AG Hamburg, Urteil vom 17.08.2005 - 46 C 165/03
Fundstelle
openJur 2011, 14315
  • Rkr:

Geht die Übernahmeerklärung aufgrund eines Behördenversehens zu spät ein, so bleibt die fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzuges wirksam. Prozeßfähigkeit ist gegeben, wenn die Partei 1) den Sachverhalt erfassen kann und 2) Entscheidungen aufgrund freier Willensbildung treffen kann.

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, die Wohnung, 1. Obergeschoß links, Hamburg, bestehend aus 4 Zimmern, Küche, Flur, Bad, WC, Balkon und einem Bodenraum zu räumen und geräumt an die Kläger zur gesamten Hand herauszugeben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

1. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger 18 % und die Beklagte 82 %.

2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die klagende Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

3. Der Beklagten wird eine Räumungsfrist gewährt bis zum 30. September 2005.

Tatbestand

Die Kläger begehren von der Beklagten die Räumung von Wohnraum sowie Zahlung rückständigen Mietzinses.

Die Kläger sind eine Erbengemeinschaft nach Frau E. Die Erblasserin schloss am 10.02.1978 einen Mietvertrag mit der Beklagten und Herrn E. über die Wohnung, 1. Stock links, bestehend aus 4 Zimmern, Küche, Flur, Bad, WC einem Bodenraum und Balkon mit einer Wohnfläche von 81,31 m², beginnend ab 01.04.1978. Herr K. ist vor mehr als 20 Jahren aus der Wohnung ausgezogen. Sämtliche Korrespondenz über das Mietverhältnis wurde seit dem allein mit der Beklagten geführt. Zum Aktenzeichen: 43 b C 358/97 fand ein Rechtsstreit zwischen den Parteien auf Zahlung von Miete statt. Im Verfahren vor dem Amtsgericht Hamburg zum Aktenzeichen 40 a C 467/98 fand ein Verfahren zwischen den Parteien auf Erhöhung der Nettokaltmiete statt, das durch Vergleich endete. Ein weiteres Verfahren auf Erhöhung der Nettokaltmiete zum Aktenzeichen 40 a C 388/01 des Amtsgerichts Hamburg endete durch Anerkenntnisurteil. Danach wurde die Beklagte verurteilt, einer Erhöhung der Nettokaltmiete auf 697,64 DM zuzustimmen (vgl. Anlage K 17).

Nachdem die Beklagte andererseits die Miete für Juni 2002 und sodann die Mieten für Mai 2003 und Juli 2003 in Höhe von jeweils 396,25 EUR nicht bezahlt hatte, kündigten die Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schreiben vom 11.07.2003 der Beklagten das Mietverhältnis fristlos. Wegen der Einzelheiten des Kündigungsschreibens wird auf die Anlage K 1, Bl. 5 ff d. A., Bezug genommen. Diese Kündigung ist der Beklagten mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden.

Die Beklagte leistete daraufhin eine Zahlung von 396,00 EUR mit Datum vom 25.07.2003 an die Kläger. Die Kläger verrechneten diese Zahlung auf die rückständige Miete für den Monat Juni 2002. Unter dem 06.08.2003 zahlte die Beklagte einen weiteren Betrag von 396,00 EUR an die Kläger.

Die Räumungsklage wurde der Beklagten zugestellt am 16.09.2003.

Die Beklagte wandte sich an die Bezirksstelle zur Wohnungssicherung. Diese erkundigte sich telefonisch bei der Geschäftsstelle des Amtsgerichts nach dem Ablauf der Räumungsfrist. Der zuständigen Mitarbeiterin der Bezirksstelle zur Wohnungssicherung wurde als Datum des Ablaufes der Schonfrist der 20.11.2003 genannt.

Per Telefax vom 18.11.2003 sandte das Bezirksamt Hamburg Nord folgende Übernahmeerklärung an die Klägervertreter:

"Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit teile ich Ihnen mit, dass die Mietschulden von Frau H. bis 31.10.2003 in Höhe von 934,90 EUR vom Sozialamt Hamburg Nord heute an Sie überwiesen werden, die Miete für November hat Frau H. selbst bei auf Ihr Konto eingezahlt, die Quittung lag vor. Diese Mitteilung erhalten Sie vorab per Fax, weil laut Gericht die Schonfrist am 20.11.2003 abläuft."

Die Kläger beantragen:

1. Die Beklagte wird verurteilt, die 81,31 qm große Wohnung im, erstes OG links in Hamburg, bestehend aus 4 Zimmern, Küche, Flur, Bad, WC, Balkon und einem Dachboden zu räumen und geräumt an die Kläger zu deren gesamter Hand herauszugeben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger zu deren gesamter Hand EUR 934,15 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins auf jeweils EUR 0,25 seit dem 05.06.2002 und seit dem 05.08.2003 und auf jeweils EUR 396,25 seit dem 06.05.2003 und 04.07.2003 sowie auf EUR 141,15 seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat nach dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung für die Beklagte einen Prozesspfleger bestellt und hat sodann von Amts wegen gemäß Beschluss vom 11.09.2004 Beweis erhoben über die Frage der Prozessfähigkeit der Beklagten. Ferner hat das Gericht gemäß § 144 ZPO einen Ortstermin durchgeführt. Für das Ergebnis der Augenscheinseinnahme wird Bezug genommen auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 03.08.2004.

