BGH, Beschluss vom 05.05.2015 - XI ZR 326/14
Fundstelle
openJur 2015, 10153
  • Rkr:
Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger wird das Urteil des 24. Zivilsenats in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 13. Juni 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an den 17. Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren beträgt bis zu 80.000 €.

Gründe

I.

Die Kläger verlangen von der beklagten Sparkasse im Wege des Schadensersatzes wegen fehlerhafter Anlageberatung die Rückabwicklung des Erwerbs einer Lehman-Stufenzinsanleihe.

Der Kläger zu 1) zeichnete bei der Beklagten auf vorherige Empfehlung seiner Eltern, die die streitgegenständliche Anleihe kurz zuvor ebenfalls gezeichnet hatten, am 1. April 2008 für 60.000 € für sich und für weitere 50.000 € für seine damals einjährige Tochter, die Klägerin zu 2), die von der Lehman Brothers Treasury Co. B.V. emittierte Stufenzinsanleihe Spezial ... . Der Anlagebetrag stand ihm u.a. aus zuvor fällig gewordenen Anleihen der ...- Bank und der Beklagten zur Verfügung. Bei der streitgegenständlichen Anleihe handelte es sich um eine festverzinsliche Anleihe mit einer Laufzeit von mindestens einem und maximal sechs Jahren und mit einem anfänglichen Zinssatz von 4,5% p.a., der sich jährlich um jeweils 0,2%-Punkte erhöhen sollte, d.h. bis zum Jahr 2014 auf 5,5% p.a. Die Emittentin hatte das Recht, die Anleihe zu jedem Zinstermin zu kündigen und zum Nominalbetrag zurückzuzahlen. Im Rahmen des ca. 10- bis 15-minütigen Gesprächs mit der Mitarbeiterin der Beklagten, der Zeugin K. , wurde dem Kläger zu 1) als Anlagealternative auch ein Sparbrief der Beklagten und eine Inhaberschuldverschreibung angeboten, was der Kläger zu 1) jedoch ablehnte. Bei dem Gespräch lag die Produktbeschreibung vor, die der Kläger allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgehändigt erhielt. Der weitere Inhalt des Gesprächs ist zwischen den Parteien streitig. An einem der folgenden Tage eröffnete der Kläger zu 1) namens der Klägerin zu 2) ein Wertpapierdepot.

Im September 2008 ging die Muttergesellschaft der Emittentin in Insolvenz, was auch deren Insolvenz nach sich zog. Aus der Insolvenzmasse erhielten die Kläger zu 1) und 2) mehrere Zahlungen, die sie sich auf die Klageforderung anrechnen lassen.

Mit der Klage verlangen die Kläger - unter Berücksichtigung der Ausschüttungen - die Zahlung von 60.000 € bzw. 50.000 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung der erworbenen Lehman-Anleihe sowie die Zahlung außergerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 1.393,37 € nebst Zinsen. Sie behaupten, von der Beklagten fehlerhaft beraten worden zu sein. Insbesondere sei der Kläger zu 1) nicht ausreichend über das Emittentenrisiko bzw. das Totalverlustrisiko aufgeklärt worden. Auch habe die Beklagte weder Risikoprofile noch Anlageziele der Kläger erfragt.

Das Landgericht hat der Klage nach Anhörung des Klägers zu 1) und Vernehmung der Mitarbeiterin der Beklagten, Frau K. , und des Vaters des Klägers zu 1) als Zeugen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:

