Bayerisches LSG, Beschluss vom 29.10.2015 - L 15 SB 14/15 B
Fundstelle
openJur 2015, 18900
  • Rkr:

Es ist nicht Aufgabe eines gerichtlichen Sachverständigen, allgemeine theoretische wissenschaftliche Grundlagen oder gar einen wissenschaftlichen Positionenstreit darzulegen, soweit dies für den konkreten Rechtsstreit unmaßgeblich ist. Erschöpft sichdie Bedeutung eines gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachtens hierin, kann eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung nicht angenommen werden; eine Übernahme der Gutachtenskosten auf die Staatskasse kommt dann nicht in Betracht.

Tenor

I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 23.07.2013 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten der Beschwerdeführerin für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten war in der Hauptsache streitig, ob für die Beschwerdeführerin ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 festzusetzen ist.

In dem am Sozialgericht Augsburg (SG) unter dem Az. S 8 SB 185/11 anhängig gewesenen Rechtsstreit der Beschwerdeführerin gegen den Freistaat Bayern hat am 11.09.2011 der Neurologe und Psychiater Dr. M. ein Sachverständigengutachten nach persönlicher Untersuchung der Beschwerdeführerin erstellt. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Gesamt-GdB von 30 vorliege. Dr. M. hat u.a. festgestellt, es sei durchaus legitim, eine primär umweltmedizinische Erkrankung anzunehmen; parallel hierzu sei eine Depression mäßigen bis teilweise mittleren Ausmaßes gegeben. Die Auswirkungen dieser Erkrankungen seien jedoch eng verknüpft, so dass eine getrennte Bewertung wie auch eine additive Auswirkung auf den Gesamt-GdB nicht möglich seien. Auf Antrag der Beschwerdeführerin hat am 19.12.2012 der Facharzt für Allgemeinmedizin (Naturheilverfahren - Umweltmedizin etc.) und Diplombiologe Dr. F. ein Sachverständigengutachten gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellt. Darin hat er zahlreiche Gesundheitsstörungen - vor allem aus dem umweltmedizinischen und psychiatrischen Gebiet - festgestellt und Einzel-GdB vergeben. Der Gesamt-GdB, so Dr. F., sei auf mindestens 70 zu schätzen.

Mit Urteil vom 23.07.2013 hat das SG die Klage abgewiesen und festgestellt, dass der GdB der Beschwerdeführerin mit 30 angemessen eingestuft sei. Die von Dr. F. in seinem Gutachter angegebenen Diagnosen seien entweder nicht nachvollziehbar, da es keine entsprechenden Befundunterlagen gebe, oder ohne Bezug zu tatsächlich festgestellten funktionellen Einschränkungen.

Mit Beschluss vom selben Tag hat das SG die Übernahme der Kosten für das Gutachten von Dr. F. auf die Staatskasse abgelehnt. Zur Begründung hat es dargelegt, dass das Gutachten die Sachaufklärung nicht wesentlich gefördert habe. Es sei für die Entscheidungsfindung nicht verwertbar gewesen, weil die darin aufgeführten GdB-Bewertungen anhand der erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar gewesen seien.

Am 05.08.2013 hat die Beschwerdeführerin hiergegen mit der Begründung Beschwerde erhoben (Az.: L 15 SB 158/13 B), dass weder dem angefochtenen Beschluss noch dem Urteil des SG eine überzeugende Begründung dafür zu entnehmen sei, weshalb die gutachterlichen Feststellungen von Dr. F. in dessen Gutachten nicht nachvollziehbar seien. Diese Hinweise entbehrten jeder Grundlage, was ein Blick ins Gutachten bestätige, in dem zahlreiche Befunde genauestens von dem Sachverständigen dokumentiert und jeweils sehr wohl in einen Zusammenhang zu den Gesundheitsstörungen gestellt worden seien.

Im sich anschließenden Berufungsverfahren (Az.: L 15 SB 164/13) hat der Senat den Neurologen und Psychiater Dr. H. auf Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 109 SGG mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten und einer ergänzenden Stellungnahme zu dem Ergebnis eines Gesamt-GdB von 50 gelangt. Der Rechtsstreit ist sodann im Vergleichsweg beendet worden (Anerkennung eines GdB von 50 ab 14.05.2014). Mit gerichtlichem Beschluss vom 01.06.2015 sind die Kosten für das von Dr. H. erstellte Gutachten auf die Staatskasse übernommen worden.

Im Hinblick auf das anhängige Berufungsverfahren ist am 22.10.2013 das Ruhen des Beschwerdeverfahrens angeordnet worden. Nach Fortsetzung des Verfahrens (Az.: L 15 SB 14/15 B) ist der Beschwerdeführerin nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden; sie hat sich nicht mehr geäußert.

II.

Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht begründet.

