VG Kassel, Beschluss vom 06.05.2015 - 2 L 580/15.KS
Fundstelle
openJur 2015, 12400
  • Rkr:

Fahreignungs-Bewertungssystem; Abkehr vom Prinzip der Warn-und Erziehungsfunktion, Folgemaßnahme setzt weiterhin Vormaßnahme voraus; keine Punktestandsreduzierung, wenn Vormaßnahme - faktisch vor Folgemaßnahme ergriffen; Abkehr vom Tattagsprinzip - Abstellen auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme durch die Fahrerlaubnisbehörde von der letzten Tat nach Rechtskraft der Ahndung

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 € festgesetzt.

Gründe

Der mit Schriftsatz vom 07.04.2015 (sinngemäß) gestellte Antrag,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 09.04.2015 gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 26.03.2015 anzuordnen,

ist zulässig. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist auf § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG) gestützt. Gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG keine aufschiebende Wirkung.

Der Antrag ist aber unbegründet. Das öffentliche Interesse, das daran besteht, eine weitere Teilnahme der Antragstellerin am motorisierten Straßenverkehr zu verhindern, überwiegt deren privates Interesse, weiterhin von ihrer Fahrerlaubnis Gebrauch machen zu dürfen. Dies folgt daraus, dass sich die angefochtene Verfügung vom 26.03.2015, mit der der Antragstellerin die ihr am 08.01.2002 erteilte Fahrerlaubnis der Klassen A, BE, C1E, M, S und L entzogen worden ist, nach der in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) lediglich möglichen und auch nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als offensichtlich rechtmäßig erweist. Zur Begründung nimmt die Kammer zunächst Bezug auf die angefochtene Verfügung.

Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG in der seit 5. Dezember 2014 geltenden Fassung vom 28.11.2014 (n.F.) hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Betroffenen die Fahrerlaubnis – ohne dabei zustehenden Ermessensspielraum – zu entziehen, wenn sich 8 oder mehr Punkte nach dem ab 1. Mai 2014 geltenden Fahreignungs-Bewertungssystem im Verkehrszentralregister ergeben. Dabei ist die Behörde bei der Ergreifung von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 S. 1 StVG n.F. gemäß Satz 4 an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat bzw. die Ordnungswidrigkeit gebunden. Gemäß § 4 Abs. 5 S. 5 StVG in den ab 1. Mai 2014 geltenden Fassungen hat sie für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Darüber hinaus werden nach der nunmehr seit dem 5. Dezember 2014 geltenden Fassung des § 4 Abs. 5 StVG gemäß Satz 6 bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen (1.) unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind, und (2.) nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in Satz 5 genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war.

Diese Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis sind bei der Antragstellerin gegeben. Aufgrund der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes an die Fahrerlaubnisbehörde vom 10.02.2015 ergeben sich aus den darin aufgeführten Verstößen insgesamt 9 Punkte, so dass die Fahrerlaubnisbehörde berechtigt und verpflichtet war, der Antragstellerin die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Im angefochtenen Bescheid wird der Punktestand nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem wie folgt zutreffend wiedergegeben:

Datumder TatDatumderEntscheidungBußgeld-behörde oderGerichtGrund derEintragung       Punkte16.11.201009.03.2011Bußgeldstelle Kreis A.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 30 km/h       312.09.201222.11.2012Regierungspräsidium in B.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 25 km/h       109.09.201321.11.2013Bußgeldstelle in C.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 45 km/h       322.10.201316.01.2014Bußgeldstelle der Stadt D.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 25 km/h       1Diese Eintragungen ergeben einen Stand von 8 Punkten nach dem Punktsystem in der bis zum 30.04.2014 geltenden alten Fassung (a.F.) und wurden nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG in der seit 1. Mai 2014 geltenden Fassung mit 4 Punkten in das Fahreignungs-Bewertungssystem eingeordnet.

Dazu kommen die folgenden Eintragungen im Fahreignungsregister, die nach dem 30.04.2014 dort eingetragen wurden:

Datumder TatDatumderEntscheidungBußgeld-behörde oderGerichtGrund derEintragung       Punkte23.05.201410.07.2014Regierungspräsidium in E.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 46 km/h       203.09.201422.12.2014Regierungspräsidium in B.Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschl. Ortschaften um 27 km/h       1       30.10.201409.01.2015Regierungspräsidium in E.Erforderlichen Mindestabstand zum vorausfahrenden Kfz nicht eingehalten       2Insgesamt ergeben diese Verkehrszuwiderhandlungen einen Stand von 9 Punkten.

