VG Bayreuth, Urteil vom 09.09.2015 - B 2 K 15.30276
Fundstelle
openJur 2015, 18586
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Klage der Klägerin zu 1 hin wird der Bescheid der Beklagten vom 16.04.2015 (Geschäftszeichen: ...) aufgehoben.

Auf die Klage des Klägers zu 2 hin wird der Bescheid der Beklagten vom 16.04.2015 (Geschäftszeichen: ...) aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten der verbundenen Verfahren.

3. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 115 v.H. des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin zu 1, somalische Staatsangehörige, reiste am ...2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am ...2014 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Der Kläger zu 2, Sohn der Klägerin zu 1 und ebenfalls somalischer Staatsangehöriger, wurde am ...2014 in Deutschland geboren. Am ...2014 stellte die Klägerin zu 1 für ihn ebenfalls einen Asylantrag.

Die Klägerin zu 1 hat bereits in Italien ein Asylverfahren durchgeführt und erhielt in diesem Zusammenhang die Zuerkennung internationalen Schutzes. Die italienischen Behörden haben der Wiedereinreise der Kläger mit Schreiben vom ...2015 zugestimmt.

Mit getrennten Bescheiden vom 16.04.2015 wurden die Asylanträge der Kläger jeweils als unzulässig abgelehnt (jeweils Ziffer 1). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidungen zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Den Klägern wurde für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Italien angedroht (jeweils Ziffer 2). Weiter wurde jeweils festgestellt, dass die Kläger nicht nach Somalia abgeschoben werden dürfen. In den Gründen der Bescheide ist ausgeführt, dass die Anträge auf Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland wegen des der Klägerin zu 1 in Italien zuerkannten internationalen Schutzes unzulässig seien. Die Kläger könnten keine weitere Schutzgewährung verlangen. § 60 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG schließe eine neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt aus. Nach § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gelte dies für subsidiär Schutzberechtigte entsprechend. Auch die Feststellung von nationalem Abschiebungsschutz hinsichtlich Somalia sei unzulässig.

Ausweislich der Postzustellungsurkunden wurden die Bescheide am 20.04.2015 dem Hausmeister der Gemeinschaftsunterkunft ... übergeben.

Gegen diese Bescheide erhoben die Kläger jeweils mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 30.04.2015, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, Klage und beantragen,

die Bescheide des Bundesamtes vom 16.04.2015 (Az. ... für die Klägerin zu 1 / Az. ... für den Kläger zu 2) aufzuheben,

hilfsweise jeweils die Ziffern 2 der vorgenannten Bescheide aufzuheben.

Zur Begründung wird ausgeführt, dass die vorliegenden Anordnungen der Rücküberstellung nach Italien unzulässig seien. Die Beklagte handele entgegen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 04.11.2014 (Az. 29217/12 – Tarakhel ./. Schweiz). Eine Garantieerklärung der italienischen Behörden zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Unterbringung der Kläger liege nicht vor. Darüber hinaus befinde sich der Kindsvater, Herr ... (geb. ...) seit ...2013 im nationalen Asylverfahren. Ferner werde auf das Urteil des EuGH vom 06.06.2013 (Az. C-648/11 – (MA u.a.) aus InfAuslR 7/8 2013) verwiesen. Demnach könne bei Minderjährigen nicht der erste Mitgliedstaat, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt habe, maßgeblich sein. Im Interesse unbegleiteter Minderjähriger sei es wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nicht unsachgemäß in die Länge ziehe; ihnen sei vielmehr ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten. Daher seien auch die Asylverfahren der Kläger in Deutschland durchzuführen.

Mit Schriftsätzen vom 12.05.2015 beantragt die Beklagte,

die Klagen abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Mit Beschlüssen des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 02.09.2015 wurden die Rechtsstreitigkeiten der Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Mit weiterem Beschluss vom 03.09.2015 wurden die Verfahren B 2 K 15.30275 und B 2 K 15.30276 zur gemeinsamen Entscheidung miteinander verbunden und unter dem Aktenzeichen B 2 K 15.30276 fortgeführt.

Mit Schriftsatz vom 31.08.2015 verzichtete der Klägerbevollmächtigte auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Beklagte erklärte mit Schriftsätzen vom 07.09.2015 und 08.09.2015, dass mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Einverständnis besteht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Mit Zustimmung der Beteiligten kann das Gericht nach § 101 Abs. 2 VwGO über die Verwaltungsstreitsache ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die zulässigen Klagen haben in der Sache Erfolg. Die Bescheide der Beklagten vom 16.04.2015 sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Hinsichtlich der Kläger liegt ein vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteter, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangener Sonderfall vor.

