LG Aachen, Urteil vom 13.08.1997 - 4 O 315/96
Fundstelle
openJur 2015, 21909
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 10.000,00 DM, die auch in Form einer selbstschuldnerischen Bürgschaft einer deutschen Großbank oder Sparkasse erbracht werden kann, vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der am 5. Februar 1982 geborene Kläger nimmt die Beklagte wegen eines Unfalles, der sich am 24. Februar 1994 auf dem Gelände des Dürener Vorbahnhofs ereignete, auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch.

Die Beklagte ist Eigentümerin des Geländes des Dürener Vorbahnhofs und betreibt die dort verlaufenden Bahnlinien. Das Gelände bietet Kindern einen besonderen Anreiz zum Spielen.

Am Unfalltag spielte der damals 12jährige Kläger zusammen mit dem Zeugen



_, damals 13 Jahre alt, und dem Zeugen



, damals 7 Jahre alt, im Bereich der Gleisanlagen des Vorbahnhofsgeländes. Auf dem Gelände, auf dem sich neun Bahngleise, von denen acht Gleise mit einer starkstromführenden Oberleitung versehen sind, befinden, waren zum Unfallzeitpunkt Güterwaggons unterschiedlichen Typs abgestellt. Teilweise waren die Güterwaggons mit einer Leiter versehen. An diesen Waggons befand sich im Bereich des oberen Randes der Leiter ein Blitzfeil auf der Waggonwand. Die Waggons mit Leiter waren in der Weise konstruiert, daß zunächst einige Stufen bis auf eine Plattform und von dort aus dann weitere Stufen auf das Waggondach führten.

Die Kinder kletterten auf einen Güterwaggon im Bereich der Abstellgleise, wobei ungeklärt ist, ob es sich um einen Waggon mit oder ohne Leiter handelte, da der

Kläger sich an das Unfallgeschehen nicht mehr erinnern kann. Beim Spiel auf einem der Dächer der abgestellten Güterwaggons geriet der Kläger zu nahe an die Oberleitung und erlitt einen Stromschlag, aufgrund dessen er zunächst auf das Waggondach fiel und dann von dort auf den Boden stürzte.

Bei dem Unfall erlitt der Kläger eine dritt- und viertgradige Starkstromverletzung von insgesamt 18,5% der gesamten Körperoberfläche mit massivem Weichteil- und Muskelschaden. Der rechte Arm mußte im Bereich des Ellenbogens amputiert werden, ebenso der linke Unterschenkel sowie der rechte Fuß im Bereich des Mittelfußknochens. Ferner erlitt der Kläger eine beidseitige Linsentrübung, die eine Operation des grauen Stars mit Kunstlinsenimplantation erforderlich machte.

Mit Schreiben vom 02.11.1995 machten die Prozeßbevollmächtigten des Klägers gegenüber der Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld geltend. Die Beklagte zahlte daraufhin ohne Anerkennung einer Rechtspflicht 50 % des dem Kläger bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen materiellen Schadens, sofern sie ihn für berechtigt erachtete. Die Zahlung eines Schmerzensgeldes lehnte sie ab. Mit seiner Klage begehrt der Kläger vollen Ersatz der ihm bisher bereits entstandenen sowie zukünftig entstehenden materiellen Schäden, ferner Schmerzensgeld und eine monatliche Schmerzensgeldrente.

Der Kläger behauptet, die Gefahren, die von der Oberleiterleitung ausgingen, seien ihm nicht bewußt gewesen. Dies sei auch bei Kindern seines Alters normalerweise nicht der Fall. Ferner behauptet der Kläger, die von der Oberleitung ausgehenden Gefahren seien für ihn nicht erkennbar gewesen. Er hätte sich zu der Kletterpartie nicht hinreißen lassen, wenn ihm die Gefahren vorher bekannt gewesen oder durch geeignete Warnhinweise bewußt geworden wären. Ein etwaiges Blitzsymbol habe er nicht wahrgenommen.

Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte habe ihre Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt. Die Blitzsymbole bei den mit Leitern ausgestatteten Waggons auf der Waggonwand am oberen Ende der Leiter seien keine ausreichenden Warnsymbole, dadurch der Bezug zu der Gefährlichkeit der Oberleitung nicht unbedingt hergestellt sei. Selbst wenn der Warnungsinhalt in dieser Weise verstanden werde, beziehe er sich auf eine mögliche Berührung mit der Oberleitung, keinesfalls aber auf die Gefahren des die Leitung umgebenden elektrischen Feldes. Der Kläger ist ferner der Ansicht, ihn treffe an dem Unfall kein Mitverschulden.

