VerfG des Landes Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2015 - 19/15 EA
Fundstelle
openJur 2016, 2228
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.

Gründe

A.

Die Antragstellerin begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aussetzung der Zwangsvollstreckung.

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen die für den 16. Dezember 2015 vorgesehene Zwangsräumung der von ihr bewohnten Wohnung und hat am 2. Dezember 2015 den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt. Sie macht geltend, sie habe zum 1. November 2015 eine neue Wohnung angemietet, benötige aber noch Zeit für den freiwilligen Umzug, den sie durch die ständigen Räumungsandrohungen mehrfach habe abbrechen müssen. Dennoch solle sie in ein Obdachlosenheim eingewiesen werden, was sie in ihrer Menschenwürde verletze. Sie sei 76 Jahre alt und herzkrank. Für Letzteres hat sie ein ärztliches Attest vom 2. November 2015 vorgelegt, wonach sie sich seit Jahren wegen schwerer chronischer Erkrankungen in hausärztlicher Betreuung befinde und die Durchführung der Räumung eine schwere, medizinisch nicht vertretbare Beeinträchtigung darstelle.

Einen gegen die Zwangsräumung gerichteten Antrag auf Gewährung von Räumungsschutz gegen die zuvor bereits auf den 9. November 2015 bestimmte Zwangsräumung nach § 765a Zivilprozessordnung (ZPO) wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 28. Oktober 2015 (21 M 892/15) zurück.

Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das Landgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 19. November 2015 (19 T 324/15) zurück, da die Voraussetzungen des § 765a ZPO nicht erfüllt seien. Hiernach könne die Zwangsvollstreckung nur eingestellt werden, wenn ganz besondere Umstände vorlägen, die über die Härten hinausgingen, die jede Zwangsvollstreckung mit sich bringe. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die von der Antragstellerin hierzu angeführten Gründe nicht über das normale Maß an Härten hinauswiesen, die eine Zwangsvollstreckung naturgemäß mit sich bringe. Vollstreckungsschutz könne auch nur dann gewährt werden, wenn der Schuldner selbst zumutbare Anstrengungen unternommen habe, um einer Gefährdungssituation zu begegnen. Vorliegend habe die Beschwerdeführerin selbst vorgetragen, zum 1. November 2015 Ersatzwohnraum angemietet zu haben und erklärt, in Kürze in die neue Wohnung umziehen zu wollen. Der Umzug sei daher mit Blick auf ihren Gesundheitszustand gegebenenfalls nicht bis zu dem zunächst für den 9. November 2015 anberaumten Räumungstermin zu realisieren gewesen, knapp drei Wochen nach der Anmietung aber sei der Umzug zumutbar und durchführbar. Trotz Hinweises des Gerichts habe die Beschwerdeführerin nicht begründet, warum es hierfür eines Zeitfensters bis zum 30. November 2015 bedurft hätte.

II.

Die Antragstellerin hat am 2. Dezember 2015 den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt und gleichzeitig Verfassungsbeschwerde (VfGBbg 86/15) eingelegt.

Die Antragstellerin beantragt,

die Vollstreckung einstweilen bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts über ihre Verfassungsbeschwerde auszusetzen.

B.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zurückzuweisen. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 VerfGGBbg sind nicht gegeben.

Nach dieser Vorschrift kann das Verfassungsgericht einen Zustand durch eine einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Insoweit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ein strenger Maßstab anzulegen. Die nachteiligen Folgen, die ohne die einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache zu erwarten sind, müssen im Vergleich zu den nachteiligen Folgen, die sich bei Erlass der einstweiligen Anordnung für den Fall der Erfolglosigkeit in der Hauptsache ergeben, deutlich überwiegen, weil sie sonst bei vergleichender Betrachtungsweise nicht schwer genug im Sinne des Gesetzes sind („schwerer Nachteil“) bzw. keinen gleichwertigen „anderen“ Grund im Sinne des Gesetzes darstellen. Bei der Abwägung sind im Allgemeinen nur irreversible Nachteile zu berücksichtigen (vgl. Beschlüsse vom 14. Oktober 2015 - VfGBbg 17/15 EA-, vom 24. Februar 2015 - VfGBbg 3/15 EA -, vom 22. Februar 2013 - VfGBbg 1/13 EA -, vom 06. Juli 2012 - VfGBbg 5/12 EA -, vom 20. Mai 2010 - VfGBbg 9/10 EA - und vom 30. September 2010 - VfGBbg 8/10 EA -, www.verfassungsgericht.branden-burg.de).