1.

Der aus Somalia stammenden Klägerin zu 1 wurde in Italien – einem sicheren Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 26a Abs. 2 AsylVfG – unstreitig internationaler Schutz zuerkannt. Gleiches gilt im Ergebnis für den Kläger zu 2. Denn nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Wiesbaden vom 26.03.2013 (S. 1) gelten Kinder automatisch als mit der Mutter anerkannt und werden auf dem Aufenthaltstitel der Mutter eingetragen. Zwar ist die Beklagte bei Vorliegen einer ausländischen Anerkennungsentscheidung zur (erneuten) Feststellung subsidiären Schutzes oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Deutschland grundsätzlich weder verpflichtet noch berechtigt; ein gleichwohl gestellter Asylantrag betreffend das Heimatland des Asylbewerbers ist danach grundsätzlich unzulässig, da ihm nach § 31 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG in diesem Fällen kein Asylrecht zusteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.06.2014, Az. 10 C 7/13; BayVGH, Beschluss vom 12.01.2015, Az. 20 ZB 14.30091).

Aufgrund des vom Bundesverfassungsgericht zu eben dieser Drittstaatenregelung entwickelten Konzepts der normativen Vergewisserung ist deswegen zunächst grundsätzlich davon auszugehen, dass dort die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention wie auch der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996, Az. 2 BvR 1938/92, 2 BvR 2315/93). Das normative Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG umfasst auch Gefährdungen gemäß § 60 Abs. 5 i.V.m. Abs. 7 Satz 1 AufenthG; einer Prüfung bedarf es deshalb vor einer Aufenthaltsbeendigung in einen sicheren Drittstaat auch insoweit grundsätzlich nicht.

Diese Grundsätze gelten entsprechend und erst recht, wenn der Asylantragsteller im sicheren Drittstaat bereits Schutz erhalten hat.

Dem kann nur damit entgegengetreten werden, dass es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass die Betroffenen in einem der vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten, im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle berührt sind, wobei an diese Darlegung strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerfG vom 14.05.1996 a.a.O. zum früheren § 53 Abs. 6 AuslG).

Maßgebend für die gerichtliche Entscheidung, den Status eines sicheren Drittstaates für international Schutzberechtigte abzulehnen, ist nicht, ob deren Lebensverhältnisse im konkreten Aufnahmestaat den europarechtlichen oder deutschen Anforderungen entsprechen oder prekär sind, sondern ob ein Sonderfall im oben genannten Sinne vorliegt. Im hier zu entscheidenden Fall kommt die im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangene Sonderfallgruppe in Betracht, dass der Drittstaat subsidiär Schutzberechtigte, die einem besonders schutzbedürftigen Personenkreis angehören, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) aussetzt.

Die Eingriffsschwelle von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh wird durch Missstände im sozialen Bereich nur unter strengen Voraussetzungen überschritten, z.B. hinsichtlich Gesundheitsversorgung und Unterbringung nur bei gänzlicher Versorgungsverweigerung mit existenzbedrohenden oder unmenschlicher Behandlung gleichkommenden Folgen. Unionsrecht schreibt in Art. 38 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (ABl. L 180/60 vom 29.06.2013) für das Konzept des sicheren Drittstaats insoweit keinen weitergehenden Rechtsschutz vor.

Wesentliche Kriterien für die zu entscheidende Frage, ob eine unmenschliche oder erniedrigende (bzw. „entwürdigende") Behandlung vorliegt, finden sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (vgl. Urteile vom 21.01.2011, Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien in NVwZ 2011, 413, vom 04.11.2014 - Nr. 29217/12, Tharakhel/Schweiz in juris, und Entscheidung vom 05.02.2015, Nr. 51428/10, A.M.E./Niederlande in juris) der mit Art. 4 GRCh übereinstimmt (vgl. zu den Anforderungen ausführlich Senatsurteil vom 10.11.2014, Az. A 11 S 1778/14 in InfAuslR 2015, 77, m.w.N.). Die Annahme einer drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 GRCh muss durch wesentliche Gründe (Art. 3 Abs. 2 UA. 2 VO Dublin III; vgl. auch EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Az. C-411/10 u.a., N.S. u.a. in NVwZ 2012, 417: „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe") gestützt werden. Das bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und aussagekräftig sein müssen; nur unter dieser Voraussetzung ist es nach der maßgeblichen Sicht des Europäischen Gerichtshofs gerechtfertigt, von einer Widerlegung des „gegenseitigen Vertrauens“ der Mitgliedstaaten untereinander auszugehen. In diesem Zusammenhang müssen die festgestellten Tatsachen und Missstände verallgemeinerungsfähig sein, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 GRCh kommt. Das bei einer wertenden und qualifizierten Betrachtungsweise zugrunde zu legende Beweismaß ist das der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im herkömmlichen Verständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung, das sich nicht von dem in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Beweismaß des „real risk“ unterscheidet (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013, Az. 10 C 23.12 in NVwZ 2013, 936; Beschluss vom 19.03.2014, Az. 10 B 6.14 in juris).