Für das weitere Vorbringen der Parteien wird ergänzend Bezug genommen auf den Sachvortrag in den Schriftsätzen nebst Anlagen sowie die zu Protokoll gegebenen Erklärungen.

Gründe

Die Klage ist zulässig (I.), hinsichtlich des Räumungsanspruches begründet (II.) und hinsichtlich des Zahlungsanspruches allerdings unbegründet (III.).

I.

Die Klage ist zulässig.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Beklagte prozessfähig im Sinne der Vorschriften der ZPO ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Frage der Prozessfähigkeit darauf an, ob eine Person noch in der Lage ist, das zur Förderung eines Prozesses wirklich Nützliche und Zweckmäßige vom Unnützlichen zu unterscheiden. Zu prüfen ist, ob eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider nach einer sachlichen Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, weil die Erwägungen und Willensentschlüsse des Betroffenen nicht mehr auf einer der allgemeinen Verkehrsauffassung entsprechenden Würdigung der die Außenwelt prägenden Umstände und Lebensverhältnisse beruhen (vgl. BGH, Urteil vom 12.12.1995, Az.: XI ZR 70/95). Es kommt also zum einen darauf an, ob die betroffene Person zum einen in der Lage ist, die Geschehnisse in ihrer Tragweite zu erfassen, zum anderen, ob die Person in der Lage ist, nach dieser Erkenntnis zu handeln. Erst dann kann von einer freien Willensbildung gesprochen werden.

Unter Anlegung dieser Kriterien handelt es sich bei der Beklagten mit Sicherheit um einen Grenzfall. Dies hat das Gericht auch dazu veranlasst, hier sachverständigen Rat zu suchen. Danach hat der Sachverständige festgestellt, dass bei der Beklagten zum einen eine schwere paranoide Persönlichkeitsstörung vorliegt, zum anderen noch eine Zwangsstörung mit allen Merkmalen des sog. Messi-Syndroms. Außer Frage steht, dass die Beklagte in der Lage ist, den Sachverhalt zu erfassen. Sie ist voll orientiert, hoch intelligent und hellwach. Auch das für die Prozessfähigkeit erforderliche Element der freien Willensbildung ist in ausreichendem Maß gegeben. Der Sachverständige hat erklärt, dass die Beklagte unter dem Druck der Ereignisse in der Lage ist, sich anders zu verhalten.

Zwar ist es gerade Kennzeichen dieser Form von Persönlichkeitsstörungen, dass immer wieder neue Punkte hervorgesucht werden und der Konflikt letztendlich den gesamten Lebensinhalt bestimmt. In derartigen Grenzfällen ist jedoch abzuwägen das Recht auf Selbstbestimmung, das grundgesetzlich als Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 GG geschützt ist mit der Fürsorgepflicht des Staates als Ausfluss von Art. 1 und Art. 2 GG. In derartigen Fallkonstellationen ist im Zweifel dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen der Vorrang zu geben.

Die Kläger sind als Erbengemeinschaft auch klagebefugt. Weitere Zulässigkeitsbedenken sind nicht gegeben.

II.

Die Räumungsklage ist begründet. Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Räumung gemäß § 556 BGB. Die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses ist wirksam gemäß § 543 BGB in Verbindung mit § 569 BGB.

Die Beklagte befand sich zum Zeitpunkt des Ausspruches der Kündigung mit mehr als zwei Monatsmieten im Rückstand. Diese Rückstände wurden nicht innerhalb der Schonfrist ausgeglichen. Die Schonfrist lief am 17.11.2003 ab. Die Übernahmeerklärung des Sozialamtes ging erst am 18.11.2003 bei der Klägervertreterin ein.

Es verstößt auch im vorliegenden Fall nicht gegen Treu und Glauben, dass die Kläger sich auf die Nichteinhaltung der Räumungsfrist berufen. Eine solche Fallkonstellation würde nur dann vorliegen, wenn sie ihrerseits dazu beigetragen hätten, dass von Behördenseite der Ausgleich nicht innerhalb der Schonfrist erfolgt ist.

Hier liegen jedoch die Versäumnisse zum einen auf Seiten der Beklagten selbst, die sich erst kurz vor Ablauf der Räumungsfrist an die zuständigen Stellen wandte. Sie ist dort erst am 01.11.2003 vorstellig geworden. Zum anderen wurde von der Geschäftsstelle des Gerichts ein Fehler begangen, indem das falsche Datum des Ablaufs der Räumungsfrist genannt wurde. Dies hätte die Beklagte aber selbst feststellen können.