Der Kläger beantragt,

1. Die Beklagte zu verurteilen, an ihm 10.687,20 DM nebst

jeweils 4% Zinsen aus 5.119,88 DM seit dem 01.03.1996

und aus 5.576,32 DM seit dem 20.06.1997 zu zahlen,

2. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, den

zukünftigen materiellen Schaden in voller Höhe zu erstatten,

3. die Beklagte zu verurteilen, an ihn für den Zeitraum

bis zu letzten mündlichen Verhandlung ein angemessenes

Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts

Gestellt wird, wenigstens jedoch 25.000,00 DM zu zahlen.

4. Festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, für die Zeit nach

der letzten mündlichen Verhandlung Schmerzensgeld zu zahlen,

5. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ab dem 24.02.1994 eine monat-

liche Schmerzensgeldrente in Höhe von mindestens 500,00 DM, die

zum Zwecke des Inflationsausgleichs und auch an die zukünftige Euro-

währung anzupassen ist, zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, der Kläger und die Zeugen



__ seien beim Spielen von Waggondach zu Waggondach gesprungen.

Darüber hinaus behauptet die Beklagte, dem Kläger habe bekannt sein müssen, daß Oberleitungen von Zügen und Straßenbahnen Starkstrom führen und das hiervon erhebliche Gefahren ausgehen.

Die Beklagte ist der Ansicht, selbst wenn dem Kläger die Gefahren einer Oberleitung nicht bekannt gewesen sein sollten, scheide eine Haftung ihrerseits für den Unfall des Klägers aufgrund überwiegenden Eigenverschuldens des Klägers durch das Springen von Waggondach zu Waggondach aus.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Prozeßbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen.

Die Kammer hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluß vom 18.03.1997 durch Vernehmung der Zeugen Alexander und Sascha Bröder sowie durch Inaugenscheinnahme des Unfallorts. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 09.07.1997 Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte keine Ansprüche aus dem Unfall auf dem Gelände des Dürener Vorbahnhofs vom 24.02.1994 aus §§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB bzw. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 Haftpflichtgesetz.

Dabei kann letztlich dahinstehen, ob die Beklagte im Hinblick auf eine bereits vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 14.03.1995 ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm gehalten war, über die Anbringung von Blitzpfeilen

hinaus weitergehende Sicherungsmaßnahmen zu treffen und ihr deshalb eine schuldhafte Verletzung einer ihr gegenüber dem Kläger obliegenden Verkehrssicherungspflicht zur Last fällt, wobei gegen eine Verkehrssicherungspflicht verletzung durch die Beklagte sprechen könnte, da? grundsätzlich eine ... ... Gefahren gewahrt werden muß, deren sich die Beklagte nicht bewußt ist.

In jedem Fall trifft dem Kläger ein derart gravierendes Mitverschulden gemäß §§ 254 Abs. 1 BGB, 4 Haftpflichtgesetzt, daß jegliche Haftung der Beklagten ausgeschlossen ist.

Die Kammer verkennt dabei nicht, daß die Anlage des Dürener Vorbahnhofs, auf der sich der Unfall des Klägers ereignete, einen besonderen Anreiz für spielende Kinder bietet und insbesondere mit Leitern versehene und deshalb besonders leicht zu besteigende Waggons Kinder dazu verlocken, auf sie hinaufzuklettern. Grundsätzlich sind deshalb besondere Maßnahmen erforderlich, um den Kindern die damit verbundenen Gefahren vor Augen zu führen, und sie von einem solchen Verhalten abzuhalten. Dies gilt auch in Fällen, in denen Kinder die Gefahrenstelle unbefugt betreten.

Die von der Beklagten zu vertretenden Gefahren ihrer Bahnbetriebsanlage mit den hochspannungsführenden Oberleitungen lassen sich jedoch nicht mit dem schuldhaft gesetzten Verursachungsbeitrag des Klägers gleichsetzen. Vielmehr stuft die Kammer das Mitverschulden der Kläger als so gewichtig ein, daß dahinter jegliche auf Verschulden oder bloßer Gefährdung beruhende Einstandspflicht der Beklagten zurücktritt. Bei der im Rahmen der §§ 254 Abs. 1 BGB, 4 Haftpflichtgesetz vorzunehmenden Abwägung der von den Parteiengesetzten Verursachungsbeiträge ist bezüglich des minderjährigen Klägers maßgeblich darauf abzustellen, ob er im Zeitpunkt des Unfalls nach seinen intellektuellen Fähigkeiten in der Lage war, die Gefährlichkeit seines Tuns zu erkennen und danach zu handeln.