Hinzukommen muss immer, dass der konkrete Schutzsuchende auch individuell betroffen wäre. Es genügt nicht, dass lediglich abstrakt bestimmte strukturelle Schwachstellen festgestellt werden, wenn sich diese nicht auf den konkreten Antragsteller auswirken können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass - eine systemische Schwachstelle unterstellt - einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRCh im konkreten Einzelfall gegebenenfalls vorrangig dadurch „vorgebeugt" werden kann, dass die Bundesrepublik Deutschland die Überstellung im Zusammenwirken mit dem anderen Mitgliedstaat so organisiert, dass eine solche Gefährdungslage nicht eintreten kann (vgl. EGMR, Urteil vom 04.11.2014, Nr. 29217/12, Tharakel/Schweiz in juris; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2014, Az. 2 BvR 939/14 und 2 BvR 1795/14 in juris).

Unter Zugrundelegung der vorgenannten Maßstäbe und unter Berücksichtigung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass die Lebensumstände für Mütter mit Kleinkindern ohne familiären Rückhalt in Italien allgemein als unmenschlich oder erniedrigend einzustufen sind. Dabei wird sowohl berücksichtigt, dass das Unionsrecht den Betroffenen lediglich Inländergleichbehandlung (vgl. etwa Art. 26, 27, 28 Abs. 1 29, 30 RL 2011/95/EU - QRL -) bzw. Gleichbehandlung mit anderen sich rechtmäßig aufhaltenden Ausländern (vgl. Art. 32 und 33 QRL) garantiert und sie damit nur an den (schlechten) wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen im Zielstaat teilhaben, als auch dass die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht ausreicht, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten (EGMR, Beschluss vom 02.04.2013, Az. 27725/10).

Aufgrund der vorliegenden Unterlagen bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger (Mutter mit Kleinkind) angesichts ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit und der gegenwärtigen Aufnahmebedingungen in Italien im Falle einer Rücküberstellung der konkreten Gefahr einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wären. Im Hinblick auf Italien gilt, dass sich die Situation für anerkannte Schutzberechtigte, die aufgrund ihrer individuellen Situation (vorliegend: Mutter mit Kleinkind) eines besonderen Schutzes bedürfen, in der Regel schwieriger darstellt als für Personen, die sich dort noch im Asylverfahren befinden.