Wegen der Einzelheiten der Verstöße insbesondere und dem Eintritt der Rechtskraft der einzelnen Entscheidungen wird auf die Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 10.02.2015 (Bl. 39 ff. der Verwaltungsvorgänge – VV -) verwiesen.

Der Antragsgegner hat auch die nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 StVG a.F. bzw. § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 und 2 StVG in den seit 1. Mai 2014 geltenden Fassungen angeordneten „Vorschaltmaßnahmen“ (Ermahnung und Verwarnung) gegenüber der Antragstellerin in ordnungsgemäßer Weise ergriffen.

Mit Verfügung vom 18.03.2014 (Bl. 15 f. VV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Antragstellerin gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 1 StVG a.F. wegen eines erreichten Standes von 8 Punkten nach dem Punktsystem in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung verwarnt und sie auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 8 StVG a.F. sowie den sich daraus ergebenden Punkteabzug hingewiesen. Von dieser Möglichkeit hat die Antragstellerin keinen Gebrauch gemacht.

Der Antragsgegner hat die vor dem 1. Mai 2014 eingetragenen 8 Punkte sodann in nicht zu beanstandender Weise gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 S. 1 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung in 4 Punkte nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem überführt. Die 8 Punkte waren dabei voll berücksichtigungsfähig. Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung hat die Kammer keine Bedenken daran, dass die Entscheidungen zu den vom Antragsteller begangenen Ordnungswidrigkeiten nach § 65 Abs. 3 i.V.m. § 28 Abs. 3 StVG n.F. im Fahreignungsregister zu speichern sind und insbesondere die Voraussetzungen für eine Löschung nach § 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG n.F. nicht vorlagen.

Mit Verfügung vom 16.01.2014 (Bl. 31 ff. VV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Antragstellerin gemäß § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 StVG n.F. wegen des Erreichens von 6 Punkten erneut verwarnt und sie auf die Möglichkeit der Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 4a StVG n.F. i.V.m. § 42 FeV hingewiesen und erläutert, dass es sich bei dieser Verwarnung bereits um die zweite Stufe des (neuen) Fahreignungs-Bewertungssystems handele und im Falle erneuter Zuwiderhandlungen und einer Erhöhung des Punktestandes auf 8 Punkte die Fahrerlaubnis kostenpflichtig zu entziehen sei. Insbesondere wurde auch die Einordnung des bisherigen Punktestandes in das Punktesystem in der neuen Fassung wiedergegeben.

Da die Antragstellerin durch Übertragung ihrer früheren Punkte in das neue Bewertungssystem zum 01.05.2014 bereits die ab einem Punktestand von 4 Punkten greifende erste Stufe erreicht und diese Stufe somit nicht erst durch weitere Zuwiderhandlungen erstmals erreicht hatte, bedurfte es keiner nochmaligen Ermahnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG n.F.

Entgegen der Auffassung der Antragstellerin musste der Antragsgegner keine Punktereduzierung im Sinne von § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG n.F. auf sieben Punkte vornehmen. Bezogen auf den für die Berechnung des Punktestandes maßgeblichen Stichtag 30.10.2014 (Begehung der letzten Tat, die eine Erhöhung des Punktestandes auf (über) 8 Punkte bewirkte) sind für die Antragstellerin 9 Punkte entstanden gewesen. Diesen Punktestand konnte die Behörde ihrer Entzugsentscheidung auch zugrunde legen.

Im Zeitpunkt der Kenntniserlangung (09.02.2015) der Behörde von der Tat vom 30.10.2014 und ihrer Verwertbarkeit (Rechtskraftdatum: 09.01.2015) war die Verwarnung vom 16.01.2015 unstrittig bereits ergangen, dadurch zumindest im wörtlichen Sinn von § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. ergriffen, womit eine Notwendigkeit ihrer Nachholung und der - erst - hiermit verbundenen Reduzierung des Punktestands im Sinne von § 4 Abs. 6 Sätze 2 und 3 StVG n.F. nicht gegeben war.

18Dass es auf das rein faktische Ergreifen der Vormaßnahme (hier: Verwarnung) vor dem Ergreifen der Folgemaßnahme (hier: Entzug) ankommt, ist spätestens ab der Neufassung von § 4 Abs. 5 und 6 StVG am 5. Dezember 2014 durch das Gesetz vom 28. November 2014 (BGBl I S. 1802) anzunehmen (so auch: VG Ansbach, Beschluss vom 19.02.2015 – AN 10 S 15.00161 –, juris und Beschluss vom 19.03.2015 – AN 10 S 15.00350 –, juris).

