LSG der Länder Berlin und Brandenburg, Urteil vom 09.12.2015 - L 16 R 134/13
Fundstelle
openJur 2016, 2173
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 Rentenleistungen iHv 1.918,68 € auszuzahlen hat.

Die Beklagte bewilligte dem 1962 geborenen Kläger, der seit 18. Mai 2009 auf Dauer nicht mehr in der Lage ist, mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, für die Zeit ab 1. Juni 2009 aus medizinischen Gründen Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM) auf Dauer (Bescheid vom 17. Juni 2010; laufender Zahlbetrag ab 1. August 2010 = 137,34 €). Die für den Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 errechnete Rentennachzahlung iHv 1.918,68 € behielt sie vorläufig ein.

Der alleinstehende Kläger erhielt im Streitzeitraum von dem Beigeladenen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in Höhe eines monatlichen Gesamtbetrages von 548,38 € (Juni 2009 bis September 2009), 556,38 € (Oktober 2009 bis Dezember 2009), 617,58 € (Januar 2010), 589,74 € (Februar 2010 bis März 2010) bzw 534,38 € (April 2010 bis Juli 2010); auf die SGB II-Bewilligungsbescheide vom 18. März 2009, 2. September 2009 und 18. Juni 2010 wird wegen der Ansprüche des Klägers im Einzelnen Bezug genommen. MWv 1. August 2010 hob der Beigeladene die Bewilligung von SGB II-Leistungen an den Kläger auf (Bescheid vom 25. Juni 2010).

Der Beigeladene machte mit Schreiben vom 25. Juni 2010 bei der Beklagten Erstattungsansprüche wegen der in der Zeit vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 erbrachten SGB II-Leistungen in einer Gesamthöhe von 1.922,76 € geltend; auf die Aufstellung des Erstattungsanspruchs im Einzelnen wird Bezug genommen. Die Beklagte kehrte den Nachzahlungsbetrag aus der bewilligten EM-Rente iHv 1.918,68 € an den Beigeladenen aus und teilte dem Kläger mit Schreiben vom 16. Juli 2010 mit, dass ein an ihn auszuzahlender Restbetrag nicht verbleibe.

Nachdem der Kläger die Beklagte aufgefordert hatte (vgl Schreiben vom 31. Januar 2011), ihm einen der zu berücksichtigenden Versicherungspauschale iHv 30,- € monatlich entsprechenden Gesamtbetrag aus der Nachzahlung zu zahlen, hat er im sich anschließenden Klageverfahren die Zahlung von 411,- € geltend gemacht (Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 21. Juni 2010 – Bekanntgabe des Rentenbescheides - jeweils 30,- € monatlich bzw 21,- € anteilig für die Zeit vom 1. bis 21. Juni 2010). Diese Leistungsklage hat das Sozialgericht (SG) Berlin abgewiesen (Urteil vom 22. November 2012).

Zur Begründung ist ausgeführt: Der Kläger habe gegen die Beklagte keinen Zahlungsanspruch iHv 411,- €. Dem Beigeladenen stehe ein Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten gemäß § 103 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) iHv 1.918,68 € zu, weil er im streitigen Zeitraum dem Kläger höhere SGB II-Leistungen als die zuerkannten Rentenbeträge iHv monatlich 137,34 € gewährt habe. Eine Versicherungspauschale sei nicht abzuziehen, weil im Streitzeitraum tatsächlich keine Rentenzahlungen zugeflossen seien.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und begehrt nunmehr weitere Rentenzahlungen der Beklagten iH des gesamten Nachzahlungsbetrages von 1.918,68 €. Er trägt vor: Sein Zahlungsanspruch sei nicht durch einen entsprechenden Erstattungsanspruch des Beigeladenen erloschen (Bezugnahme auf Bundessozialgericht – BSG -, Urteile vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R = SozR 4-1300 § 106 Nr 1 und – B 13 R 9/12 R = SozR 4-1300 § 104 Nr 5). Die mWv 1. Januar 2009 rückwirkend in Kraft gesetzte Erstattungsregelung in § 40a SGB II sei aufgrund echter Rückwirkung verfassungswidrig.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. November 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.918,68 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, Anspruchsgrundlage der Erstattungsforderung des Beigeladenen sei hier der mWv 1. Januar 2015 eingeführte § 40a SGB II.