Zwar ist anerkannt, dass Fehler des Gerichts im Verfahren der Partei nicht zum Nachteil gereichen dürfen (vgl. Urteil des gemeinsamen Senates vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395-416). Dies bezieht sich aber auf Verfahrenshandlungen im Verfahren selbst und nicht auf Handlungen anderer Behörden. Hier bleibt dem betroffenen Bürger letztendlich nur die Möglichkeit, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzung gemäß § 839 BGB vorzugehen.

Der Wirksamkeit der Kündigung steht auch nicht entgegen, dass diese nur der Beklagten gegenüber ausgesprochen wurde, jedoch nicht dem vor über 20 Jahren ausgezogenen Mitmieter. Wie der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 16.03.2005 (Aktenzeichen: XIII ZR 1404, vgl. u. a. WuM 2005, S. 341) entschieden hat, muss sich der eine Wohnung allein weiter nutzende Vertragspartner so behandeln lassen, als habe er seine Zustimmung zur Entlassung des Mitmieters und zur Fortsetzung des Mietverhältnisses mit ihm allein erteilt. In diesen Fällen genügt es, wenn die Kündigung nur dem die Wohnung weiter allein nutzenden Mieter ausgesprochen wird.

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Beklagte nutzt die Wohnung seit über 20 Jahren allein weiter und hat in dieser Zeit auch sämtliche Korrespondenz geführt. Auch in mehreren vorangegangenen Rechtsstreitigkeiten hat sie sich zu keinem Zeitpunkt darauf berufen, dass sie nicht mehr allein Mieterin des Mietverhältnisses ist. Insbesondere in den Verfahren auf Zustimmung zur Mieterhöhung besteht bei mehreren Mitmietern eine notwendige Streitgenossenschaft. Eine nur gegen einen Mieter erhobene Klage ist unzulässig. Auch hierauf hat sich die Beklagte nicht berufen. Sie muss sich daher nach Treu und Glauben so behandeln lassen, als sei ihr früherer Lebensgefährte mit ihrer Zustimmung aus dem Mietverhältnis entlassen worden und sie damit allein Mieterin geworden ist. Die Kündigung der Kläger konnte deshalb wirksam ihr allein gegenüber ausgesprochen werden.

III.

Die Zahlungsklage ist unbegründet.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Mietforderungen in Höhe von 934,15 EUR mehr. Diese Forderungen sind durch Zahlung erloschen. Entgegen der Auffassung der Kläger erfolgte die Übernahmeerklärung vom 18.11.2003 nicht unter einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung, sondern unbedingt. Ein Zahlungsrückstand liegt damit nicht mehr vor.

Insoweit ist unbeachtlich, ob die Freie und Hansestadt Hamburg, vertreten durch das Bezirksamt Nord einen Rückforderungsanspruch gegen die Kläger geltend macht bzw. überhaupt geltend machen kann. Ggf. ergäben sich hier Ansprüche, die bereicherungsrechtlich abzuwickeln wären. Das ändert jedoch nichts daran, dass die ursprüngliche Mietzinsforderung durch Erfüllung erloschen ist.

Der Zinsanspruch entfällt mit der Hauptforderung.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 7, 711 ZPO.

Der Beklagten war gemäß § 721 ZPO eine kurzfristige Räumungsfrist zu gewähren, um ihr Gelegenheit zu geben, ihrer Räumungsverpflichtung freiwillig nachzukommen und sich um einen Ersatzwohnraum zu bemühen. Gegenwärtig wohnt die Beklagte nach ihren eigenen Angaben bei ihrer Tochter, so dass eine akute Obdachlosigkeit nicht droht.

Die Räumungsfrist war jedoch nur kurz zu bemessen, da den Klägern angesichts der vorhandenen Mängel, insbesondere der nicht durchgeführten Gasleitungsreparatur und der dadurch bestehenden Gefährdung für die Sicherheit des Hauses ein weiteres Zuwarten nicht zugemutet werden kann.

Es ist der Beklagten zu wünschen, dass es ihr gelinge, ihre überdurchschnittliche Intelligenz, ihre Kraft und ihren Mut dafür einzusetzen, ihre Erkrankung anzugehen. Mit kompetenter ärztlicher Begleitung könnte sie bei ihren Fähigkeiten sehr bald wieder gesund werden und möglicherweise sogar eine führende Rolle im Kampf gegen die von ihr angeprangerte, überkommene und unsinnige Stigmatisierung psychische Erkrankungen in der Bevölkerung spielen.

B e s c h l u ß :

Der Streitwert wird wie folgt festgesetzt:

Räumung (§ 356,70 EUR x 12)

4.280,40 EUR

Zahlung

934,15 EUR

Insgesamt

5.214,55 EUR.