Es ist der Antragstellerin zwar zuzugeben, dass nach § 4 StVG in der bis zum 30. April 2014 Fassung davon auszugehen war, dass sämtliche Verkehrszuwiderhandlungen, welche vor dem Ergehen der jeweiligen Vormaßnahme bereits begangen worden waren, von der Punktereduzierungsregelung des § 4 Abs. 5 StVG a. F. erfasst worden waren. Dies wurde aus der Warn- und Erziehungsfunktion der Vormaßnahmen abgeleitet, welche der Gesetzgeber der damaligen Regelung ausdrücklich zugeschrieben hatte (vgl. VkBl 98, 774). Vor diesem Hintergrund war es unmittelbar einsichtig, dass die Punkte, welche sich aus bereits vor Ergehen der Vormaßnahme begangenen Verkehrszuwiderhandlungen ergeben hatten, der Reduzierungsregel unterworfen wurden, da der Zweck der Vormaßnahmen zu diesen Tatzeitpunkten den Betroffenen noch nicht hatte erreichen können (so auch: VG Ansbach, Beschlüsse vom 19.02.2015 und 19.03.2015, a.a.O.).

20Diese Warn- und Erziehungsfunktion verfolgt das Gesetz jedenfalls nicht mehr in der Fassung ab dem 5. Dezember 2014. Dies zeigt sich - nun - eindeutig aus den Motiven des Gesetzgebers, wie sie sich aus der BT-Drs. 18/2775 vom 08.10.2014 (juris), insbesondere Seite 9 f. ergeben (so auch: VG Ansbach, Beschlüsse vom 19.02.2015 und 19.03.2015, a.a.O.). Dort ist unter anderem ausgeführt (Unterstreichungen durch das beschließende Gericht):

„Die Regelung sieht Klarstellungen zur Punkteberechnung vor. Die ab 1.Mai 2014 geltende Regelung des § 4 Absatz 6 StVG war aus dem vorangehenden Text aus § 4 Absatz 7 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung entwickelt worden. Unter dieser ursprünglichen Fassung waren verschiedene Auslegungen verfolgt und entsprechend unterschiedliche Verfahrensweisen praktiziert worden. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 25. September 2008 (Az. 3 C 3/07) hierzu am Rande Ausführungen getätigt, um das Tattagsprinzip zu begründen. Es hat dabei dem Stufensystem eine „Warnfunktion“ beigemessen und konstatiert, dass die Maßnahmen den Fahrerlaubnisinhaber „möglichst frühzeitig und insbesondere noch vor dem Eintritt in die nächste Stufe erreichen“ sollten, damit ihm die „Möglichkeit der Verhaltensänderung“ effektiv zuteil wird. Anderenfalls hätte er „die weiteren Verkehrsverstöße, vor deren Begehung er eigentlich erst gewarnt werden soll, bereits begangen.“

Von diesen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts zum ursprünglichen System wollte sich der Gesetzgeber für das ab 1. Mai 2014 geltende neue System mit den Erwägungen zur Punkteentstehung und zum Tattagsprinzip bewusst absetzen (Bundesratsdrucksache 799/12, S. 72).

Um den Systemwechsel deutlicher zu fassen und deutlicher zu machen, dass die bisherige zum Punktsystem ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht auf die Punkteberechnung im neuen System in diesem Detail erstreckt werden soll, wird nunmehr die vorliegende Klarstellung vorgenommen. Es kommt nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem demnach nicht darauf an, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Denn das neue System kennt keine verpflichtende Seminarteilnahme und versteht den Erziehungsgedanken damit auch nicht so, dass jede einzelne Maßnahme den Fahrerlaubnis-Inhaber individuell ansprechen können muss in dem Sinne, dass nur sie die Verhaltensbeeinflussung bewirken kann. Die Erziehungswirkung liegt vielmehr dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde, während die Stufen in erster Linie der Information des Betroffenen dienen. Die Maßnahmen stellen somit lediglich eine Information über den Stand im System dar.

Unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, kommt es vielmehr auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an. Hat der Betroffene sich durch eine entsprechende Anhäufung von Verkehrsverstößen als ungeeignet erwiesen, ist er vom Verkehr auszuschließen. Der Hinweis auf eine in bestimmten Konstellationen ausbleibende Chance, sein Verhalten so zu bessern, dass es zu keinen weiteren Maßnahmen kommt, kann in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kein Argument dafür sein, über bestimmte Verkehrsverstöße hinwegzusehen und sie dadurch bei der Beurteilung der Fahreignung auszublenden. Denn es geht in solchen Fällen teilweise sogar um Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet.

