KG, Beschluss vom 30.06.2015 - 9 W 5/14
Fundstelle
openJur 2015, 11847
  • Rkr:

Der Anspruch auf Entschädigung aus Art. 5 Abs. 5 EMRK wegen eines zehn Jahre überschreitenden, gegen Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 EMRK verstoßenden Vollzugs einer erstmalig vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160) angeordneten Sicherungsverwahrung (EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04) richtet sich auch gegen die Bundesrepublik Deutschland. Diese haftet aufgrund ihrer konventionswidrigen Gesetzgebung für den ihr gemäß § 830 BGB zurechenbaren Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 5 Abs. 1 EMRK neben den diese Gesetzgebung vollziehenden Ländern gemäß § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldnerin. Eine Beschränkung der Haftung auf die das konventionsrechtswidrige Bundesrecht vollziehenden Länder lässt sich weder Art. 5 Abs. 5 EMRK noch Art. 34 Satz 1 GG entnehmen.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 3. Dezember 2013 dahin abgeändert, dass dem Antragsteller Prozesskostenhilfe für die von ihm beabsichtigte Klage in Höhe eines Betrages von 10.500 Euro nebst anteiliger Zinsen hinsichtlich seines angekündigten Klageantrags zu 1) und in Höhe von 851,80 Euro hinsichtlich seines Klageantrags zu 3) unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten Rechtsanwälte B... & H... aus D... zu den Bedingungen eines in B... ortsansässigen Rechtsanwalts bewilligt wird. Im Übrigen wird seine sofortige Beschwerde zurückgewiesen.

Die Gebühr aus Nr. 1812 GKG-KV wird auf die Hälfte ermäßigt.

Gründe

I. Die sofortige Beschwerde des Antragstellers ist gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere nach §§ 127 Abs. 2 Satz 3, 569 ZPO form- und fristgerecht eingelegt.

II. Die sofortige Beschwerde ist auch in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang begründet. Insoweit verspricht die von dem Antragsteller beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg, so dass ihm insoweit, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der von ihm beabsichtigten Rechtsverfolgung aufzubringen, gemäß den §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten für die von ihm beabsichtigte Klage zu gewähren war, wobei die Kostenübernahme für die Beiordnung seiner nicht im Kammergerichtsbezirk niedergelassenen Prozessbevollmächtigten gemäß § 121 Abs. 3 ZPO auf die Kosten ortsansässiger Prozessbevollmächtigter zu begrenzen war.

1. Dem Antragsteller steht wegen seiner Unterbringung in Sicherungsverwahrung, soweit sie zehn Jahre überschritten hat, ein Anspruch auf Geldentschädigung wegen seines immateriellen Schadens hieraus gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK zu. Insoweit verstieß der erst aufgrund der Gesetzesänderung der Antragsgegnerin von 1998 über zehn Jahre hinaus unbefristet zugelassene Vollzug einer, wie hier, bereits zuvor erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK (EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 - Beschwerde Nr. 19359/04). Dass Entschädigungsansprüche aus Art. 5 Abs. 5 EMRK wegen des immateriellen Schadens gegen die die Sicherungsverwahrung vollziehenden Länder begründet ist, ist durch die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 19. September 2013 (III ZR 405/12, III ZR 406/12, III ZR 407/12, III ZR 408/12) geklärt, wobei die Geldentschädigung mit 500 Euro je Monat in Anlehnung an die Entschädigungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für immaterielle Schäden nach Art. 41 EMRK angemessen bewertet ist (vgl. statt aller BGH, Urteil vom 19. September 2013 - III ZR 405/12 -, juris Rn. 10, 28). In dieser Höhe hat auch der Senat bereits wiederholt Geldentschädigungsansprüche wegen des zehn Jahre überschreitenden Vollzugs von erstmalig vor 1998 angeordneter Sicherungsverwahrung durch das Land B... für begründet gehalten (vgl. etwa Hinweis- und Berufungszurückweisungsbeschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO vom 27. Juni 2014 und 30. September 2014 in den Berufungsverfahren 9 U 51/13, 9 U 55/13 und 9 U 57/13), so dass die von dem Antragsteller beabsichtigte Klage in Höhe von 10.500 Euro, nämlich in Höhe von 500 Euro für die zehn Jahre überschreitenden 21 Monate seiner Sicherungsverwahrung, hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht. Nicht gesondert zu berücksichtigen ist insoweit eine etwaige - hier im Übrigen weder dargelegte noch sonst ersichtliche - Versteuerung der zugesprochenen Entschädigungssumme, von der der Antragsteller mit seinem beabsichtigten Klageantrag zu 2) freigestellt werden möchte. Soweit der Antragsteller des Weiteren mit dem beabsichtigten Klageantrag zu 3) einen Anspruch auf Freistellung von seinen vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend machen möchte, verspricht dies nur insoweit Aussicht auf Erfolg, als die Geltendmachung der Hauptforderung Aussicht auf Erfolg verspricht, also bei einem Streitwert von 10.500 Euro nur in Höhe von 851,80 Euro (1,3 Geschäftsgebühr: 683,80 Euro, zuzüglich Telekommunikationspauschale: 20 Euro, zuzüglich Auslagen: 12 Euro, zuzüglich 19% Umsatzsteuer: 136 Euro).

