OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.12.2001 - 12 E 159/00
Fundstelle
openJur 2011, 14905
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 5 K 6217/96
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Verfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt G. aus K. beigeordnet.

Das Verfahren ist gerichtskostenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

Dem Kläger ist unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts die begehrte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G. zu bewilligen. Der Kläger erfüllt auch im jetzigen Zeitpunkt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Die im Klageverfahren beabsichtigte Rechtsverfolgung hatte hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 GG und an Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist. Die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsschutzbegehrens darf dabei nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Schwierige, bislang nicht hinreichend geklärte Rechts- und Tatsachenfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden,

vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 10. August 2001 - 2 BvR 569/01 -, vom 30. Oktober 1991 - 1 BvR 1386/91 -, NJW 1993 S. 889 und vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 u.a. -, NJW 1998 S. 413.

Nach diesem Maßstab war eine hinreichende Aussicht auf Erfolg hier zu bejahen, weil das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs des Klägers nicht von vornherein verneint werden konnte. Es sprach viel, wenn nicht alles dafür, den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 30. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 1996 im Klageverfahren zu verpflichten, für den Zeitraum vom 20. Januar 1995 bis zum 31. Mai 1996 den vom Kläger begehrten Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 des Bundessozialhilfegesetzes in der für den streitbefangenen Zeitraum maßgeblichen Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646 – BSHG a.F.) zu gewähren.

Nach dieser Vorschrift ist ein Mehrbedarf von 20 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen für Personen unter 65 Jahren, die erwerbsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sind, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Der Kläger dürfte die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Mehrbedarfs erfüllt haben. Er war unter 65 Jahre alt und erwerbsunfähig, ohne dass ein abweichender Bedarf vorgetragen bzw. sonst ersichtlich gewesen wäre.

Nach Lage der in den Verwaltungsvorgängen des Beklagten enthaltenen sowie der im Klageverfahren überreichten weiteren Unterlagen konnte ein vernünftiger Zweifel an der Erwerbsunfähigkeit des Klägers im streitbefangenen Zeitraum nicht aufkommen. Das gilt um so mehr, als der Beklagte selbst, dessen Bedienstete sowohl über das juristische wie das medizinische Fachwissen verfügen, ebenfalls von der Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausging.

Der Anspruch des Klägers auf die Gewährung des Mehrbedarfszuschlags nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG a.F. wäre nicht durch die Regelung in § 67 Abs. 5 Satz 2 BSHG a.F. ausgeschlossen gewesen. Danach ist der Mehrbedarf nach § 23 BSHG a.F. bei einem Erwerbsunfähigen, der blind ist, nur dann anzuerkennen, wenn er nicht allein wegen Blindheit erwerbsunfähig ist. § 67 Abs. 5 Satz 2 BSHG a.F. findet auch dann Anwendung, wenn der Hilfe Suchende zwar nicht blind ist, bei ihm jedoch eine dem Schweregrad der Sehschärfe auf dem besseren Auge von nicht mehr als 1/50 gleich zu achtende, nicht nur vorübergehende Störung des Sehvermögens vorliegt (§ 67 Abs. 7 BSHG a.F. in Verbindung mit § 76 Abs. 2a Nr. 3a BSHG a.F.) und er deshalb als blind gilt.

Der Kläger, der im streitbefangenen Zeitraum unstreitig noch nicht blind war, galt auch noch nicht als blind. Die dafür erforderliche Störung des Sehvermögens liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft,

abgedruckt in „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996, S. 44 f.,

auf die das Gericht als antizipierte Sachverständigenäußerung zurückgreifen darf, bei einer Einengung des Gesichtsfeldes auf 15 Grad dann vor, wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,05 beträgt. Ausweislich der augenfachärztlichen Bescheinigung des Arztes für Augenheilkunde Dr. H. vom 22. Mai 1995, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlass besteht, hatte der auf dem rechten Auge blinde Kläger bei einer Einengung des Gesichtsfeldes auf 15 Grad noch eine Sehschärfe von 0,3. Der Kläger erlangte auch nicht etwa im weiteren Verlauf des streitbefangenen Zeitraums den Status, als blind zu gelten. Da sein Sehvermögen Ende Februar 1997 "gerade erst" zuließ, ihn als blind gelten zu lassen, muss für den streitbefangenen Zeitraum noch von einem höheren Sehvermögen ausgegangen werden. Ausweislich einer weiteren augenfachärztlichen Bescheinigung des Arztes für Augenheilkunde Dr. H. vom 24. Februar 1997 war bei einer Sehschärfe von 0,2 das Gesichtsfeld des Klägers zu diesem Zeitpunkt konzentrisch auf zwischen 5 und 8 Grad eingeschränkt. Nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft liegt eine der Blindheit gleich zu achtende Sehstörung vor, wenn bei einer Sehschärfe von 0,1 oder weniger die Grenze des Gesichtsfeldes in keiner Richtung mehr als 7,5 Grad vom Zentrum entfernt ist bzw. wenn bei normaler Sehschärfe die Grenze der Gesichtsfeldinsel in keiner Richtung mehr als 5 Grad vom Zentrum entfernt ist, wobei Gesichtsfeldreste jenseits von 50 Grad unberücksichtigt bleiben.