Mit Absatz 5 Satz 6 Nummer 1 soll verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten sind, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen worden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sind. Absatz 5 Satz 6 Nummer 2 enthält den bisherigen, unveränderten Regelungsgehalt des bisherigen Absatzes 5 Satz 6.

Absatz 6 soll mit seiner Ausnahme vom Tattagsprinzip eindeutiger gefasst werden. Absatz 6 Satz 1 formuliert den Grundsatz des stufenweisen Ergreifens der Maßnahmen klarer. Insbesondere wird die Regelung deutlicher auf die Befugnis der Behörde bei der Maßnahmeergreifung konzentriert und klarer vom Entstehen der Punkte getrennt. Zwar gilt für die Punkteentstehung das Tattagsprinzip. Für das Ergreifen von Maßnahmen hat das Tattagsprinzip aber keine Relevanz, denn Maßnahmen können erst nach Rechtskraft (und Registrierung) der Entscheidung über die Tat und damit deutlich später an die Tat geknüpft werden. Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht. Absatz 6 Satz 2 enthält die Anweisung, die zunächst vorgesehene, aber noch nicht erteilte Maßnahmenstufe dann noch zu ergreifen, wenn der Punktestand bereits die darauf folgende Maßnahmenstufe erreicht hat. Eine Punktereduzierung in Satz 3 ist nur Folge dieser Maßnahmenergreifung und kein Selbstzweck. So spricht auch die Gesetzesbegründung in BR-Drucksache 799/12, S. 79 f von „für den praktischen Vollzug dieses Grundsatzes erforderlichen Anweisungen für die Punktereduzierungen (...) Ohne diese Anweisung der Punktereduzierung wäre das Verfahren weniger übersichtlich, weil dann Punktestand und Maßnahmenstufe auseinander fallen würden.“

27Das damit nach Absicht des Gesetzgebers gebotene Abstellen der Behörde auf den Punktestand im Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung bei der Ergreifung von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 – Nr. 3 StVG an Stelle des im Übrigen gebotenen Abstellens auf das Tattagprinzip i.S.v. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG rechtfertigt sich zur Überzeugung der Kammer insbesondere aus – auch in der Gesetzesbegründung ausdrücklich herangezogenen – praktischen Erwägungen zur Steigerung der Effektivität der beabsichtigten Gefahrenabwehr. Zudem werden dadurch aber auch im Ergebnis unbillige Punktestandsreduzierungen vermieden, die sich beim ausschließlichen Abstellen auf das Tattagprinzip beim Ergreifen der Maßnahmen – etwa nur aufgrund von rechtmittelbedingt verlängerten Verfahrenslaufzeiten dementsprechend verzögerter Kenntniserlangung der Behörde – ergeben. Nach Auffassung der Kammer wird der mit dem Punktesystem bezweckte Schutz (insbesondere auch der anderer Verkehrsteilnehmer) vor Gefahren, die von Mehrfachtätern im Straßenverkehr ausgehen (Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, StVG, § 4, Rdnr. 28), ansonsten unterlaufen. Denn insbesondere bei Verkehrsteilnehmern, die mit hoher Rückfallgeschwindigkeit Taten im Straßenverkehr begehen, gegen die daraufhin ergangenen Entscheidungen dann regelmäßig Rechtsmittel einlegen und es dadurch zu unterschiedlich langen Verfahrenslaufzeiten kommt, wären – u.U. wiederholte – Punktereduzierungen die – dem Zweck des Maßnahmenkatalogs zuwiderlaufende – Folge. So ist nunmehr gewährleistet, dass im Zeitpunkt der Kenntniserlangung der Behörde entsprechend dem Katalog des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG Maßnahmen in der vorgeschriebenen Abfolge ergriffen werden. Bei schneller Abfolge von Zuwiderhandlungen ist dann mit Kenntniserlangung der Behörde auch in entsprechender Abfolge die nächste Maßnahme zu ergreifen, unabhängig davon, dass etwa die zuletzt bekannt gewordene Tat bereits vor dem Erlass der zuletzt ergriffenen Maßnahme begangen worden ist. Davon unabhängig ist aber weiterhin eine vollständige Einhaltung der Abfolge aller vorgeschriebenen Maßnahmen und die gebotene Reduzierung des Punktestandes im Falle des § 4 Abs. 6 StVG weiterhin gewährleistet.