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Die Gerichtsakten, die Rentenakten der Beklagten und die Arbeitslosengeld (Alg) II-Behelfsakten des Beigeladenen (2 Bände) haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet.

Die im Berufungsverfahren vorgenommene Klageänderung, dh die Geltendmachung eines weiteren Zahlungsanspruchs iHv 1.507,68 €, ist zulässig, weil der Kläger ohne Änderung des Klagegrundes lediglich seinen Klageantrag in der Hauptsache erweitert hat (vgl § 99 Abs. 3 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die von dem Kläger erhobene und statthafte allgemeine Leistungsklage (vgl § 54 Abs. 5 SGG) auf Zahlung weiterer, mit bestandskräftigem Bescheid vom 17. Juni 2010 bewilligter Rentenleistungen, hier eines Betrages iHv 1.918,68 € aus der festgestellten EM-Rentennachzahlung für die Zeit vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010, ist nicht begründet. Der entsprechende Auszahlungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten gilt gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt, weil ein entsprechender Erstattungsanspruch des Beigeladenen nach § 40a Satz 2 SGB II besteht.

Der Beigeladene kann indes nicht die spezielle Erstattungsregelung nach § 44a Abs. 2 Satz 1 SGB II in der hier maßgebenden, bis 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (aF) für sich beanspruchen. Hiernach steht den Leistungsträgern des SGB II ein Erstattungsanspruch nach § 103 SGB X zu, wenn dem Hilfebedürftigen eine andere Sozialleistung zuerkannt wird. Dies setzte indes voraus, dass die gemeinsame Einigungsstelle entschieden hatte, dass ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht besteht. Mit der schon zum 1. August 2006 eingeführten Ergänzung der Erstattungsregelung in § 44a Abs. 2 Satz 1 SGB II (Fassung 2006) sollte klargestellt werden, dass in den Fällen, in denen ein anderer als die SGB II-Träger leistungspflichtig ist, dieser den Trägern der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechend § 103 SGB X erstattungspflichtig ist (vgl BT-Drucks 16/1410 S 27). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44a Abs. 2 Satz 1 SGBII aF liegen hier jedoch nicht vor.

Die genannte Vorschrift ordnete an, dass die zuständigen Träger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bis zur Entscheidung der Einigungsstelle iSv § 44a Abs. 1 SGB II aF zu erbringen hatten. Sie ist als Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) aF interpretiert worden und nicht als nur vorläufige Leistungspflicht der SGB II-Träger (vgl BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 19 f - zu § 44a S 3 SGB II <Fassung 2004>). Jedenfalls aber greift sie nur dann, wenn die zuständigen SGB II-Leistungsträger sich nicht für zuständig erachten oder zwischen den Leistungsträgern Uneinigkeit über die Erwerbsfähigkeit besteht (vgl BSG, Urteile vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R = SozR 4-1300 § 106 Nr 1 und – B 13 R 9/12 R = SozR 4-1300 § 104 Nr 5). Eine solche Konstellation lag hier jedoch nicht vor. Der Beigeladene hat selbst seine Pflicht zur Zahlung von Alg II im streitigen Zeitraum nicht in Frage gestellt. Mangels Streits oder eines Dissenses zwischen den Leistungsträgern über die Erwerbsfähigkeit des Klägers war der Anwendungsbereich von § 44a SGB II mithin nicht eröffnet. Der Kläger war zu keinem Zeitpunkt in einer Situation (bildlich gesprochen "zwischen zwei Stühlen", BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 20, in der keiner der Leistungsträger Leistungen erbringen wollte (vgl BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R –).

Ein Erstattungsanspruch des Beigeladenen gegen die Beklagte nach § 102 SGB X kommt nicht in Betracht, weil er die Leistungen nach dem SGB II nicht vorläufig erbracht hat. Denn hierfür bedarf es einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung (vgl BSG aaO).