Dies steht nachdem Ergebnis der Beweisaufnahme fest. Wie der Zeuge



__ glaubhaft bekundet und der Zeuge



__ bestätigt hat, hat sich der Kläger beim Zeugen Alexander Bröder erkundigt, ob in der Oberleitung

Strom sei. Der Zeuge Alexander Bröder hat diese Frage des Klägers bejaht. Damit steht fest, daß allen Beteiligten und damit auch dem Kläger bewußt war, daß die über den Waggons erlaufende Oberleitung Strom führte. Der Zeuge



_ hat weiter bekundet, es sei ihm bewußt gewesen, daß es aufgrund der stromführenden Oberleitung gefährlich gewesen sei, auf den Waggons herzumzulaufen. Er habe sich deshalb hingesetzt und sich nicht an dem Spiel der anderen beteiligt. Wenn aber dem zum Zeitpunkt des Unfalls 7jährigen und damit dem mit Abstand jüngsten der beteiligten Kinder, dem Zeugen



_ bekannt war, daß es aufgrund der stromführenden Oberleitung mit erheblichen Gefahren verbunden war, sich auf dem Waggondach aufzuhalten und dort herzumzulaufen, muß davon ausgegangen werden, daß dies auch für den 5 Jahre älteren Kläger gilt und auch er sich der Gefährlichkeit seines Verhaltens bewußt war. Die Gefährlichkeit seines Tuns wurde dem Kläger auch dadurch noch nachdrücklich vor Augen geführt, daß nach der Aussage des Zeugen Alexander Bröder der Abstand zwischen Oberleitung und Waggondächern so gering war, daß der Kläger und der Zeuge Alexander Bröder nicht aufrecht gehen konnten. Wenn der Kläger aber gleichwohl auf den Waggon kletterte und auf dem Dach herumlief, so stellt dies ein schwerwiegendes Fehlverhalten des Klägers dar.

Dies gilt umso mehr, als der Zeuge



__ der Aussage des Zeugen



_ zufolge, den Kläger aufgefordert hat, mit ihm wieder von dem Waggon herunterzuklettern. Der Kläger hätte also besondere Veranlassung gehabt, das Waggondach wieder zu verlassen, da nunmehr wie der Zeuge auch der zum Unfallzeitpunkt bereits 13jährige Zeuge



sein Unbehagen bezüglich des Aufenthalts auf dem Waggondach deutlich zum Ausdruck gebracht hatte.

Ist hiernach das Schulden des Klägers bereits als besonders schwerwiegend anzusehen, so ist letztlich ausschlaggebend jedoch, daß der Kläger sich nicht nur einfach auf dem Waggondach aufgehalten hat, sondern mit dem Zeugen



über drei oder vier Waggons gelaufen, auf den Waggons herumgesprungen ist und ein Wettrennen veranstaltet hat. Ein solches Verhalten ist aber auch bei Berücksichtigung des Atles des Klägers als besonders leichtfertig einzustufen, da bei einem Wettlauf von Waggon zu Waggon die besondere Gefahr eines Ausrutschens, Stolperns oder einer sonstigen unachtsamen Bewegung besteht, aufgrund derer der Kläger mit der stromführenden Oberleitung in Berührung kommen konnte oder einen Stromüberschlag erleiden konnte. Dies mußte sich auch dem Kläger gerade

aufdrängen, zumal der Abstand zwischen Waggondach und Oberleitung so gering war, daß der Kläger nur gebückt über die Waggondächer laufen konnte.

Unter diesen Umständen war das Verhaltend es Klägers in objektiver und auch in subjektiver Einsicht als leichtfertig und schlechthin unentschuldbar bezeichnet werden, so daß dahinter jegliche Einstandspflicht der Beklagten - sowohl unter dem Aspekt einer schuldhaften Verletzung der Verkehrssicherungspflicht als auch unter dem Aspekt der Gefährdungshaftung - zurücktritt.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz, 709 Abs. 1 ZPO.

Streitwert: 165.687,20 DM













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