Nach Auffassung der Kammer – entgegen der aktuellen Rechtsprechung des OVG NRW, Beschluss vom 14.04.2015 – 16 B 257/15 –, juris, und des VG Berlin, Beschluss vom 09.02.2015 – 11 L 590.14 –, juris – soll nach dem eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers jedenfalls mit der ab 5. Dezember 2014 gültigen Änderung eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zur Punkteberechnung und Warnfunktion der ersten und zweiten Stufe erreicht werden. Denn Fahrzeugführern, die aufgrund einer Anhäufung von Verkehrsverstößen sich als ungeeignet erwiesen haben, soll aus Gründen der Verkehrssicherheit das weitere Führen eines Kraftfahrzeuges zu untersagen sein (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 9).

Ziele der letzten Neufassungen des § 4 StVG nach dem 30. April 2014 waren nach dem Willen des Gesetzgebers die Verbesserung der Verkehrssicherheit, mehr Transparenz und Vereinfachung (Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., StVG, § 4, Rdnr. 28, m.w.N.). Die Maßnahmen des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG dienen – so auch nach der Gesetzesbegründung – in erster Linie Informationszwecken für den Betroffenen. Entgegen der Auffassung des OVG NRW (Beschluss vom 14.04.2015 – 16 B 257/15 –, a.a.O.), ergibt die in § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG n.F. vorgeschriebene Punktereduktion bei verspäteter Ermahnung oder Verwarnung auch dahingehend Sinn, dass die Einhaltung der stufenweisen Maßnahmen mit der jeweiligen Wiedergabe der der Behörde zur Kenntnis erlangten – und angesichts der zu diesem Zeitpunkt dann eingetreten Rechtskraft – der Transparenz des Verfahrens und der Selbstkontrolle der Behörde hinsichtlich des einzuhaltenden gestuften Verfahrens dient. Die Auffassung, dass diesen Maßnahmen erzieherische Wirkung gegenüber dem betreffenden Fahrerlaubnisinhaber zukommen soll und ihm damit vor einer Entziehung nochmals die Chance eingeräumt werden soll, durch eine grundlegende Änderung des Fahrverhaltens die Entziehung seiner Fahrerlaubnis abzuwenden, vermag nicht zu überzeugen. Denn zum einen ist eine entsprechende Aufklärung und Warnung des Verkehrsteilnehmers über die Folgen weiterer Verstöße durch die stufenweise zu ergreifenden Maßnahmen gewährleistet. Zum anderen liegt nach dem Wortlaut der angeführten Gesetzesbegründung die neben der Gefahrenabwehr beabsichtigte Erziehungswirkung „vielmehr dem Gesamtsystem als solchem zu Grunde“. So ist die Kenntnis über die (letztendliche) Folge der Fahrerlaubnisentziehung im Falle wiederholter – dementsprechend schwerwiegender – Verstöße bei einem Fahrerlaubnisinhaber vorauszusetzen. Im Übrigen findet auch etwa im Falle eines die Fahreignung dementsprechend beeinträchtigenden Alkohol- oder Betäubungsmittelkonsums vor der Entziehung der Fahrerlaubnis keine vorherige aufklärende Maßnahme des Fahrerlaubnisinhabers mit dem Ziel einer Erziehungswirkung oder Verhaltensbeeinflussung mehr statt.

Da die Fahrerlaubnisentziehung bereits kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9, Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F.) sofort vollziehbar ist, bedurfte es in der angefochtenen Verfügung keiner Begründung eines besonderen Sofortvollzugsinteresses.

Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Antragstellerin nach §§ 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, 47 Abs. 1 Satz 1 FeV auch zu Recht aufgefordert, ihren Führerschein innerhalb der gesetzten einwöchigen Frist abzugeben. Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins besteht gemäß § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV auch, wenn die Entscheidung angefochten wurde, diese aber sofort vollziehbar ist.

Die Zwangsgeldandrohung beruht auf §§ 47, 50, 53 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG).

Da die Antragstellerin unterliegt, hat sie nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1 und 2 GKG i. V. m. Nrn. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die entzogene Fahrerlaubnis der Antragstellerin umfasst die Klassen A, BE, C1E, L, M und S. Vorliegend sind nur die Klassen A, B und C1E für den Streitwert relevant, die die anderen Fahrerlaubnisklassen mit abdecken (vgl. § 6 Abs. 3 FeV). Nach Nr. 46.1, Nr. 46.3 sowie nach Nr. 46.5 des Streitwertkatalogs ist mithin jeweils einmal der Auffangwert (5.000,00 EUR) anzusetzen, insgesamt somit 15.000 EUR. Nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs ist der sich daraus ergebende Hauptsachestreitwert aufgrund der Vorläufigkeit der Entscheidung in diesem Verfahren um die Hälfte zu mindern.

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