Die vom SG ausgesprochene Ablehnung der Übernahme der Kosten für das Gutachten von Dr. F. auf die Staatskasse ist rechtmäßig. Die Kosten sind nicht auf die Staatskasse zu übernehmen.

Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag des behinderten Menschen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann - wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist - davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten dafür vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts auch endgültig trägt (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine "andere Entscheidung" in diesem Sinn hat die Beschwerdeführerin beim SG beantragt.

Die Entscheidung darüber, ob die Kosten eines gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse zu übernehmen sind, ist eine Ermessensentscheidung (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 109, Rdnr. 16) des Gerichts, das das Gutachten angefordert hat (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 18). Bei der Entscheidung über die Kostenübernahme auf die Staatskasse ist zu berücksichtigen, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert und somit Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung oder den Ausgang des Verfahrens gewonnen hat (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a). Entscheidend ist dabei, ob durch das Gutachten neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind oder die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt worden ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 07.04.2014, Az.: L 15 SB 198/13 B). Dabei genügt es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschlüsse vom 28.09.2012, Az.: L 15 SB 293/11 B, und vom 26.04.2013, Az.: L 15 SB 168/12 B) nicht, dass ein Gutachten "die Aufklärung des Sachverhalts in objektiv sinnvoller Weise gefördert" hat oder dass durch das Gutachten "entscheidungserhebliche Punkte des Sachverhalts weiter aufgeklärt werden", wie manchmal formuliert wird (vgl. Kühl, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 109, Rdnr. 11, mit Verweis auf den Beschluss des Bayer. LSG vom 29.04.1964, Az.: L 18/Ko 60/63). Denn diese Voraussetzungen sind bei medizinischen Gutachten so gut wie immer gegeben. Nur eine wesentliche Förderung der Sachaufklärung kann zu einer Kostenübernahme führen (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a; ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 21.10.2013, Az.: L 15 VK 13/13 B).

Von einer solchen Förderung der Sachaufklärung ist regelmäßig dann auszugehen, wenn das Gutachten gemäß § 109 SGG weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich gemacht hat (vgl. bereits den Beschluss des BayLSG vom 19.08.1999, Az.: L 18 B 303/96 V). Nur dann, wenn in einem solchen Fall das von Amts wegen eingeholte Gutachten lediglich die Unrichtigkeit des Gutachtens nach § 109 SGG bestätigt, ohne wesentliche, darüber hinausgehende zusätzliche Erkenntnisse zu bringen, ist eine Kostenübernahme auf die Staatskasse nicht angezeigt (vgl. Udsching, Besonderheiten des Sachverständigenbeweises im sozialgerichtlichen Verfahren, NZS 1992, 50, 55). Denn in einem solchen Fall hat, wie sich im Rahmen des anschließend von Amts wegen eingeholten Gutachtens und damit im Nachhinein zeigt, kein objektiver Grund für weitere Ermittlungen von Amts wegen bestanden (vgl. hierzu näher den Beschluss des Senats vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B).

Nicht entscheidend ist, ob das Gutachten den Rechtsstreit in einem für den Antragsteller günstigen Sinn beeinflusst hat. Kein maßgeblicher Gesichtspunkt für eine Ermessensausübung im Sinn eines Antragsstellers ist es auch, wenn dieser nach Bestätigung der Ergebnisse, wie sie der von Amts wegen bestellte Sachverständige festgestellt hat, durch den gemäß § 109 SGG benannten Gutachter die Klage oder Berufung zurücknimmt. Denn mit der Kostenübernahme auf die Staatskasse bzw. der Ablehnung der Kostenübernahme darf keine Belohnung bzw. Sanktionierung eines bestimmten prozessualen Verhaltens erfolgen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 04.02.2013, Az. L 15 SB 8/12 B).

Eine nur teilweise Kostenübernahme ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber bei einem einheitlichen Streitgegenstand regelmäßig nicht sachgerecht (vgl. Keller, a.a.O., § 109, Rdnr. 16a). Sie wird daher überhaupt nur in seltenen Fällen in Betracht gezogen werden können (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 08.08.2013, Az.: L 15 SB 146/13 B). Denkbar ist dies bei einem teilbaren Streitgegenstand (z.B. Höhe des GdB einerseits und Merkzeichen andererseits), wenn das Gutachten gemäß § 109 SGG nur für einen Teil des Streitgegenstands neue Erkenntnisse gebracht bzw. nur diesbezüglich zur Erledigung geführt hat, nicht aber für den anderen Teil des Streitgegenstands.

Auch kann über den Umfang der Kostenübernahme auf die Staatskasse keine Sanktionierung der Qualität eines Gutachtens in dem Sinn erfolgen, dass der Antragsteller die Kosten soweit selbst zu tragen hätte, als die Ausführungen eines Sachverständigen bei der Erledigung nicht als zutreffende Bewertung zugrunde gelegt worden sind (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 08.08.2013, Az.: L 15 SB 146/13 B). Denn entscheidend ist allein, ob das Gutachten die Sachaufklärung objektiv wesentlich gefördert hat.

