OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2001 - 10 B 733/01
Fundstelle
openJur 2011, 14728
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 5 L 536/01
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die au??ergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 10.000,- DM festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 9. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Arnsberg vom 5. Dezember 2000 im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die im Verfahren nach § 80a, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem Interesse des beigeladenen Bauherrn an einer unverzüglichen Ausnutzung der ihm erteilten Baugenehmigung und dem Interesse des Antragstellers, die Ausführung des Bauvorhabens vor einer abschließenden Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Baugenehmigung zu verhindern, geht zu Lasten des Beigeladenen aus.

Für das Ergebnis der Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels in der Hauptsache dann maßgeblich, wenn sie nach der hier allein gebotenen summarischen Prüfung zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können.

Eine summarische Prüfung führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Baugenehmigung im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben wird.

Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung dürfte gegen öffentlichrechtliche Vorschriften verstoßen, die dem Schutz des Antragstellers als Nachbarn zu dienen bestimmt sind.

Die Richtigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts, das den Gegenstand der Baugenehmigung bildende Vorhaben nehme das Schmalseitenprivileg des § 6 Abs. 6 BauO NRW für insgesamt drei Außenwände in Anspruch und sei damit materiell illegal, wird durch das Beschwerdevorbringen im Ergebnis nicht in Frage gestellt.

Nach § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW genügt vor zwei Außenwänden eines Gebäudes auf einer Länge von nicht mehr als 16 m als Tiefe der Abstandfläche die Hälfte der nach Abs. 5 Satz 1 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m. § 6 Abs. 6 Satz 3 BauO NRW bestimmt ferner, dass eine in sich gegliederte Wand als Außenwand im Sinne des Satzes 1 gilt. Da das genehmigte Gebäude für einen Teil der nördlichen Außenwand bereits das Schmalseitenprivileg in Anspruch nimmt (vgl. Abstandfläche T 4), kann dieses nur noch für eine weitere Außenwand zur Anwendung kommen. Entscheidend für die Frage der Rechtmäßigkeit des Vorhabens in abstandflächenrechtlicher Hinsicht ist also, ob die südlichen Wandabschnitte des Hauptgebäudes, die parallel zur Grenze des Antragstellergrundstücks verlaufen und die die Abstandflächen T 10 und T 11 auslösen, eine zwar gegliederte, aber dennoch einheitliche Außenwand darstellen oder ob es sich um zwei selbstständige Außenwände handelt. Das Letztere ist der Fall.

Ob ein Wandbereich einer einheitlichen, lediglich durch Vor- und Rücksprünge gegliederten Wand zuzurechnen oder Bestandteil einer sonstigen, eigenständigen Wand ist, entscheidet sich nach einer natürlichen Betrachtungsweise.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Dezember 1998 - 10 B 2308/98 -, vom 28. Juni 1999 - 7 B 909/99 - , vom 23. November 1999 - 10 B 1504/99 -, vom 27. März 2000 - 7 B 439/00 - und vom 15. August 2001 - 10 B 609/01 -.

Kriterien hierfür können beispielsweise das Maß des horizontalen oder vertikalen Versatzes der Wandflächen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten im äußeren Erscheinungsbild und auch ihre gemeinsamen oder unterschiedlichen Funktionalitäten in Bezug auf das gesamte Bauwerk sein.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. März 2000 - 7 B 439/00 -.

In Anwendung dieser Kriterien erscheinen die hier zu beurteilenden Wandabschnitte als zwei selbstständige Gebäudewände.

Ausweislich der mit einem Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen (Grundriss EG) weisen die beiden Wandabschnitte zwar über ihre gesamte Länge (ca. 10 m) denselben horizontalen Verlauf auf. Sie sind aber in der Höhe gestaffelt, und zwar sowohl im oberen als auch im unteren Bereich. Der eine Wandabschnitt überragt den anderen um 1,64 m, gemessen an den jeweiligen Schnittpunkten Wand/Dachhaut (Die Differenz der - in den Bauvorlagen nicht angegebenen - Firsthöhen dürfte in etwa gleich hoch sein). Im unteren Bereich beträgt der Höhenversatz 1,89 m. Auch wenn das vorhandene Gelände von West nach Ost abfällt (auf die Gesamtlänge der beiden Wandabschnitte gerechnet etwa 0,6 m), lässt sich der Höhenversatz nur durch ein besonderes architektonisches Gestaltungsprinzip, das die Unterschiedlichkeit der beiden Wandabschnitte betont, erklären. Zu dem Eindruck gewollter unterschiedlicher Gestaltung trägt ferner bei, dass die beiden Gebäudeabschnitte jeweils über ein eigenes Dach verfügen und dass die Dachgestaltungen unterschiedlich sind. Während der höhere Gebäudeabschnitt ein Satteldach mit einem Neigungswinkel von 10 Grad besitzt, weist der niedrigere Gebäudeabschnitt ein Pultdach mit einem Neigungswinkel von 7 Grad auf. Insoweit entspricht letzterer in Dachform und -neigung dem äußersten westlichen, um 3 m zurückversetzten Gebäudeteil, dessen südliche Außenwand fraglos eine selbstständige Wand darstellt. Bei natürlicher Betrachtung wird dadurch der Eindruck hervorgerufen, dass der mittlere Gebäudeteil auf Grund seiner Höhe und Dachform dominiert und die beiden äußeren Wandabschnitte infolge horizontalen bzw. vertikalen Versatzes sowie auf Grund geringerer Dachneigung in ihrer Bedeutung zurücktreten (sollen).

