nehmen konnten, somit von einer Verhandlung keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind; der nach § 117 Abs. 3 FamFG gebotene Hinweis ist erfolgt.

2) Es kann offenbleiben, ob der Abänderungsantrag teilweise, nämlich für den vor dem 18.6.2015 liegenden Unterhaltszeitraum, unzulässig ist. Der Antragsteller hat allerdings den Abänderungsantrag auf Herabsetzung des Unterhalts am 29.01.2015 und somit innerhalb eines Monats nach Rechtskraft des im vereinfachten Unterhaltsverfahren ergangenen Beschlusses (Rechtskraft trat mit Beschwerderücknahme am 27.01.2015 ein) eingereicht. Streitig ist, ob er hierdurch bereits innerhalb eines Monats nach Rechtskraft des Beschlusses im vereinfachten Unterhaltsverfahren „gestellt“ war im Sinne des § 240 Abs. 2 S. 1 FamFG (vgl. einerseits Zöller/Lorenz, ZPO, 31. Aufl., § 240 FamFG Rn. 8; andererseits Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 18. Aufl., § 240 Rn. 6). Eine Rückbeziehung der Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags entsprechend § 167 ZPO kommt hier jedenfalls nicht in Betracht, da die Zustellung des Antrages nicht demnächst erfolgt ist. Der Antrag wurde zunächst nicht förmlich zugestellt, da der Antragsteller keine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt hatte. Dass der Antrag sodann erst mit Antragstellung im Termin vom 18.6.2015 rechtshängig wurde, lag somit im Verantwortungsbereich des Antragstellers, und die die Zustellung ersetzende Antragstellung war somit zweifellos nicht mehr „demnächst“.

3) Jedenfalls ist der Abänderungsantrag unbegründet. Die Unterhaltspflicht des Antragstellers für M. in der im vereinfachten Unterhaltsverfahren festgesetzten Höhe beruht auf §§ 1601, 1602, 1606 Abs. 3 S. 2 , 1612 a BGB. Die Aktivlegitimation der Antragsgegnerin folgt aus § 7 UVG. Mangelnde Leistungsfähigkeit macht der Antragsteller nicht geltend.

Insbesondere ist der Antragsteller ungeachtet der Frage seiner biologischen Vaterschaft in rechtlicher Hinsicht Vater von M. und als solcher unterhaltspflichtig.

a) Zwar folgt aus dem deutschen Sachrecht, welches nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB zunächst zur Anwendung berufen ist, eine rechtliche Vaterschaft des Antragstellers nicht, denn M. wurde erst nach rechtskräftiger Scheidung der Ehe geboren (§ 1592 Nr. 1 BGB). Die rechtliche Vaterschaft ist aber nach dem gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB alternativ berufenen türkischen Sachrecht begründet. Nach Art. 285 Abs. 1 des türkischen ZGB ist der Ehemann auch Vater eines Kindes, welches von seiner Ehefrau vor Ablauf von 300 Tagen nach dem Ende der Ehe geboren worden ist. Dies war vorliegend der Fall.

