BGH, Beschluss vom 20.04.2006 - 3 StR 284/05
Fundstelle
openJur 2011, 11297
  • Rkr:
Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts Berlin vom 18. März 2004 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

Ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

1. Die Rüge, die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens seien verletzt worden, weil die Vorsitzende in der Sitzungsverfügung Personen unter 16 Jahren den Zutritt versagt habe, ist unbegründet. Ist - wie hier - die Sicherheit im Gerichtsgebäude nicht ohne weiteres gewährleistet, dürfen im Rahmen einer Sicherheitsverfügung Maßnahmen, die den Zugang zu einer Gerichtsverhandlung regeln, getroffen werden, wenn für sie ein verständlicher Anlass besteht, wobei die Entscheidung hierüber im pflichtgemäßen Ermessen des die Sitzungspolizei ausübenden Vorsitzenden steht (BGHSt 27, 13 ff.).

Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass die Vorsitzende in Ziffer 2 dieser Verfügung Personen, die jünger als 16 Jahre sind, den Zugang generell versagt hat. Nach § 175 Abs. 1 GVG war sie befugt, unerwachsene Personen von der Teilnahme an der Hauptverhandlung auszuschließen. Dass sie diese Befugnis im Rahmen einer Sicherheitsverfügung pauschal in der Weise ausgeübt hat, dass damit junge Menschen, die mehr als zwei Jahre unter der Volljährigkeitsgrenze sind, allgemein erfasst wurden, zeigt keinen Rechtsfehler auf. In Anbetracht der erforderlichen umfangreichen und personalintensiven Eingangskontrollen, die Wachtmeistern und Polizeikräften übertragen werden mussten, kann jedenfalls für diese Altersgruppe, bei der eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Fehlen der Erwachsenenreife spricht, eine individuelle Prüfung dieser Reife durch das Gericht nicht gefordert werden. Die Entscheidung des Reichsgerichts in RGSt 47, 375 f. steht dem nicht entgegen, da ihr keine vergleichbare Situation, die eine Sicherheitsverfügung erforderlich machte, zugrunde lag. Im Übrigen betraf sie 17-jährige Zuschauer und hatte für diese das Erfordernis einer individuellen Prüfung mit spezifischen Argumenten für diese Altersgruppe begründet (Heiratsfähigkeit, Zulassung zum Militärdienst).

2. Die Rüge, das Kammergericht habe Aussetzungsanträge bis zur Herausgabe der vollständigen Gesprächsprotokolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit dem Zeugen M. zu Unrecht abgelehnt, ist unbegründet. Das Tatgericht war weder unter dem Gesichtspunkt der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), der Rücksichtnahme auf die Belange der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO), noch des fairen Verfahrens (Art. 6 MRK) verpflichtet, den Aussetzungsanträgen zu entsprechen; eine veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO war - entgegen der Auffassung der Revision - ohnehin nicht gegeben. Das Kammergericht hat in seinen Beschlüssen unter Orientierung an den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätzen die wesentlichen Belange - Wahrheitsermittlung einerseits, Verfahrensbeschleunigung andererseits - erkannt und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles gegeneinander abgewogen (BGH NStZ 1985, 466 ff.). Es hat dabei berücksichtigt, dass zwar bereits eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf Aufhebung der Sperrerklärung in erster Instanz vorgelegen hat, diese aber nicht rechtskräftig war und dass ihr im Übrigen nicht die Verpflichtung zur Herausgabe der ungeschwärzten Protokolle entnommen werden konnte. Angesichts einer Sachlage, die wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht um die völlige Sperrung eines Zeugen als Beweisperson - wie sonst häufig im Zusammenhang mit Entscheidungen nach § 96 StPO - geht, sondern dass hier der Zeuge M. persönlich für eine außergewöhnlich lange Befragung im Ermittlungsverfahren und ebenso im späteren Hauptverfahren zur Verfügung gestanden hat, durfte das Kammergericht den geschwärzten Passagen eine allenfalls geringe potentielle Beweisbedeutung beimessen. Denn die Befragung des Zeugen durch den Verfassungsschutz hat erst nach Abschluss eines wesentlichen Teils der Vernehmungen im Ermittlungsverfahren stattgefunden. Damit konnten aber die Aussageentwicklung zwischen Ermittlungsverfahren und der Hauptverhandlung nachverfolgt und etwaige Abweichungen - wie geschehen - näher beleuchtet werden. Unter diesen Umständen lag kein Sachverhalt vor, aufgrund dessen sich das Gericht zur weiteren Aufklärung gedrängt sehen musste. Damit war eine Aussetzung nicht nur nicht geboten, sie hätte vielmehr dem Gebot der rechtsstaatlich geforderten Beschleunigung des Strafverfahrens widersprochen (BVerfGE 63, 45, 68 f.).