Dieses Ergebnis wird nicht durch eine Betrachtung der funktionalen Gegebenheiten in Frage gestellt. Zwar ist ausweislich des bei den Bauvorlagen befindlichen Grundrisses für das Kellergeschoss hinter den beiden Wandabschnitten, ohne dass diese innen als gesonderte Abschnitte wahrnehmbar wären, ein durchgehender Raum (Teil eines Appartements) genehmigt; der Grundriss für das Erdgeschoss (gesonderte Wohnung) lässt indessen erkennen, dass hinter den besagten Wandabschnitten zum einen ein Wohn-, Essraum, zum anderen ein Arbeitszimmer geplant und dass beide Räume, wie sich aus den Schnitten ergibt, höhenversetzt (um zwei Stufen) angeordnet sind. Der äußere Höhenversatz findet daher innen - wenn auch vermindert - zumindest im Erdgeschoss seine Entsprechung. Die nach der Baubeschreibung vorgesehene einheitliche Verklinkerung der beiden Wandabschnitte ist bei wertender Betrachtung gleichfalls nicht geeignet, den auf Grund des Höhenversatzes der Wandabschnitte und der unterschiedlichen Dachgestaltungen sich ergebenden Eindruck zweier selbstständiger Wände in Zweifel zu ziehen.

Sind die beiden Wandabschnitte der südlichen Außenwand nach den vorstehenden Ausführungen nicht als in sich gegliederte Wand und damit als eine Außenwand im Sinne des § 6 Abs. 6 Satz 3 BauO NRW anzusehen, ist das Schmalseitenprivileg des § 6 Abs. 6 Satz 1 BauO NRW nur auf einen der beiden Wandabschnitte anwendbar. Wird die Privilegierung für den westlichen der beiden Wandabschnitte in Anspruch genommen, wird die erforderliche Tiefe der Abstandfläche von dem anderen, östlichen Wandabschnitt nicht eingehalten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass unterer Bezugspunkt für die Abstandflächenberechnung nicht die vorhandene, sondern die genehmigte Geländeoberfläche ist, dass es aber der ergänzenden Prüfung bedarf, ob die Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 BauO NRW, der nachbarschützende Wirkung hat, für eine Genehmigung der neuen Geländehöhe durch Vornahme einer Anschüttung oder Abgrabung vorliegen.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 29. September 1995 - 11 B 1258/95 - NVwZ-RR 1996, 311 = BauR 1996, 230; Boeddinghaus/Hahn/Schulte, BauO NRW, Loseblattkommentar, Stand: April 2001, § 6 Rn. 122.

Für den östlichen Gebäudeabschnitt errechnet sich die Tiefe der Abstandfläche damit wie folgt: 131,25 m (Höhe des Schnittpunkts Wand/Dachhaut) - 126,10 m (Höhe der Schnittlinie Wand/ genehmigte neue Geländeoberfläche) = 5,15 m; 5,15 m x 0,8 = 4,12 m. Nach den Angaben im amtlichen Lageplan beträgt der Abstand der östlichen Gebäudekante von der Grenze zum Grundstück des Antragstellers aber nur 3,89 m.

Wird das Schmalseitenprivileg auf den östlichen Wandabschnitt angewendet, ergibt sich für den westlichen Wandteil folgende Berechnung: 132,89 m (Höhe des Schnittpunkts Wand/Dachhaut) - 127,99 m (Höhe der Schnittlinie Wand/ genehmigte neue Geländeoberfläche) = 4,90 m; 4,90 m x 0,8 = 3,92 m. Der Abstand von der gemeinsamen Grundstücksgrenze ist in dem amtlichen Lageplan für die westliche Gebäudekante mit 3,95 m ausgewiesen. Für die östliche Begrenzung dieses Wandabschnitts ist eine Entfernung von der Grundstücksgrenze nicht angegeben. Wegen des leicht schrägen Verlaufs der Wand im Verhältnis zur Grundstücksgrenze dürfte die erforderliche Tiefe der Abstandfläche im östlichen Bereich des Wandabschnitts geringfügig nicht eingehalten sein. Dies kann aber dahinstehen. Denn eine Baugenehmigung ist bereits dann rechtswidrig, wenn die genehmigten Bauvorlagen hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Merkmale unbestimmt bzw. unvollständig sind und infolge dessen bei der Ausführung des Bauvorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 13. Mai 1994 - 10 A 1025/90 -, BRS 56 Nr. 139, Beschlüsse vom 29. September 1995 - 11 B 1258/95 -, vom 22. Juli 1996 - 7 B 1148/96 - , vom 30. Dezember 1999 - 10 B 1342/99 - und vom 15. August 2001 - 10 B 609/01 -.

Sollten die Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 BauO NRW nicht zu bejahen sein, d.h. sollte die vorhandene und nicht die genehmigte neue Geländeoberfläche für die Abstandflächenberechnung maßgebend sein, würde sich für den Wandabschnitt, der das Schmalseitenprivileg nicht in Anspruch nimmt, ein noch größerer Abstandflächenverstoß ergeben.

Angesichts der obigen Ausführungen kann dahinstehen, ob das streitige Vorhaben auch unter planungsrechtlichen Gesichtspunkten Nachbarrechte des Antragstellers verletzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG. Es entsprach der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.