Wie der Senat ebenfalls bereits entschieden hat (siehe Beschluss vom 19.12.2012, Az.: L 15 SB 123/12 B - mit ausführlicher Begründung, umfassenden Erwägungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen und ausführlicher Auseinandersetzung mit anderslautender Rechtsprechung), ist der Prüfungsumfang im Beschwerdeverfahren gemäß § 109 SGG - wie auch in anderen Beschwerdeverfahren - nicht insofern beschränkt, als nur eine eingeschränkte Nachprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht dahingehend eröffnet wäre, ob die Voraussetzungen und die Grenzen des Ermessens richtig bestimmt und eingehalten worden sind. Vielmehr geht er von einer vollen Überprüfung und einer eigenen Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts aus. Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung ist die Befugnis zur Ausübung des Ermessens in vollem Umfang auf das Beschwerdegericht übergegangen (ständige Rspr. des Senats, vgl. z.B. Beschluss vom 21.10.2013, Az.: L 15 VK 13/13 B); durch den Senat hat eine eigene Ausübung des Ermessens zu erfolgen.

Diese ergibt im vorliegenden Fall, dass die Kosten für das Gutachten gemäß § 109 SGG nicht auf die Staatskasse zu übernehmen sind. Das Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin und Diplombiologen Dr. F. hat die Sachaufklärung nicht objektiv wesentlich gefördert; insbesondere hat es die Beurteilung nicht auf eine wesentlich breitere und für das Gericht sowie die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt (vgl. Hintz/Lowe, SGG, 1. Aufl., § 109, Rdnr. 25).

* Aus Sicht des Senats kann offen bleiben, ob - wie das SG in seinem Urteil darlegt - die von Dr. F. in seinem Gutachten angegebenen Diagnosen und Gesundheitsstörungen tatsächlich (ausnahmslos) entweder nicht nachvollziehbar oder ohne Bezug zu den Einschränkungen sind. Denn maßgeblich ist vielmehr, dass das Gutachten von Dr. F. aufgrund der nicht den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze entsprechenden Festlegungen der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB letztlich nicht verwertbar war. Wie der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen hat, finden sich bei den Feststellungen des Dr. F. Doppelbewertungen. Auch werden teilweise nicht objektivierbare Beschwerden, die die Beschwerdeführerin gegenüber dem Sachverständigen geäußert hat, übernommen, ohne diese im Detail zu hinterfragen. Im Einzelnen wird auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 06.02.2013 verwiesen.

* Der Sachverständige Dr. F. hat zwar - gewissermaßen ergänzend zum Gutachten von Dr. M. - auch ein umweltmedizinisches Konzept hinsichtlich der Gesundheitsstörungen der Beschwerdeführerin dargelegt und das Verfahren um diesen Aspekt bereichert. Damit hat das Gutachten von Dr. F. das Verfahren um einen anderen Blickwinkel für die Krankheitsursachen erweitert. Wie dargelegt, genügt dies jedoch nicht, damit die Kosten § 109 SGG auf die Staatskasse übernommen werden können. Denn nur eine wesentliche Förderung kann zu einer Kostenübernahme führen (siehe oben). Die Ermittlung solcher allgemeiner Tatsachen (hier des umweltmedizinischen Konzepts) muss für das Verfahren nach der Rechtsprechung des Senats wesentliche Bedeutung haben. Abgesehen davon, dass dies vorliegend wegen der oben genannten Mängel des Gutachtens nicht der Fall ist, scheitert eine solche Relevanz auch daran, dass nach Überzeugung des Senats vorliegend unmaßgeblich ist, ob das umweltmedizinisch favorisierte (Multiple Chemikalienunverträglichkeit/ Chronisches Fatigue-Syndrom) oder das psychiatrisch-psychotherapeutische (Somatisierungsstörung bei Dysthymia) Konzept zugrunde gelegt wird. Wie Dr. H. nachvollziehbar dargelegt hat, ist die Entscheidung dieser Frage für die Leistungsbeurteilung nicht relevant. Allgemeine theoretische Grundlagen oder gar einen wissenschaftlichen Positionenstreit darzulegen, ist jedoch nicht Aufgabe eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens im Schwerbehindertenverfahren, so wie es nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens ist, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. September 1997, Az.: 1 RK 28/95).

Die Entscheidung über die Kosten dieses Verfahrens beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG (vgl. Beschlüsse des Senats vom 09.02.2009, Az.: L 15 SB 12/09 B, und vom 12.03.2012, Az.: L 15 SB 22/12 B).

Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG endgültig.

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