Eine analoge Anwendung des § 67 Abs. 5 BSHG a.F. auf den nach alledem hier vorliegenden Fall einer hochgradigen Sehschwäche, bei der der Betroffene nicht schon als blind gilt, kommt nicht in Betracht. Die Regelung des § 67 Abs. 5 BSHG a.F. zielt darauf ab, eine Mehrfachbegünstigung durch doppelte Leistungen für ein- und dieselbe Behinderung, die ggfls. sogar zu einer Bedarfsüberschreitung führen könnte, auszuschließen. Hierzu besteht Anlass, weil die Höhe des Blindengelds seit jeher diejenige des Mehrbedarfs nach § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG um ein Mehrfaches übersteigt. Diese Ausgangskonstellation unterscheidet sich deutlich von derjenigen für die Landeshilfe für hochgradig Sehschwache. Die Höhe dieser Hilfe, die im streitbefangenen Zeitraum bzw. zum Zeitpunkt des erstmaligen Inkrafttretens von § 67 BSHG zudem lediglich durch Runderlass des zuständigen Landesministers als freiwillige Leistung gewährt wurde, übersteigt die Höhe des Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit nicht wesentlich. Das Bedürfnis für eine Kollisionsregel zu verneinen, erscheint auch deshalb plausibel, weil Erwerbsunfähigkeit allein aufgrund hochgradiger Sehschwäche im Unterschied zur Erwerbsunfähigkeit allein aufgrund Blindheit kaum vorstellbar ist.

Die dem Kläger zugeflossene Landeshilfe für hochgradig Sehschwache dürfte auch nicht als Einkommen bei der ihm unter Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt zu berücksichtigen sein.

Nach § 77 Abs. 1 BSHG a.F. sind Leistungen, die auf Grund öffentlichrechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt werden, nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Sozialhilfe im Einzelfall dem selben Zweck dient. Es spricht Überwiegendes dagegen, dass die Landeshilfe für hochgradig Sehschwache und der Mehrbedarf für Erwerbsunfähige im Fall des Klägers dem selben Zweck im Sinne des § 77 Abs. 1 BSHG a.F. dienten.

Zur Verneinung der Zweckidentität lässt sich allerdings nicht ins Feld führen, der Gesetzgeber habe mit dem Mehrbedarf für Erwerbsunfähige keinen echten Mehrbedarf ausgleichen, sondern lediglich einen Ausgleich dafür schaffen wollen, dass der Erwerbsunfähige – im Gegensatz zum arbeitsfähigen Hilfe Suchenden – auch unter Einsatz besonderer Tatkraft nicht im Stande ist, durch eigene Arbeit noch etwas hinzu zu verdienen und sich dadurch ein über den notwendigen Bedarf hinausgehendes –in bestimmtem Umfang anrechnungsfreies – Einkommen zu verschaffen.

So aber Hessischer VGH, Urteil vom 18. Mai 1972 – VII OE 36/71 –, FEVS 21 (1973) S. 296 ff. (303 f.); missverständlich insoweit auch die Beschlüsse des 14. Ausschusses zu dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts (BT-Drs. 13/3904), wonach bei erwerbsunfähigen Personen im Sinne einer treffsicheren Gewährung von sozialen Leistungen „künftig" darauf abgestellt werden müsse, ob die Gründe der Erwerbsunfähigkeit auch zu persönlichen Beeinträchtigungen geführt hätten.

Der Senat sieht den Zweck des Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit vielmehr darin, einen bei erwerbsunfähigen Hilfe Suchenden bestehenden zusätzlichen Bedarf, also einen „echten" Mehrbedarf zu decken.

