AG Wiesbaden, Urteil vom 29.01.2013 - 91 C 3117/11
Fundstelle
openJur 2015, 7746
  • Rkr:

1. Weiß ein Versicherungsnehmer aufgrund einer bestehenden Grunderkrankung um eine anstehende Operation einer Risikoperson, liegt eine unerwartete schwere Erkrankung beziehungsweise eine unerwartete Verschlechterung einer bestehenden Erkrankung vor, wenn es zu einer schweren postoperativen Komplikation kommt.

2. Der Begriff "unerwartet" ist subjektiv auszulegen und bedeutet mangelnde Voraussehbarkeit für den nicht mit medizinischen Spezialkenntnissen ausgerüsteten, durchschnittlichen Versicherungsnehmer im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Es kommt demnach nicht darauf an, ob objektiv, d. h. aus der Sicht eines fachkundigen Arztes, mit der Erkrankung zu rechnen war. Maßgebend ist vielmehr, ob für den Versicherungsnehmer eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Erkrankung sprach.

Tenor

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.955,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.11.2010 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Reiserücktrittsversicherungsvertrag.

Am 28.05.2010 buchte der Kläger im Reisebüro A in W. für sich und seine Ehefrau eine Reise nach K. und B. im Wert von 2.774,20 €. Im Zuge dieser Buchung schloss der Kläger bei der Beklagten eine Reiserücktrittskostenversicherung inklusive einer Reiseabbruchsversicherung ab; auf die Besonderen Bestimmungen des Vertrages (Bl. 14 d. A.) wird Bezug genommen. Sowohl die Versicherungsprämie als auch eine Anzahlung auf den Reisepreis in Höhe von 1.955,30 € bezahlte der Kläger. Die Reise über einen Zeitraum von 3 Wochen sollte am 17.10.2010 angetreten werden.

Am 03.09.2010 musste sich der Kläger im Universitätsklinikum D. einer stationären Hornhauttransplantation am linken Auge unterziehen. Es handelte sich hierbei bereits um die zweite Transplantation am selben Auge. Die erste war im Jahr 2006 aufgrund von Komplikationen bei einer Operation wegen eines „grünen Stars“ durchgeführt worden, und seitdem hatte sich der Zustand der Hornhaut des Klägers allmählich verschlechtert, weshalb die zweite Operation nötig geworden war.

Da es bei der streitgegenständlichen Hornhauttransplantation am 03.09.2010 zu Komplikationen kam – es zeigte sich ein erhöhtes Abstoßungsrisiko –, wurde dem Kläger seitens des Universitätsklinikums D. zur Nachbehandlung das immunsuppressive Medikament „Cell Cept“ verschrieben.

Sowohl vor als auch nach der Operation wurde der Kläger im Augenzentrum W von dem Zeugen Dr. med. L behandelt. Dieser hatte den Kläger auch zur Transplantation an das Universitätsklinikum D. überwiesen, betreute die Nachbehandlung sowie die komplette sonstige augenärztliche Behandlung des Klägers. Zur Nachbehandlung musste der Kläger für die ersten vier Wochen einmal wöchentlich ins Augenzentrum Wiesbaden zur Blutentnahme, um Blutbild-, Leber- und Nierenwertkontrollen durchführen zu lassen. Der Zeuge Dr. L stellte am 14.09.2010 die ärztliche Bescheinigung zur Vorlage bei der Beklagten aus, in welcher er ausführte, dass zum ersten Behandlungstermin am 02.09.2010 noch sicher mit dem planmäßigen Antritt der Reise gerechnet werden konnte, dies jedoch am 09.09.2010 nicht mehr der Fall gewesen sei. Auf die ärztliche Bescheinigung vom 14.09.2010 wird Bezug genommen (Bl. 12 d. A.).

Am 11.09.2010 stornierte der Kläger die Reise und meldete mit Schreiben vom 12.09.2010 Ansprüche bei der Beklagten in Höhe von 1.955,30 € über das Versicherungsbüro M. in D. an; diese wurden jedoch mit Schreiben vom 17.11.2010 durch die Beklagte abgelehnt mit der Begründung, die Erkrankung sei nicht unerwartet gewesen.

Der Kläger behauptet, es läge eine unerwartete schwere Erkrankung im Sinne des § 1 i.V.m. § 2 Nr. 1a) des zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrags vor. Daher habe die Beklagte die angefallenen Stornokosten zu tragen. Der Kläger ist der Ansicht, dass ein subjektiver Maßstab bei der Frage anzulegen sei, wann eine schwere unerwartete Krankheit vorliege. Das Auftreten des erhöhten Abstoßungsrisikos während der Transplantation und die hieraus resultierende Verordnung des Immunsuppressivums „Cell Cept“ inklusive der hiermit verbundenen Nebenwirkungen seien für ihn nicht vorhersehbar gewesen, zumal – so behauptet er – bei der ersten Hornhauttransplantation des Klägers im Jahre 2006 kein erhöhtes Abstoßungsrisiko aufgetreten sei.