2. Entgegen der Ansicht des Landgerichts verspricht die von dem Antragsteller beabsichtigte Klage in dem vorstehend aufgezeigten und aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang auch gegen die Antragsgegnerin hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es kommt, wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 21. Dezember 2012 - 9 W 51/11 - entschieden hat, eine Haftung der Antragsgegnerin aus Art. 5 Abs. 5 EMRK neben dem die Sicherungsverwahrung vollziehenden Land gemäß § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner für die dem Antragsteller zugefügten immateriellen Schäden aus der zehn Jahre überschreitenden Sicherungsverwahrung in Betracht (ebenso der 6. Zivilsenat des Kammgerichts in seinem Beschluss vom 14. Februar 2013 - 6 W 91/11).

a) Anders als das Landgericht meint, ist der vorgenannte Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2012 nicht durch die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 19. September 2013 überholt. Allerdings meint der Bundesgerichtshof in diesen Urteilen, dass die Frage des nach Art. 5 Abs. 5 EMRK verpflichteten Hoheitsträgers (Bund, Land oder sonstige Gebietskörperschaft) nach Art. 34 GG zu klären sei (statt aller III ZR 405/12, juris Rn. 24). Geklärt und von dem Bundesgerichtshof entschieden ist, dass beim konventionswidrigen Vollzug der Sicherungsverwahrung Hoheitsgewalt der Länder durch ihre die Sicherungsverwahrung anordnenden Gerichte und die sie vollziehenden Justizvollzugsanstalten ausgeübt wurde (statt aller BGH, Urteil vom 19. September 2013 - III ZR 405/12 -, juris Rn. 25). Das entspricht Art. 34 Satz 1 GG, wonach die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft trifft, in deren Dienst ein Beamter steht, folgt aber schon unmittelbar aus Art. 5 Abs. 5 EMRK. Nicht geklärt und vom Bundesgerichtshof auch nicht entschieden ist, ob bei dem konventionswidrigen Vollzug der Sicherungsverwahrung auch die Hoheitsgewalt der Antragsgegnerin ausgeübt wurde. Eine solche Festlegung ergibt sich weder aus den Ausführungen des Bundesgerichtshofs in seinen Urteilen vom 19. September 2013 noch war die Frage überhaupt Gegenstand der entsprechenden Revisionsverfahren.

b) Die Frage ist zu bejahen. Durch die Anwendung von Bundesrecht, das mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar ist, wird im Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 5 EMRK auch durch der Antragsgegnerin zuzurechnende Hoheitsgewalt des Bundesgesetzgebers konventionswidrig in das Freiheitsrecht aus der Art. 5 Abs. 1 EMRK eingegriffen. Denn mit ihrer konventionswidrigen Gesetzgebung hat die Antragsgegnerin durch ihre an der Bundesgesetzgebung mitwirkenden Amtsträger die rechtlichen Voraussetzungen für die konventionswidrigen Eingriffe in die Menschenrechte des Antragstellers aus Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 EMRK geschaffen. Nicht nur die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch die Gerichte der Länder und ihr Vollzug durch die Justizvollzugsanstalten hat die Verletzung des Antragstellers in diesen Menschenrechten bewirkt, sondern ebenso die konventionswidrige Gesetzgebung der Antragsgegnerin, die diese Eingriffe im Hinblick auf die Gesetzesbindung von Gerichten und Behörden (Art. 20 Abs. 3 GG) erzwungen hat. Die Antragsgegnerin muss sich im Einklang mit § 830 BGB die konventionswidrige Sicherungsverwahrung des Antragstellers zurechnen lassen. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die B... D... in seiner vorgenannten Leitentscheidung vom 17. Dezember 2009 sowie einer Vielzahl von Folgeentscheidungen nicht etwa (nur) wegen einer Verletzung der Konvention durch Gerichte und Strafvollzugsbehörden verurteilt, sondern (in erster Linie) wegen einer Verletzung der Konvention durch die Gesetzgebung der Antragsgegnerin. Deswegen haftet die Antragsgegnerin nach Art. 5 Abs. 5 EMRK auch für den ihrer Gesetzgebung zurechenbaren rechtswidrigen Eingriff in das Freiheitsrecht des Antragstellers aus Art. 5 Abs. 1 EMRK.

c) Auch weitere Gesichtspunkte führen hier nicht dazu, eine Haftung der Antragsgegnerin zu verneinen.