Nach dem Ergebnis der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass der Kläger zu 1) durch seine Eltern zu der streitgegenständlichen Anlage dergestalt motiviert worden sei, dass eine klassische Beratungssituation seitens der Bank nicht vorgelegen habe. Ihm seien zwar bei der Beklagten sogar noch zwei alternative Finanzprodukte, darunter ein sicherer Sparbrief, angeboten worden. Der Kläger zu 1) habe sich aber für die Anlage entschieden, die schon seine Eltern getätigt hätten. Die Beraterin K. habe ihn über das Emittentenrisiko aufgeklärt. Über das Risiko eines Verlustes an sich sei eine Aufklärung nicht erforderlich gewesen, weil dieses allen Anlagen immanent sei. Im Übrigen habe sich der Kläger zu 1) sehenden Auges bewusst gegen den Sparbrief und für die Lehman-Anleihe entschieden. Ein besonderes Emittentenrisiko habe im April 2008 nicht bestanden. Über den fehlenden Einlagensicherungsfonds und die Gewinnmarge der Beklagten habe nicht aufgeklärt werden müssen. Der "Verlustempfindlichkeit" der Klägerin zu 2) komme im Hinblick auf die objektive Geeignetheit der Anlage keine besondere Bedeutung zu. Die Anlage sei nach der damaligen Kenntnis aller beteiligten Verkehrskreise als sicher einzustufen; im Übrigen habe der Kläger zu 1) keinen belastbaren Vortrag dahingehend gehalten, es sei etwa auf eine Verfügbarkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt als "Ausbildungsvorsorge" angekommen. Soweit das Landgericht ausgeführt habe, der Kläger zu 1) habe "den Umfang und die Gestaltung der Anlage erkennbar nicht verstanden", müsse sich der Kläger zu 1) fragen lassen, warum er bei dieser Sachlage den gleichfalls offerierten Sparbrief verschmäht und stattdessen die Lehman-Anleihe gewählt bzw. nicht nachgefragt habe, um etwaige Unklarheiten auszuräumen.

Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger.

II.

Die Revision ist nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, da das angegriffene Urteil den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 11. Mai 2004 - XI ZB 39/03, BGHZ 159, 135, 139 f., vom 9. Februar 2010 - XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516 und vom 11. September 2012 - XI ZR 476/11, juris Rn. 7). Aus demselben Grunde sind das angefochtene Urteil gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat von der auch und gerade im Anwendungsbereich des § 544 Abs. 7 ZPO bestehenden Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.

1. Rechtsfehlerfrei ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass zwischen den Parteien stillschweigend ein Beratungsvertrag zustande gekommen ist, aufgrund dessen die Beklagte verpflichtet war, die Kläger über das allgemeine Emittentenrisiko der empfohlenen Anleihe aufzuklären (vgl. nur Senatsurteile vom 27. September 2011 - XI ZR 182/10, BGHZ 191, 119 Rn. 26 und XI ZR 178/10, WM 2011, 2261 Rn. 27). Ob die Beklagte - wie die Nichtzulassungsbeschwerde geltend macht - daneben auch ihre Pflicht zur weiteren Erforschung der Anlageziele der Kläger verletzt hat, kann dahinstehen, weil die Kläger darauf keine weitergehende Pflichtverletzung der Beklagten stützen. Im Hinblick darauf, dass der Kläger zu 1) mit dem Wunsch nach einer Zeichnung der streitgegenständlichen Anleihe an die Beklagte herantrat und die Anlagegelder zum Großteil aus fällig gewordenen Anleihen der ...Bank und der Beklagten stammten, war ersichtlich, dass der Kläger zu 1) erneut eine festverzinsliche Anleihe zeichnen wollte. Dass die Beklagte dies erkannte, ergibt sich daraus, dass sie dem Kläger zu 1) bei dem Beratungsgespräch als Anlagealternative einen Sparbrief und eine Inhaberschuldverschreibung vorschlug. Im Kern betrifft damit der Vorwurf des Klägers zu 1) die von ihm behauptete fehlende Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko.

2. Das Berufungsgericht hat jedoch den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil es zur Beantwortung der Frage, ob die Beklagte den Kläger zu 1) über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt hat, die erstinstanzlich vernommene Zeugin K. entgegen § 529 Abs. 1 Nr. 1, § 398 Abs. 1 ZPO nicht erneut vernommen hat, obwohl es deren Aussage anders gewürdigt hat als das Landgericht.

a) Das Berufungsgericht ist nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des Gerichts des ersten Rechtszuges gebunden. Bestehen Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil, ist in aller Regel eine erneute Beweisaufnahme geboten (vgl. BVerfG, NJW 2005, 1487, NJW 2011, 49 Rn. 14; BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5, vom 9. Februar 2010 - XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516 und vom 21. März 2012 - XII ZR 18/11, NJW-RR 2012, 704 Rn. 6). Das Berufungsgericht ist in einem solchen Fall nach § 398 ZPO verpflichtet, in erster Instanz vernommene Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es deren protokollierte Aussagen anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (BVerfG, NJW 2011, 49 Rn. 14; BGH, Urteil vom 22. Mai 2002 - VIII ZR 337/00, NJW-RR 2002, 1500; Senatsbeschluss vom 1. April 2014 - XI ZR 171/12, BKR 2014, 295 Rn. 18). Unterlässt es dies und wendet damit § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO fehlerhaft an, ist die dadurch benachteiligte Partei in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (BVerfG, NJW 2005, 1487; BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2010 - XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516 und vom 21. März 2012 - XII ZR 18/11, NJW-RR 2012, 704 Rn. 6).