b) Vorliegend sind nach Art. 19 Abs. 1 S. 1, 2 EGBGB unterschiedliche Sachrechte für die Bestimmung der Abstimmung berufen. Beide Anknüpfungen sind grundsätzlich gleichrangig (BGH FamRZ 2006, 1745). Nach allgemeiner Ansicht gilt in diesen Fällen das Günstigkeitsprinzip; zur Anwendung berufen ist das Recht, welches für das Kindeswohl günstiger ist (Palandt/Thorn, BGB, 75. Aufl., Art. 19 EGBGB Rn. 6; Staudinger/Dieter Henrich, Art. 19 EGBGB (2014), Rn. 24). Im vorliegenden Fall ist die Feststellung der Abstammung nach türkischem Recht für das Kindeswohl von M. günstiger, da danach eine rechtliche Vaterschaft des Antragstellers besteht, während ansonsten M. zunächst und möglicherweise auf längere Sicht gänzlich ohne rechtlichen Vater, somit insbesondere auch ohne einen Unterhaltsanspruch gegen einen Vater, wäre. Die in der Literatur und Rechtsprechung problematisierte Konkurrenz einer rechtlichen Vaterschaftsfiktion gegenüber einer bereits stattgefundenen oder unmittelbar bevorstehenden Vaterschaftsanerkennung (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2015, 1636; Staudinger / Dieter Henrich a. a. O. Rn. 38), bei welcher es dem Kindeswohl am günstigsten sein könnte, ihm ohne Umwege zu seinem wirklichen Vater zu verhelfen (Henrich, FamRZ 1998, 1401), stellt sich hier nicht. Denn es ist weder aus den Akten ersichtlich noch - auf Hinweis - vorgetragen, dass die Anerkennung der Vaterschaft durch einen anderen Mann erfolgt wäre oder in Sicht sei. Vorliegend führt deshalb das nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 EGBGB berufene deutsche Sachrecht zur rechtlichen Vaterlosigkeit von M., das nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EGBGB berufene türkische Sachrecht dagegen zu einer rechtlichen Vaterschaft eines Mannes, dessen biologische Vaterschaft wohl nicht gegeben ist. Unter diesen Alternativen ist die letztgenannte für das Kindeswohl günstiger.

c) Offen bleiben kann, ob das türkische IPR auf das deutsche Sachrecht zurückverweist. Dies wäre nach Art. 16 Abs. 1 des türkischen IPRG nur der Fall, wenn M. nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, denn nur in diesem Fall könnte seine Abstammung nicht nach seinem (türkischen) Heimatrecht begründet werden, und Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 des türkischen IPRG verwiese dann auf das Recht seines gewöhnlichen Aufenthalts. Ohnehin wäre jedoch die Rückverweisung nicht anzuerkennen, da sie dem Sinn des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EGBGB - Vermehrung der Anknüpfungsalternativen - widersprechen würde (Staudinger / Dieter Henrich a. a. O. Rn. 25; OLG Nürnberg FamRZ 2005, 1967; OLG Hamm FamRZ 2009, 126).

d) Eine erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung ist bisher nicht erfolgt. Entgegen der Behauptung des Antragstellers wird die Anfechtungsmöglichkeit übrigens durch das türkische ZGB nicht in rechtsstaatlich bedenklicher Weise verkürzt. Nach Art. 289 ZGB beträgt die Frist zur Einreichung der Vaterschaftsanfechtungsklage ein Jahr ab Geburt und Kenntnis.

Rechtliche Vaterschaftsfiktionen kennt auch das deutsche Recht; verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht, auch nicht gegen die nachwirkende Vaterschaftsvermutung des Art. 285 ZGB. Denn diesen Fiktionen kann gegebenenfalls durch Vaterschaftsanfechtung entgegen getreten werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 243 FamFG, wobei der Rechtsgedanke des § 97 Abs. 1 ZPO leitend war. Die Rechtsbeschwerde wird gemäß § 70 Abs. 2 Nr. 1 FamFG zugelassen, da die konkrete Anwendung des Günstigkeitsprinzips im Rahmen der Art. 19 Abs. 1 Satz 1, 2 EGBGB gerade in Fällen, in denen die rechtliche Vaterschaftsfiktion zu widersprechenden Ergebnissen gegenüber der wahrscheinlichen biologischen Abstammung führt, noch nicht abschließend höchstrichterlich geklärt ist.

Der Verfahrenswert folgt aus § 51 Abs. 1, 2 FamGKG (Rückstand bis 28.02.2014: 3.591,00 EUR; Rückstand für 01.03.2014 bis 31.01.2015: 11 * 133 EUR; laufender Unterhalt ab 1.2.2015: 12 * 133 EUR).