aa) Ihrer Haftung steht insbesondere nicht entgegen, dass sie dann nach Art. 5 Abs. 5 EMRK für legislatives Unrecht haftet. Anders als bei der Amtshaftung nach § 839 BGB knüpft Art. 5 Abs. 5 EMRK die Haftung nicht an die Verletzung drittschützender Amtspflichten, woran es bei legislativen Eingriffen regelmäßig fehlt (vgl. Sprau in: Palandt, BGB, 74. Auflage 2015, § 839 BGB Rn. 49 m.w.N.), sondern für einen die Haftung aus Art. 5 Abs. 5 EMRK auslösende Haftung genügt jeder dem Hoheitsträger zurechenbare Eingriff in das Freiheitsrecht aus Art. 5 Abs. 1 EMRK. Art. 34 Satz 1 GG bestätigt in diesem Zusammenhang nur die sich schon unmittelbar aus Art. 5 Abs. 5 EMRK ergebende Rechtsfolge, dass nicht etwa die handelnden Amtsträger haften, sondern der Staat oder die Körperschaft, in dessen Aufgabenkreis sie handeln, vorliegend die Antragsgegnerin.

bb) Auch aus dem Umstand, dass das die Sicherungsverwahrung durch seine Gerichte und Behörden vollziehende Land nach Art. 5 Abs. 5 EMRK für die gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK verstoßende Sicherungsverwahrung haften, folgt nicht, dass kein anderer Hoheitsträger haften würde. Eine derartige Konzentration der Haftung nur bei dem das konventionsrechtswidrige Recht vollziehenden Land lässt sich entgegen möglicherweise anders lautender, aber nicht weiter begründeter Auffassungen in der Literatur weder Art. 5 Abs. 5 EMRK noch Art. 34 Satz 1 GG entnehmen. Vielmehr regelt Art. 34 Satz 1 GG im Rahmen der Haftungsverlagerung auf den Staat, welchem Hoheitsträger (Bund, Land oder sonstige Gebietskörperschaft) das Handeln eines Amtsträgers zuzurechnen ist. Handeln, wie vorliegend, Amtsträger verschiedener Hoheitsträger, haftet nach Art. 34 Satz 1 GG jeder Hoheitsträger für die seinen Amtsträgern zurechenbaren Rechtsverletzungen. Hierbei ist die Frage, ob einem für einen Hoheitsträger handelnden Amtsträger aufgrund einer hoheitlichen Tätigkeit die Verletzung von Rechten zuzurechnen ist, auch bei dem Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK nach den Regeln des allgemeinen Deliktsrecht (vgl. BGH, Urteil vom 31. Januar 1966 - III ZR 118/64 -, juris Tz. 35, 53) zu klären, nämlich nach § 830 BGB. Die konventionswidrige Gesetzgebung der Antragsgegnerin war zumindest eine nach § 830 Abs. 2 BGB der Täterschaft gleichstehende Beihilfehandlung zu dem Eingriff in die Menschenrechte des Antragstellers aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK bei dem zehn Jahre überschreitenden Vollzug der erstmalig angeordneten Sicherungsverwahrung.

Etwas anderes hat auch der Bundesgerichtshof in seinen vorgenannten Urteilen vom 19. September 2012 nicht entschieden. Insbesondere der von ihm dort in Bezug genommene Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 21. Oktober 2002 ist insoweit unergiebig, da das dort von dem Land vollzogene Haftrecht aus dem Ausländergesetz nicht konventionswidrig war und es im Übrigen im Hinblick auf Art. 34 GG maßgeblich um die dortige Rechtswegzuweisung zu den Zivilgerichten ging (OLG Hamm, Beschluss vom 21. Oktober 2002 - 15 W 313/02 -, juris Rn. 8). Soweit sich die Antragsgegnerin ferner auf einen als Anlage 4 vorgelegten Beschluss des Oberlandgerichts Nürnberg vom 28. Januar 2013 - 4 U 2298/12 - über Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren bezogen hat, enthält der Beschluss ohne weitere Begründung nur die von dem Senat nicht geteilte Auffassung, es folge aus der Zuständigkeit der Länder für den Vollzug der Bundesgesetze und dem Umstand, dass hierbei ihre Hoheitsgewalt ausgeübt werde, dass eine Haftung der Antragsgegnerin nicht in Betracht komme. Hierfür bezieht sich das Oberlandesgericht Nürnberg ebenso wie das Landgericht Dortmund in seinem von der Antragsgegnerin des Weiteren als Anlage 5 vorgelegten Beschluss vom 26. November 2012 - 25 O 163/12 - auf einen Beschluss des Landgerichts Berlins vom 13. September 2011 - 15 O 492/10 -, dessen Rechtsauffassung in den vorgenannten, eingehend begründeten Beschlüssen des Senats vom 21. Dezember 2012 - 9 W 51/11 - sowie des 6. Zivilsenats des Kammergerichts vom 14. Februar 2013 - 6 W 91/11 - in Parallelverfahren keinen Bestand hatte. Das von der Antragsgegnerin darüber hinaus für ihre Rechtsauffassung in Anspruch genommene Oberlandesgericht Karlsruhe hat sich demgegenüber in seinem von der Antragsgegnerin selbst als Anlage 6 vorgelegten Urteil vom 29. November 2012 - 12 U 60/12 - mit keinem Wort zur Passivlegitimation der Antragsgegnerin geäußert.

III. Die Gebühr aus Nr. 1812 KV-GKG war gemäß Satz 2 dieser Regelung nach billigem Ermessen auf die Hälfte zu ermäßigen, weil die sofortige Beschwerde des Antragstellers überwiegend erfolgreich war.