Der Kläger behauptet des Weiteren, dass durch die Einnahme von „Cell Cept“ – über den Monat Oktober 2010 hinaus – die Abwehrlage des Klägers reduziert gewesen sei, weshalb es aus medizinischer Sicht in den Monaten Oktober/November unbedingt notwendig gewesen sei, Menschenansammlungen zu meiden und keine Reise mit einem ungewissen Hygienestandard wie in Land1 oder Land2 vorzunehmen. Der Kläger hätte beim Antreten einer Flug-/Schiffsreise eine Gefährdung der allgemeinen Gesundheit wie auch beispielsweise die Gefahr einer gefährlich verlaufenden Lungenentzündung riskiert.

Der Kläger behauptet schließlich, er habe durch die Verweigerung der Deckung des behaupteten Anspruchs durch die Beklagte einen Verzugsschaden in Höhe von 229,55 € für vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten erlitten.

Der Kläger beantragt,

1.die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.955,30 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.11.2010 zu zahlen,2.die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 229,55 € zu zahlen.Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte behauptet, eine schwere unerwartete Erkrankung und somit ein Versicherungsfall im Sinne des Versicherungsvertrages seien nicht gegeben. Weder die Grunderkrankung, die bereits im Jahre 2006 zur Transplantation geführt hatte, sei unerwartet gewesen, noch die mit einer derartigen Operation verbundenen Risiken in Form einer Abstoßung des Spenderorgans. Da die Operation bereits sechs Wochen vor Reiseantritt durchgeführt worden sei, sei es dem Kläger zumutbar gewesen, die über einen Zeitraum von vier Wochen andauernden, wöchentlichen Nachkontrollen sowie die daran anschließenden monatlichen Kontrolluntersuchungen wahrzunehmen und dennoch die Reise anzutreten. Die Beklagte bestreitet die medizinische Richtigkeit des klägerischen Vortrags zu den Folgen der Einnahme des Medikamentes „Cell Cept“ und behauptet, dass es dem Kläger zumutbar gewesen sei, die Reise am 17.10.2010 anzutreten.

Ein Verzugsschadensersatz in Form der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren sei mangels Verzugs der Beklagten vor dem ersten Tätigwerden des klägerischen Prozessbevollmächtigten unabhängig von der Hauptforderung nicht gegeben.

Das Gericht hat gemäß Beschluss vom 17.10.2011 (Bl. 78 f. d. A.) Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen Dr. med. L. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 29.11.2011 (Bl. 98 ff. d. A.) Bezug genommen. Sodann hat das Gericht weiter Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 10.01.2012 (Bl. 113 f. d. A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen der Feststellungen der Sachverständigen B wird auf deren schriftliches Gutachten vom 31.07.2012 (Bl. 159 ff. d. A.) Bezug genommen sowie im Hinblick auf die Ausführungen des Sachverständigen B in der mündlichen Verhandlung vom 18.12.2012 zur Erläuterung des Gutachtens auf die Sitzungsniederschrift vom gleichen Tage (Bl. 205 ff. d. A.).

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die von den Parteien wechselseitig zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und zum überwiegenden Teil begründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Erstattung der Anzahlung auf den Reisepreis in Höhe von 1.955,30 € aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Reiserücktrittsversicherungsvertrag zu.

Nach § 1a) i.V.m. § 2 Nr. 1a) des Versicherungsvertrages erstattet der Versicherer vertraglich geschuldete Stornokosten, wenn die planmäßige Durchführung der Reise nicht zumutbar ist, weil die versicherte Person selbst oder eine Risikoperson während der Dauer des Versicherungsschutzes von einer unerwarteten schweren Krankheit betroffen ist.

Eine schwere unerwartete Krankheit im Sinne der Versicherungsbedingungen lag zum Zeitpunkt des Reiseantritts vor. Eine Krankheit ist ein anomaler körperlicher oder geistiger Zustand, der eine nicht ganz unerhebliche Störung körperlicher oder geistiger Funktionen mit sich bringt (vgl. BGH NJW 2005, 3783). Der Begriff der Krankheit ist objektiv zu bestimmen, es kommt nicht darauf an, ob sich die versicherte Person krank oder gesund fühlt. (vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 192, Rn. 21). Bei einer bereits bestehenden Grunderkrankung ist einer unerwartete Erkrankung dann gegeben, wenn diese bereits bestehende Krankheit sich unerwartet verschlechtert (vgl. AG D., Urteil vom 20.04.2001, Az. 43 C 676/01). Wenn aufgrund der Grunderkrankung der Versicherungsnehmer um eine anstehende Operation einer Risikoperson weiß, liegt eine unerwartet schwere Erkrankung beziehungsweise eine unerwartete Verschlechterung einer bestehenden Erkrankung vor, wenn es zu einer schweren postoperativen Komplikation kommt (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 17.09.2009, Az. 12 U 155/09). Der Begriff „unerwartet” ist dabei stets subjektiv auszulegen und bedeutet mangelnde Voraussehbarkeit im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses (vgl. LG Berlin, Urteil vom 04.06.2002, Az. 7 S 63/01; OLG Karlsruhe, Urteil vom 17.09.2009, Az. 12 U 155/09). Die Erkrankung oder Verschlechterung der bestehenden Krankheit ist für den Versicherungsnehmer vorhersehbar, wenn aufgrund der ihm bekannten Tatsachen eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Krankheit sprach, wobei auf die Sicht eines nicht mit medizinischen Spezialkenntnissen ausgerüsteten, durchschnittlichen Versicherungsnehmers abzustellen ist (vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 1 ABRV, Rn. 14). Es kommt mithin gerade nicht darauf an, ob objektiv, d. h. aus der Sicht eines fachkundigen Arztes, mit der Erkrankung zu rechnen war. Maßgebend ist daher, ob für den Versicherungsnehmer eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer entsprechenden Komplikation sprach; dass Komplikationen grundsätzlich nach jeder Operation auftreten können, macht diese nicht zu erwarteten.