Dem Beigeladenen steht entgegen der Auffassung des SG gegen die Beklagte auch kein Erstattungsanspruch in direkter Anwendung von § 103 Abs. 1 SGB X zu. Diese Norm setzt ua voraus, dass ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen ist. Ein sozialrechtlicher Leistungsanspruch entfällt iSv § 103 Abs. 1 Halbs. 1 SGB X nur, wenn durch die Erfüllung des (zweiten) Leistungsanspruchs der von einem zuständigen Leistungsträger erbrachte (erste) Leistungsanspruch (durch eine "Wegfallregelung" oder "-bestimmung": vgl BSG SozR 1300 § 103 Nr 5 S 24 f) zum Wegfall kommt (vgl BSG, Urteile vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R – und – B 13 R 9/12 R - mwN aus der Rspr des BSG). Der Anspruch des Klägers auf die Leistungen nach dem SGB II ist aber weder durch die rückwirkende Gewährung noch durch die Auszahlung der vollen EM-Rente nachträglich ganz oder teilweise iSv § 103 Abs 1 SGB X entfallen. Im SGB II existiert keine - § 142 Abs. 1 Satz 1 Nr 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III aF vergleichbare - Regelung, die den Wegfall, das Ende oder das Ruhen der Leistungen nach dem SGB II für den Fall anordnet, dass eine Rente wegen voller EM rückwirkend zeitgleich gewährt wird. Ein "Entfallen" eines Anspruchs auf Sozialleistungen liegt nicht bereits dann vor, wenn sich nachträglich herausstellt, dass ein bei Bewilligung als gegeben angesehener anspruchsbegründender Umstand für die konkret gewährte Leistung (hier: Erwerbsfähigkeit für den Anspruch auf Alg II) in Wirklichkeit nicht vorgelegen hat (vgl BSG aaO). § 103 SGB X regelt nicht den Fall, dass ein Leistungsträger – wie hier der Beigeladene in dem in Rede stehenden Zeitraum – Leistungen objektiv zu Unrecht erbracht hat, weil der Kläger aus medizinischen Gründen seit 18. Mai 2009 auf Dauer voll erwerbsgemindert iSv § 41 Abs. 1 Satz 1 iVm Abs. 3 Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII) war und deshalb mangels Erwerbsfähigkeit iSv 8 Abs. 1 SGB II auch kein Anspruch auf Sozialgeld an Stelle des gezahlten Alg II bestand (vgl § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

Der Beigeladene kann vor diesem Hintergrund gegen die Beklagte aber auch einen Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers nach § 104 SGB X nicht geltend machen. "Nachrangig verpflichtet" ist gemäß § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X ein Leistungsträger nur, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers (hier: des Rentenversicherungsträgers) selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Zwar ist dies im Verhältnis zwischen dem Beigeladenen und der Beklagten in der vorliegenden Konstellation der Fall (vgl §§ 5 bzw 12a SGB II). Auch im Rahmen des § 104 SGB X – Gleiches gilt für § 105 SGB X – müssen die Leistungen des nachrangig verpflichteten bzw unzuständigen Leistungsträgers indes materiell rechtmäßig erbracht worden sein („ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“, vgl BSG, Urteil vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 11/11 R – Rn 38 mwN aus der Rspr des BSG). Dies war jedoch – wie dargelegt – gerade nicht der Fall.

Der Gesetzgeber hatte auch nach der bis 31. Dezember 2014 geltenden Rechtslage Erstattungsansprüche bei Erbringung von Leistungen an nicht Erwerbsfähige durch die - hierfür an sich nicht leistungsverpflichteten - SGB II-Träger geregelt. Er hat, wie bereits oben ausgeführt, im Jahre 2006 den speziellen Erstattungstatbestand in § 44a SGB II geschaffen. Diese ausdrückliche Erstattungsregelung erfasst indes erkennbar nur einen engen Teilbereich der Fälle, in denen SGB II-Leistungen rechtsgrundlos an nicht Erwerbsfähige gezahlt werden. Eine erweiternde Rechtsfortbildung auf jene Fälle, in denen die SGB II-Träger fälschlicherweise von der Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers ausgehen, kommt nicht in Betracht (vgl ausdrücklich BSG aaO Rn 40).

Mit In-Kraft-Treten des § 40a SGB II hat der Gesetzgeber aber nunmehr mWv 1. Januar 2009 (vgl Art. 2 Abs. 2 des Achten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen vom 28. Juli 2014 – BGBl I S 1306) eine neue selbständige Erstattungsregelung in § 40a SGB II geschaffen. Deren tatbestandliche Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Nach § 40a SGB II steht dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter den Voraussetzungen des § 104 SGB X ein Erstattungsanspruch gegen den anderen Sozialleistungsträger zu, wenn einer leistungsberechtigten Person für denselben Zeitraum, für den der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Leistungen erbracht hat, eine andere Sozialleistung bewilligt wird (Satz 1). Der Erstattungsanspruch besteht auch, soweit die Erbringung des Alg II allein auf Grund einer nachträglich festgestellten vollen Erwerbsminderung rechtswidrig war (Satz 2).

Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber auf die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31. Oktober 2012 (- B 13 R 9/12 R und B 13 R 11/11 R -) reagiert, die nach Auffassung des Gesetzgebers in Bezug auf die Entstehung von Erstattungsansprüchen der Jobcenter gegenüber den Trägern der Rentenversicherung insbesondere bei rückwirkender Gewährung einer vollen EM-Rente zu Unsicherheiten in der Rechtsanwendung geführt haben (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen, BT-Drucks 18/1311). Der Gesetzgeber hat sich mit der Neuregelung von der Zielvorstellung leiten lassen, dass eine „doppelte Leistungserbringung“ zu vermeiden sei. Der Leistungsempfänger solle mithin nicht dadurch im Ergebnis besser gestellt werden, dass ihm die Rentenleistungen erst im Nachhinein rückwirkend zugesprochen werden (vgl BT-Drucks 18/1311 S 11 zu Nummer 2).

Die Voraussetzungen des § 40a SGB II sind hier – bezogen auf die SGB II-Leistungen an den Kläger in der Zeit vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 - erfüllt. Durch die – nachträglich – festgestellte volle EM auf Dauer steht fest, dass der Beigeladene die SGB II-Leistungen an den Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum zu Unrecht erbracht hatte. Für den Zeitraum vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 wurde dem Kläger von der Beklagten auch eine andere Sozialleistung, nämlich Rente wegen voller EM, bewilligt. Insoweit kommt es auf die weiteren Voraussetzungen des § 104 SGB X nach der Regelung in § 40a Satz 2 SGB II nicht an. Mit der letztgenannten Regelung sollte ein Erstattungsanspruch des SGB II-Trägers „neu begründet“ werden (vgl BT-Drucks 18/1311 S 11 zu Nummer 2). Der Erstattungsanspruch nach § 40a Satz 2 SGB II ist auch nicht nach § 79 Abs. 1 SGB II entfallen. Nach dieser Vorschrift entfällt der Erstattungsanspruch, wenn ein nach § 40a zur Erstattung verpflichteter Sozialleistungsträger in der Zeit vom 31. Oktober 2012 bis zum 5. Juni 2014 in Unkenntnis des Bestehens der Erstattungspflicht bereits an die leistungsberechtigte Person geleistet hat; dies betrifft Fälle, in denen Sozialleistungsträger ab der Entscheidung des BSG vom 31. Oktober 2012 davon ausgegangen waren, dass keine Erstattungsansprüche mehr bestehen, und einbehaltene Leistungsbeträge daher ausgezahlt haben. Der hier streitige Leistungszeitraum ist hiervon indes nicht betroffen. Die Höhe des Erstattungsanspruchs ist ausgehend von den dem Kläger in der Zeit vom 1. Juni 2009 bis 31. Juli 2010 (Juni 2009 = 133,26 €; Juli 2009 bis Juli 2010 = monatlich 137,34 €) bewilligten Rentenleistungen iH eines Gesamtbetrages von 1.918,68 € nicht zu beanstanden.