Im Gegensatz zu Asylbewerbern sind anerkannte Schutzberechtigte weitgehend von staatlichen Leistungen ausgeschlossen. Zwar erhalten sie eine Aufenthaltserlaubnis, so dass sie im Ergebnis dieselben Rechte wie italienische Staatsangehörige genießen, insbesondere freien Zugang zum Arbeitsmarkt und kostenfreien Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. Dies hat jedoch auch zur Folge, dass anerkannte Schutzberechtigte selbst für die Erlangung einer Unterkunft und die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verantwortlich sind. Ein Anspruch auf weitere Sozialleistungen besteht im Grundsatz nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.01.2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013). Ein der deutschen Rechtslage vergleichbares Sozialhilfesystem existiert in Italien nicht. Für die Festsetzung von Sozialhilfeleistungen sind grundsätzlich die Regionen zuständig, in bestimmten Regionen, wie z.B. der Emilia Romagna oder der Toskana, die Kommunen. Öffentliche Fürsorgeleistungen weisen daher je nach regionaler und kommunaler Finanzkraft erhebliche Unterschiede auf. Sozialhilfe kann Personen gewährt werden, die nicht über Mindesteinkünfte zur Bestreitung grundlegender Bedürfnisse verfügen. Die Ausgaben für die Sicherung des Lebensunterhalts machen oft nur einen kleinen Teil der Gesamtsumme aus; stärker ins Gewicht fallen spezifische Sach- und Geldleistungen oder Familienleistungen, die je nach Einkommen und Kinderzahl gestaffelt sind (vgl. Deutsche Botschaft Rom, Sozialpolitische Informationen Italien, Januar 2012, S. 24f.). Allerdings sind entsprechende Leistungen in jüngster Zeit – wie beispielsweise in Mailand – gekürzt worden; Rom soll Berichten zufolge gar keine Sozialleistungen mehr gewähren (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O. S. 48). Darüber hinaus stehen Sozialhilfeleistungen nur denjenigen Personen zu, die ihren Wohnsitz in der betreffenden Gemeinde haben. Berichten zufolge würden viele Gemeinden daher die Neuregistrierung hilfsbedürftiger Personen verweigern, mit der Folge, dass sie hinsichtlich des Bezugs von Sozialhilfeleistungen an ihren ursprünglichen Wohnort gebunden bleiben. Damit wird Schutzberechtigten nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe trotz der im Übrigen gegebenen Gleichstellung mit italienischen Bürgerinnen und Bürgern nicht der gleiche Zugang zu sozialen Leistungen gewährt. Mittellose Schutzberechtigte hätten aufgrund ihrer Notlage keine Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten. Ohne eine Wohnung sei aber eine Wohnsitznahme in einer neuen Gemeinde und damit der Zugang zu sozialer Unterstützung nicht möglich. Die Wohnsitznahme sei darüber hinaus Voraussetzung für den Erhalt einer Steuernummer, ohne die ein Zugang zum Arbeitsmarkt nicht möglich sei. Gleiches gelte für die Ausstellung eines Gesundheitsausweises, der Zugang zu medizinischer Versorgung gewähre. Zwar haben alle Schutzberechtigten grundsätzlich gesetzlich freien Zugang zur staatlichen medizinischen Versorgung. Da Berichten zufolge ein Gesundheitsausweis jedoch nur bei Bestehen eines Wohnsitzes (bzw. in Rom unter Umständen bei „virtueller Wohnsitznahme“, d.h. fiktiver Meldeadresse) ausgestellt wird, sei die Möglichkeit der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nicht sichergestellt. Infolge der Abhängigkeit sozialer Unterstützung von der Wohnsitznahme des Schutzberechtigten und der Weigerung vieler Gemeinden zur Neuregistrierung hilfsbedürftiger Personen kommt eine Niederlassung in finanzkräftigeren Kommunen nach Einschätzung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe faktisch nicht Betracht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bewegungsfreiheit in Italien für mittellose Personen mit Schutzstatus, 04.08.2014, S. 3ff.). Demgegenüber geht das Auswärtige Amt im Rahmen seiner Auskunft an das VG Wiesbaden vom 26.03.2013 davon aus, dass für die von Seiten der Behörden geforderte feste Adresse für den Zugang zu Sozialleistungen die eigene Angabe genügt. Gleichwohl führt auch das Auswärtige Amt aus, dass anerkannte Asylbewerber unter Umständen Schwierigkeiten haben können, eine Arbeit oder eine Unterkunft zu finden, da sie in der Regel keinerlei Unterstützung von Seiten des Staates bekommen, d.h. keine Leistungen entsprechend dem deutschen Sozialgesetzbuch oder Weitervermittlung. Auch die Liasonbeamtin des Bundesamtes geht im Rahmen ihrer Stellungnahme davon aus, dass Personen mit zuerkannten Schutzstatus in Italien grundsätzlich auf sich alleine gestellt sind (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Erkenntnisse der Liasonbeamtin in Rom zum Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, vom 21.11.2013, S. 3).

Darüber hinaus haben anerkannte Schutzberechtigte im Gegensatz zu Asylbewerbern keinen Zugang mehr zu Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber (sog. CARAS) oder zu den aus dem Europäischen Flüchtlingsfond finanzierten Unterkünften (sog. FER-Projekte). Ihnen stehen allenfalls Unterkünfte auf dem Zweitaufnahmesystem (sog. SPRAR-System) offen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn sie eine SPRAR-Unterkunft bereits einmal vorzeitig verlassen haben. Hinzu kommt, dass die Kapazität des SPRAR-Systems nicht ausreichend ist und nur für eine geringe Anzahl berechtigter Personen eine – zudem in der Regel auf sechs Monate beschränkte – Unterkunft bietet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 21ff.).