Die erneute Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht lediglich auf Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (BGH, Urteile vom 19. Juni 1991 - VIII ZR 116/90, WM 1991, 1896, 1897 f. und vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223; Senatsbeschlüsse vom 9. Februar 2010 - XI ZR 140/09, BKR 2010, 515, 516 und vom 1. April 2014 - XI ZR 171/12, BKR 2014, 295 Rn. 19).

b) Nach diesen Maßgaben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt.

aa) Das Landgericht hat aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme festgestellt, dass die Beklagte den Kläger zu 1) nicht hinreichend über das Risiko des Totalverlustes aufgeklärt hat. Wie sich aus den Ausführungen in dem landgerichtlichen Urteil und der auszugsweisen Wiedergabe des Senatsurteils vom 27. September 2011 (XI ZR 178/10, WM 2011, 2261 Rn. 27) ergibt, hat das Landgericht damit das allgemeine Emittentenrisiko gemeint. Das Landgericht hat seine Beweiswürdigung eingehend damit begründet, dass die Zeugin K. eine Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko zunächst zwar - wenn auch nur - pauschal bejaht habe, gleichzeitig will sie das Thema Insolvenz aber nicht angesprochen haben und hat etwaige Risiken auch nicht in der vor dem Landgericht simulierten "Beratung" erwähnt. Aufgrund dessen hat das Landgericht der Zeugin nicht geglaubt, über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt zu haben. Vielmehr war es aufgrund der übrigen Angaben der Zeugin und der Anhörung des Klägers zu 1) vom Gegenteil überzeugt.

Das Berufungsgericht hat die Beweisaufnahme ohne nachvollziehbare Begründung abweichend vom Landgericht gewürdigt, ohne sich durch erneute Vernehmung der Zeugin und Anhörung des Klägers zu 1) einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Im Gegensatz zum Landgericht hat es auf Grundlage der Zeugenaussage eine Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko bejaht. Dies konnte es aber nur annehmen, wenn es - anders als das Landgericht - die Aussage der Zeugin auch in diesem Punkt als glaubhaft erachtete und zugleich die Angaben des Klägers zu 1) bei seiner Anhörung vor dem Landgericht für unglaubhaft hielt.

bb) Diese abweichende Würdigung der Zeugenaussage durch das Rechtsmittelgericht war nicht ausnahmsweise ohne erneute Vernehmung zulässig, weil weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe der Zeugin noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit ihrer Aussage von Bedeutung gewesen wären. Insbesondere konnte sich das Berufungsgericht bei seiner abweichenden Würdigung nicht ausschließlich auf den protokollierten Inhalt der Beweisaufnahme stützen, weil es dem Landgericht bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage in dem für das Berufungsgericht maßgeblichen Punkt nicht gefolgt ist. Für das Landgericht war entscheidend, dass die Zeugin "sicher bestätigt (habe), das Thema Insolvenz nicht angesprochen zu haben", und auch "in der simulierten 'Beratung' etwaige Risiken überhaupt nicht erwähnt" habe. Aufgrund dessen und aufgrund der vom Kläger zu 1) im Rahmen seiner Anhörung gemachten Angaben hat das Landgericht die Aussage der Zeugin insoweit als glaubhaft angesehen, während es ihr nicht geglaubt hat, über das allgemeine Emittentenrisiko aufgeklärt zu haben. Danach war es dem Berufungsgericht verwehrt, ohne erneute Vernehmung von der Verlässlichkeit der Aussage der Zeugin auch in diesem Punkt auszugehen.

3. Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugin erneut vernommen und gegebenenfalls den Kläger zu 1) erneut angehört hätte.

III.

Das angefochtene Urteil war danach gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Das Berufungsgericht wird den oben genannten Beweis zu erheben und zu würdigen haben. Gegebenenfalls wird es auch den Kläger zu 1) erneut anzuhören haben.

Ellenberger Grüneberg Maihold Menges Derstadt Vorinstanzen:

LG Darmstadt, Entscheidung vom 28.08.2012 - 23 O 138/10 -

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