So auch die Erläuterungen von Petersen, Kleinere Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 55, Inhalt und Bemessung des gesetzlichen Mehrbedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz, 1976, S. 44 f.; Arbeitsausschuss der Sozialdezernenten Westfalen- Lippe, Empfehlungen zum Sozialhilferecht, Stand März 2001, Anm. 2.3 und 2.4 zu § 23; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl. 1997, § 23 Rndr. 8, Fichtner, BSHG, 1999, § 23 Rdnr. 2; vgl. auch Mergler/Zink, BSHG, Stand März 2001, § 23 Rdnr. 19 unter Hinweis auf die angeführte Entscheidung des Hessischen VGH, jedoch mit dem Einleitungssatz, dass „nicht lediglich" Mehrausgaben ausgeglichen werden sollen.

Bereits der Wortlaut deutet in die Richtung, auch bei Erwerbsunfähigkeit einen echten Bedarf anzunehmen, weil es darauf ankommt, ob nicht „im Einzelfall ein abweichender Bedarf" besteht.

Auch die Systematik des Gesetzes lässt sich dafür anführen, als Zweck den Ausgleich für Mehraufwendungen wegen Erwerbsunfähigkeit anzunehmen. Anderenfalls fügte sich die Regelung des § 67 Abs. 5 BSHG nicht ein. Sie erwiese sich bei Annahme, der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit bezwecke allein die Gewährung eines – infolge Erwerbsunfähigkeit nicht erzielbaren – Hinzuverdienstes, als mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Es ist kein vernünftiger Grund erkennbar, den nur blinden erwerbsunfähigen Sozialhilfeempfänger, bei dem Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 67 Abs. 5 BSHG nicht anzuerkennen ist, damit von einem Surrogat für einen Hinzuverdienst auszuschließen. Verfassungskonform ist diese Vorschrift nur unter der Annahme, dass der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit dem Ausgleich echter Mehraufwendungen dient, weil in diesem Fall der "nur" blinde Erwerbsunfähige den Ausgleich bereits durch das Blindengeld hat, die Gewährung des Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit mithin zur Vermeidung einer Doppelbegünstigung ausgeschlossen wird.

Damit diente der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit wie auch die Landeshilfe für hochgradig Sehschwache nach Nr. 1.1 des Runderlasses des Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 17. September 1980 (MinBl NRW S. 244), geändert durch den Runderlass vom 1. Juni 1994 (MinBl NRW S. 702) dem Ausgleich für Mehraufwendungen. Auch können einzelne Mehraufwendungen in gleichsam „den selben" Kategorien entstehen: Z.B. hat der wegen Krankheit und/oder Behinderung Erwerbsunfähige wie der hochgradig Sehschwache Mehraufwand durch Aufmerksamkeiten bei gelegentlichen Hilfeleistungen durch Dritte (Nachbarn oder andere Bekannte). Im Kontext des § 77 Abs. 1 BSHG kommt es indes maßgeblich darauf an, worauf der Mehrbedarf konkret beruht, ob er nur durch die Blindheit bedingt ist oder andere Auslöser vorhanden sind. Die Zubilligung eines Mehrbedarfs wegen hochgradiger Sehschwäche bedeutet jedenfalls dann keine mehrfache Leistung für denselben Bedarf, wenn der Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließlich auf der Sehschwäche beruht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar 1957 – V C 179.55 –, auszugsweise veröffentlicht in Hengstebeck, Blindenrecht – Blindenhilfe, 1959, S. 209 (210).

Dem entsprechend ist nicht entscheidend, ob der Kläger bei Hinwegdenken seiner hochgradigen Sehschwäche gleichwohl erwerbsunfähig gewesen wäre, sondern allein, ob er weitere Krankheiten bzw. Behinderungen hatte, die geeignet waren, einen Mehrbedarf auszulösen. Dies kann schon angesichts der weiteren in den auch im streitbefangenen Zeitraum ergangenen Bescheiden des Versorgungsamtes K. ausgewiesenen Erkrankungen des Klägers (nämlich Fehlhaltung der Wirbelsäule, Knickfuß links, rez. Bronchitis) nicht mit der zur Verneinung hinreichender Erfolgsaussichten bei der Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Es spricht vielmehr alles dafür, dass sich dies unter Berücksichtigung der weiteren, insbesondere auch in den Verwaltungsvorgängen des Versorgungsamtes enthaltenen ärztlichen Bescheinigungen, im Klageverfahren als zutreffend herausgestellt hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 188 Satz 2 VwGO, 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.