3. Das Kammergericht hat den "Hilfsbeweisantrag" auf Verlesung sämtlicher 42 Protokolle über die Vernehmung des Zeugen M. durch die Ermittlungsbehörden im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Allerdings hätte dieser Antrag, wenn er als Beweisantrag zu qualifizieren wäre, nicht nach § 244 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 250 StPO abgelehnt werden dürfen, da § 250 StPO nur eine ersetzende, nicht aber eine ergänzende Verlesung von Vernehmungsprotokollen verbietet. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um einen Beweisantrag, da es an der Angabe bestimmter Beweistatsachen fehlt. Darunter sind konkrete, im Einzelnen bezeichnete Sachverhalte zu verstehen, die der Wahrnehmung unterliegen (vgl. Herdegen in KK 5. Aufl. § 244 Rdn. 45). Solche Sachverhalte sind nicht benannt. Vielmehr verfolgt der Antrag das erklärte Ziel, zu näher benannten Bewertungen der Qualität der Angaben des Zeugen zu gelangen. Dies wird in der Revisionsbegründung dahin zusammengefasst, dass damit zum einen die Widersprüchlichkeit der Angaben und zum anderen die Rolle des Zeugen als Ermittlungsgehilfe bewiesen werden sollte. Zu Recht hat sich das Tatgericht auch unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht nicht zur Verlesung der Protokolle verpflichtet gesehen.

4. Mit der auf § 253 Abs. 2 StPO gestützten Rüge, das Kammergericht habe es zu Unrecht abgelehnt, bestimmte Passagen der Protokolle über die Vernehmung des Zeugen M. im Ermittlungsverfahren zum Beweis von Widersprüchen zu verlesen, macht die Revision in der Sache eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) oder eine rechtsfehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrags (§ 244 Abs. 3 StPO) geltend; ein Verstoß gegen § 253 Abs. 2 StPO kommt nur in Betracht, wenn Protokolle verlesen worden sind (was hier gerade nicht geschehen ist), obwohl die Voraussetzungen der Vorschrift nicht vorliegen.

Die Rüge ist unbegründet. Die Verlesung von Protokollen in Anwendung von § 253 Abs. 2 StPO - wie sie die Revision hier für geboten erachtet - ist nur zulässig, wenn ein Zeuge bestreitet, so wie protokolliert, ausgesagt zu haben. Die dann an sich gebotene Vernehmung der Verhörsperson kann bei Vorliegen der Voraussetzungen durch die Verlesung nach § 253 Abs. 2 StPO ersetzt werden (BGH NStZ 2002, 46 f.).

Gegenstand einer Beweisaufnahme kann in solchen Fällen aber nur sein, ob der Zeuge im Ermittlungsverfahren anders ausgesagt hat als in der Hauptverhandlung, was gegebenenfalls durch die Verlesung des Protokolls bewiesen wird. Räumt der Zeuge indes - etwa nach Vorhalt - ein, so wie protokolliert ausgesagt zu haben, ist diese Tatsache bewiesen und bedarf keines weiteren Beweises mehr. So liegt es hier. Der Zeuge M. hat erklärt, dass alle von ihm unterzeichneten Protokolle richtig gefasst sind. Damit war eine weitere Beweisaufnahme nicht mehr geboten. Dagegen kann die Frage, ob zwischen der zutreffend protokollierten Aussage des Zeugen im Ermittlungsverfahren und der in der Hauptverhandlung tatsächlich ein Widerspruch besteht, nicht durch eine Tatsachenfeststellung im Wege der Beweisaufnahme, sondern nur durch die beweiswürdigende Bewertung beider Aussagen geklärt werden.