Darüber hinaus muss, und zwar im Sinne zusätzlicher Voraussetzungen, die einstweilige Anordnung „zum gemeinen Wohl“ und „dringend geboten“ sein (vgl. Beschlüsse vom 14. Oktober 2015 - VfGBbg 17/15 EA-, vom 24. Februar 2015 - VfGBbg 3/15 EA -, vom 22. Februar 2013 - VfGBbg 1/13 EA -, vom 06. Juli 2012 - VfGBbg 5/12 EA -, vom 20. Februar 2003 - VfGBbg 1/03 EA -, www.verfassungsgericht.brandenburg.de, sowie Urteil vom 4. März 1996 - VfGBbg 3/96 EA -, LVerfGE 4, 109, 112 f m. w. Nachw.).

Danach kommt der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht in Betracht. Es kann vorliegend offen bleiben, ob der Antragstellerin durch die Zwangsräumung ein derart schwerer, irreversibler, die auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerichteten Interessen des die Zwangsvollstreckung betreibenden Gläubigers an einem Abschluss des Verfahrens deutlich übersteigender Nachteil entsteht. Jedenfalls sind Auswirkungen auf das „gemeine Wohl“, die abzuwenden „dringend geboten“ wären, bei dieser Einzelfallentscheidung weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Es geht der Antragstellerin vielmehr allein um eine in ihrem Individualinteresse liegende Aussetzung einer zivilrechtlichen Vollstreckungsmaßnahme.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass verfassungsrechtliche Bedenken gegen die zivilgerichtlichen Entscheidungen auf Grundlage des Vortrags der Antragstellerin nicht bestehen. Bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen wird das Verfassungsgericht nicht in der Art eines Rechtsmittelgerichts tätig. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, die Entscheidungen der Fachgerichte allgemein auf ihre materielle und verfahrensrechtliche Richtigkeit zu überprüfen und sich in dieser Weise an ihre Stelle zu setzen (st. Rspr., vgl. nur Beschlüsse vom vom 14. Oktober 2015 - VfGBbg 17/15 EA-, vom 21. November 2014 - VfGBbg 20/14 - und vom 29. August 2014 - VfGBbg 63/13 -). Eine Überprüfung erfolgt vielmehr allein am Maßstab der Landesverfassung daraufhin, ob eine gerichtliche Entscheidung hierin gewährte Rechte verletzt (Beschlüsse vom 14. Oktober 2015 - VfGBbg 17/15 EA- und vom 19. Juni 2015 - VfGBbg 24/15 -). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen ist daher darauf beschränkt, festzustellen, ob die Entscheidung willkürlich ist oder ob sie auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruht. Dies ist vorliegend erkennbar nicht der Fall.

Das Landgericht hat vielmehr zutreffend darauf abgestellt, dass wegen der bei einer Zwangsräumung drohenden Obdachlosigkeit grundsätzlich die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit bestehen kann. Es hat jedoch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, angesichts des angemieteten Ersatzwohnraums drohe keine Obdachlosigkeit, und der Umzug sei innerhalb eines Zeitraums von drei Wochen auch nicht unzumutbar. Hieran ändert auch das vorgelegte ärztliche Attest nichts, das nicht erkennen lässt, an welcher schweren Erkrankung die Antragstellerin leidet und weshalb sich hieraus zwingend die Unzumutbarkeit eines vor der Räumung freiwillig stattfindenden Umzugs ergibt. Für die von der Antragstellerin überdies behauptete Verletzung ihrer Menschenwürde aus Art. 7 Abs. 1 Landesverfassung (LV) ist nichts ersichtlich.

Dafür, dass die zivilgerichtlichen Entscheidungendas Grundrecht der Antragstellerin auf Gleichheit vor dem Gesetz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür aus Art. 12 Abs. 1 LV verletzten, ist ebenfalls nichts vorgetragen. Die angegriffenen Entscheidungen setzen sich erkennbar mit der zu § 765a ZPO einschlägigen Rechtsprechung insbesondere des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts auseinander und gehen zutreffend davon aus, der Schuldner müsse das ihm Zumutbare unternehmen, um die Räumung zu vermeiden. Diese Annahme aber entspricht der zu § 765a ZPO insoweit in Rechtsprechung und Literatur vertretenen herrschenden Auffassung (vgl. nur Stöber, in: Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 765a ZPO Rn. 11 m. umf. w. Nachw.).

Der Beschluss ist entsprechend § 30 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.