Die unzureichende Kapazität des italienischen Aufnahmesystems führt dazu, dass für anerkannte Schutzberechtigte die Gefahr der Obdachlosigkeit besteht (vgl. borderlinie-europe, Gutachten an VG Braunschweig, vom 28.09.2012, S. 52). Bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Rahmen seiner Entscheidung vom 04.11.2014 klargestellt, dass die Rücküberstellung einer Familie mit Kleinkindern Art. 3 EMRK verletzen würde, sofern keine vorherige individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, dass sie in einer dem Alter der Kinder entsprechenden Weise aufgenommen werden und die Familieneinheit gewahrt wird. Demnach müssen die Aufnahmebedingungen für minderjährige Ausländer an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht (vgl. EGMR, Urteil vom 04.11.2014, Az. 19217/12 [Tarakhel ./. Schweiz]). Zwar betrifft die vorgenannte Rechtsprechung die Rücküberstellung von Asylbewerbern im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens; sie muss jedoch angesichts der dargestellten kritischen Aufnahmebedingungen für Schutzberechtigte in Italien im Falle der Rücküberstellung von Personen mit bereits zuerkannten Schutzstatus entsprechend herangezogen werden. Auch das Bundesverfassungsgericht verlangt aufgrund der derzeitigen Auskunftslage für Italien, dass bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaates sicherzustellen ist, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für diese im besonderen Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.09.2014, Az. 2 BvR 1795/14). Dabei betraf die vorgenannte Entscheidung nicht die Rücküberstellung von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Verfahrens, sondern die Abschiebung einer Familie, der in Italien bereits subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Da die von Seiten des Bundesverfassungsgerichts geforderte konkrete Zusicherung im hier zu entscheidenden Fall nicht vorliegt und seitens Italiens gegenwärtig auch nicht (mehr) erteilt wird (vgl. insoweit BVerfG, Beschluss vom 22.07.2015, Az. 2 BvR 746/15), ist im Falle der Rücküberstellung einer Mutter mit Kleinkind nach Italien aufgrund der dargestellten Anhaltspunkte von der konkreten Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK auszugehen. Denn die Klägerin zu 1 hat nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, sie hat auch für ein im Mai 2014 geborenes Kleinkind Sorge zu tragen. Zwar sind die mittellosen Kläger formal italienischen Staatsbürgern gleichgestellt, faktisch kommt es jedoch aufgrund des fehlenden familiären Rückhalts in Italien und der mangelnden Sprachkenntnisse der Klägerin zu 1 zu einer Schlechterstellung. Wegen der Betreuung ihres Kleinkindes und der bestehenden Sprachbarrieren wird es der Klägerin zu 1 nicht möglich sein, ihren Lebensunterhalt und den ihres Kleinkindes durch Aufnahme einer Arbeit selbst zu erwirtschaften. Angesichts der regional sehr unterschiedlich ausgestalteten (und in Mailand überdies gekürzten) Sozialleistungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien nicht in der Lage sein werden ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bereits die Erlangung einer Unterkunft erscheint nach der dargestellten Auskunftslage nicht gesichert.

Nach den verwerteten Erkenntnissen bestehen mithin ausreichende Anhaltspunkte bzw. wesentliche Gründe für die Annahme, dass der zukünftige Aufenthalt der Kläger in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit systemische Schwachstellen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 21.12.2011, Az. C-411/10, N.S. u.a. in NVwZ 2112, 417) aufweist, welche gerade die Kläger in ihrer besonderen Situation der konkreten Gefahr aussetzen würde, im Falle einer Rücküberstellung nach Italien ein menschenunwürdiges Dasein fristen zu müssen. Denn nach der Auskunftslage kann nicht davon ausgegangen werden, dass den Klägern in Italien staatliche Leistungen zur Verfügung stehen. Daher ist nicht ersichtlich, wie es ihnen im Fall ihrer Rücküberstellung gelingen sollte, die notwendigen finanziellen Mittel für eine Unterkunft und die Bestreitung ihres Lebensunterhalts aufzubringen. Zwar geht die Liasonbeamtin des Bundesamtes im Rahmen ihrer Stellungnahme davon aus, dass die sog. „Vulnerable Cases“ (alleinstehende Frauen, …) immer gesondert betreut werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Erkenntnisse der Liasonbeamtin in Rom zum Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, vom 21.11.2013, S. 3). Aufgrund der gegenwärtigen Praxis der italienischen Behörden, die die Abgabe einer Garantieerklärung hinsichtlich der Unterbringung besonders schutzbedürftiger Personen ablehnen, besteht jedoch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine gesonderte Betreuung der sog. „Vulnerable Cases“ gegenwärtig nicht mehr gewährleistet ist.

2.

Aufgrund der Aufhebung der Ziffern 1 der streitgegenständlichen Bescheide liegen die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Abschiebungsandrohungen (§§ 34a Abs. 1, 34 Abs. 1 AsylVfG) nicht mehr vor. Die Abschiebungsandrohungen erweisen sich somit ebenfalls als rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch sie waren daher aufzuheben.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 709. ZPO. Einer Abwendungsbefugnis im Sinne von § 711 ZPO bedurfte es vorliegend nicht, da angesichts der beiden selbstständigen Klageverfahren, von einem Gegenstandswert (vgl. § 30 Abs. 1 RVG) von insgesamt 10.000,00 € auszugehen ist.