5. Auch mit der sachlichrechtlichen Beanstandung, die Voraussetzungen einer tätigen Reue nach § 129 a Abs. 7 i. V. m. § 129 Abs. 6 StGB seien zu Unrecht verneint worden, kann die Revision keinen Erfolg haben. Nach den zum Ende der Vereinigung getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte B. zusammen mit jedenfalls den weiteren Mitgliedern H. und G. der terroristischen Vereinigung bis zumindest März 1995 angehört. Zu welchem Zeitpunkt danach und unter welchen Umständen die Vereinigung beendigt worden ist, konnte dagegen nicht festgestellt werden. Ebenso wenig konnte geklärt werden, ob - und gegebenenfalls unter welchen Umständen - der Angeklagte B. schon vorher ausgeschieden war.

a) Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Kammergericht die Voraussetzungen einer tätigen Reue ohne Rechtsfehler verneint. Die Vorschrift des § 129 Abs. 6 StGB setzt insoweit voraus, dass der Täter freiwillige und ernsthafte Bemühungen entfaltet, die darauf gerichtet sind, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern. Aus Wortlaut und Sinn der Vorschrift folgt dabei zum einen, dass vor Beginn der Bemühungen die Vereinigung als solche noch bestanden hat, also ihre Zwecke oder Tätigkeiten nach wie vor darauf gerichtet waren, Straftaten im Sinne der §§ 129, 129 a StGB zu begehen; zum anderen ist Voraussetzung, dass nach der Vorstellung des Täters ohne sein Eingreifen die Vereinigung fortbestehen würde, er aber durch sein Bemühen das Fortbestehen verhindern will.

b) Eine solche Tätigkeit hat das Kammergericht bei keinem der Angeklagten feststellen können, es musste sie auch nicht nach dem Zweifelssatz zu ihren Gunsten unterstellen. Für entlastende Angaben eines Angeklagten gilt der Grundsatz, dass der Tatrichter sich eine Überzeugung von deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit aufgrund des gesamten Ergebnisses der Beweisaufnahme zu bilden hat. Er darf solche Angaben, für deren Richtigkeit keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen und deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen und seiner Entscheidung zugrunde legen, nur weil es für das Gegenteil keine unmittelbaren Beweise gibt (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StPO § 261 Einlassung 6 und Überzeugungsbildung 29; BGH NStZ 2002, 48). Für die bloße Unterstellung entlastender Sachverhaltsgestaltungen bei schweigenden Angeklagten gilt dies erst recht.

Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass entsprechende Verhinderungsbemühungen eines oder mehrerer der Beteiligten stattgefunden hatten, ergeben sich entgegen der Auffassung der Revision nicht allein daraus, dass die Vereinigung ihre Tätigkeit - irgendwann nach dem März 1995 - eingestellt hat. Denn es sind mehrere Sachverhaltsgestaltungen denkbar und sogar nahe liegend, die zu einer Beendigung auf andere Weise geführt haben: Möglich erscheint es etwa, dass eines oder mehrere der verbliebenen Mitglieder ihre Mitarbeit einseitig aufgegeben haben, weil sie - wie zuvor die früheren Mitglieder S. und E. - ein Weitermachen für sinnlos erachtet haben oder wie M. aus sonstigen Gründen ausgeschieden sind, ohne dass sie sich bemüht haben, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern. Auch könnte zwischen den Restmitgliedern ein unüberbrückbarer Streit über die weitere Strategie entstanden sein, der zur Beendigung der Vereinigung geführt hat.

c) Schließlich hat das Kammergericht die Voraussetzungen einer tätigen Reue zutreffend auch für den Fall verneint, dass die verbliebenen Mitglieder einvernehmlich zum Ergebnis gekommen sind, dass sich ihre Ziele nicht erreichen lassen und ein Weitermachen somit sinnlos geworden ist. Ein solches Scheitern steht der Annahme von Freiwilligkeit entgegen; es kann auch nicht davon die Rede sein, dass ein sonst zu erwartendes Fortbestehen verhindert worden wäre. Insoweit liegen die Umstände anders als in dem von der Verteidigung herangezogenen Fall des "Autonomen Zusammenschlusz Magdeburg (AZ-MD)", bei dem ein Teil der Mitglieder einen Auflösungsbeschluss initiiertund dabei erwartet hatte, dass die Mitglieder, die an sich weitermachen wollten, das Ergebnis eines solchen Beschlusses akzeptieren würden (vgl. OLG Naumburg, Urt. vom 21. Oktober 2003 - 2 StE 8/03-2(1/03)).

Tolksdorf Winkler Pfister von Lienen Hubert