Der Senat konnte sich trotz entsprechender Bedenken nicht davon überzeugen, dass die Erstattungsnorm des § 40a Satz 2 SGB II verfassungswidrig ist. Insbesondere hat der Gesetzgeber ihr trotz des rückwirkenden In-Kraft-Tretens zum 1. Januar 2009 keine unzulässige echte Rückwirkung beigemessen, weil letztlich davon auszugehen ist, dass damit – für den hier betroffenen Zeitraum bis zu den BSG-Urteilen vom 31. Oktober 2012 – nur eine unklare Rechtslage bereinigt wurde.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar sind (vgl BVerfGE 45, 142, 167 f; 101, 239, 262; 132, 302, 318; jeweils mwN), und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich zulässig sind (vgl BVerfGE 132, 302, 318 mwN). Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (vgl BVerfGE 11, 139, 145 f; 30, 367, 386; 101, 239, 263; 123, 186, 257; 132, 302, 318). Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung - wie vorliegend der Fall - schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll ("Rückbewirkung von Rechtsfolgen"; vgl. BVerfGE 127, 1, 16 f.). Das grundsätzliche Verbot echt rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (vgl BVerfGE 45, 142, 167 f; 132, 302, 317). Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes (GG) geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl BVerfGE 101, 239, 262; 132, 302, 317). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des GG (vgl BVerfGE 45, 142, 167 f; 63, 343, 356 .; 72, 200, 242; 97, 67, 78 f; 132, 302, 317). Die Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde die Betroffenen in ihrer Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an ihr Verhalten oder an sie betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen knüpfen als sie zum Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl BVerfGE 30, 272, 285; 63, 343, 357; 72, 200, 257 f; 97, 67, 78; 105, 17, 37; 114, 258, 300 f; 127, 1, 16; 132, 302, 317). Ausgehend hiervon sind Gesetze mit echter Rückwirkung grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar (vgl BVerfGE 45, 142, 167; 101, 239, 262; 132, 302, 318; st.Rspr.). Etwas anderes kann ausnahmsweise gelten, wenn im Hinblick auf eine rückwirkend klargestellte unklare Rechtslage auch bei abgeschlossenen Sachverhalten kein entsprechender Vertrauenstatbestand entstehen konnte und kein Eingriff in in der Vergangenheit erworbene Rechtspositionen erfolgt (vgl zur Zulässigkeit einer echten Rückwirkung bei unklarer Rechtslage Grzeszick in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art 20 Rn 86 mwN)

Ob nach diesen Grundsätzen ein Fall echter Rückwirkung schon deshalb nicht vorliegt, weil kein gesetzgeberischer Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt erfolgte, kann im Ergebnis dahinstehen. Zwar wird durch die gesetzliche Neuregelung in § 40a SGB II weder das – unabhängig von der entsprechenden Antragstellung bereits mit Eintritt des Versicherungsfalls entstandene – Stammrecht des Klägers auf EM-Rente tangiert noch die daraus resultierenden monatlichen Einzelzahlungsansprüche, so dass auch ein rückwirkender Eingriff in diese Rechtspositionen nicht erfolgt. Durch die rückwirkend geltende Neuregelung in § 40a Satz 2 SGB II und den für die vorliegende Fallkonstellation damit erstmals „neu“ (vgl BT-Drucks aaO) begründeten Erstattungsanspruch des Beigeladenen gelten indes die monatlichen Einzelzahlungsansprüche in dem in Rede stehenden Zeitraum gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt, so dass der Kläger – anders als vor dem In-Kraft-Treten der Gesetzesänderung – keine Zahlung (mehr) verlangen kann. Auch der damit rückwirkend erfolgte Eingriff in den bis dahin bestehenden Erfüllungsanspruch ist indes verfassungsrechtlich noch hinzunehmen, weil das Vertrauen des Klägers, der den Nachzahlungsbetrag zu keiner Zeit ausgezahlt bekommen hat, sich als nicht schutzwürdig erweist. Für den Personenkreis, dem ausgehend von der BSG-Rechtsprechung entsprechende Leistungsbeträge ausgezahlt wurden und zu dem der Kläger nicht zählt, hat der Gesetzgeber die – vertrauensschützende – Regelung in § 79 Abs. 1 SGB II geschaffen. Bis zu den Entscheidungen des BSG vom 31. Oktober 2012 wurde die Rechtsauffassung, dass keinerlei Erstattungsanspruch bestehe und daher der betroffene Personenkreis sowohl das bezogene Alg II behalten als auch Zahlung der für dieselben Leistungszeiträume bewilligten EM-Rente verlangen dürfe, ersichtlich nirgends vertreten. Der Kläger selbst ist im Übrigen noch bei Einlegung seiner Berufung davon ausgegangen, dass ihm ein Anspruch auf „Doppelleistung“ letztlich nicht zustehe; denn er begehrte gegenüber der Beklagten zunächst ausschließlich die Berücksichtigung einer Versicherungspauschale als Abzugsbetrag iHv 30,- € monatlich von dem ermittelten Nachzahlungsbetrag. Damit wird auch durch die Neuregelung in § 40a Satz 2 SGB II im Ergebnis nur eine unklare Rechtslage bereinigt (vgl Pattar in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 40a Rn 12,13).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.