Vorliegend ist hinsichtlich der Art der Erkrankung weder auf die Grunderkrankung in Form des erhöhten Augeninnendrucks in Verbindung mit dem Bluthochdruck noch auf die Transplantation selbst abzustellen, sondern allein auf die anlässlich der Hornhauttransplantation vom 03.09.2010, aufgrund der Einnahme des immunsuppressiven Medikaments „Cell Cept“, deutlich herabgesetzte Immunabwehrlage des Klägers zur Vermeidung eines erhöhten Abstoßungsrisikos der transplantierten zweiten Hornhaut.

Im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses im Mai 2010 war für den Kläger nicht vorhersehbar, dass er wegen einer herabgesetzten Immunabwehrlage die Reise im Oktober 2010 wahrscheinlich nicht antreten könne.

Nach Ansicht des Gerichts war bereits die Erforderlichkeit der erneuten Transplantation überhaupt zu diesem Zeitpunkt unsicher. Der Zeuge Dr. L hat in seiner uneidlichen Vernehmung bekundet, dass es nach der ersten Hornhauttransplantation im Jahr 2006 zu einem schleichenden Prozess gekommen sei, der eine neue Transplantation erforderlich gemacht habe. Anfang des Jahres 2010 sei die Notwendigkeit einer erneuten Hornhauttransplantation noch unsicher gewesen. Der Kläger sei am 17.08.2010 auf die Warteliste zur Transplantation gesetzt worden, weshalb er – der Zeuge – davon ausgehe, dass in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang hierzu die Entscheidung zur Durchführung der Transplantation getroffen worden sei; bei der vorherigen Untersuchung in der Klinik im März 2010 habe es sich nur um eine normale Kontrolle gehandelt. Auch der Sachverständige B hat in seiner mündlichen Erläuterung des Gutachtens ausgeführt, dass am 17.08.2010 nach vorheriger Unsicherheit betreffend die Akzeptanz der im Jahr 2006 eingesetzten Hornhaut die Entscheidung zur Reoperation getroffen worden sei.

Selbst wenn man aber zur Zeit des Vertragsschlusses davon ausgeht, dass der Kläger um die Erforderlichkeit einer zweiten Transplantation am gleichen Auge wusste, war dem Kläger subjektiv nicht bewusst, dass bei ihm ein erhöhtes Abstoßungsrisiko bestünde, dem mit der Vergabe eines Immunsuppressivums begegnet werden müsste, das die entsprechenden (Neben-) Wirkungen nach sich zöge. Im Jahr 2006 sei beim Kläger, so hat der Zeuge Dr. L bekundet, kein erhöhtes Abstoßungsrisiko, sondern nur ein normales aufgetreten, das lokal mit Cortison und nicht mit einem Immunsuppressivum wie „Cell Cept“ behandelt worden sei. Damit, dass bei der zweiten Operation ein anderes Vorgehen erforderlich werden könnte, hat der Kläger aus der Erfahrung der ersten Operation heraus nicht rechnen müssen. Zwar haben Cortisonpräparate auch eine – schwächere – immunsupprimierte Wirkung, weshalb der Kläger erwarten konnte, dass er über einen Zeitraum von ein bis zwei Wochen nach der Operation Menschenansammlungen hätte meiden müssen – so hat es der Zeuge L. bekundet –, und, da das Datum der Transplantation unbekannt war, diese also auch einen Tag vor Reiseantritt hätte erfolgen können, ihn dies auch im maßgeblichen Zeitraum hätte ereilen können. Im Hinblick auf die Voraussehbarkeit muss aber auf den konkreten Fall abgestellt werden; bei einer Operation Anfang September 2010 wäre der Kläger im Falle der Verschreibung von Cortisonpräparaten rechtzeitig zum Reiseantritt am 17.10.2010 wieder genesen gewesen.

Insofern kommt es auch nicht darauf an, dass objektiv das erhöhte Abstoßungsrisiko feststand. So heißt es in dem schriftlichen Sachverständigengutachten vom 31.07.2012, dass bei Hornhauttransplantationen die Gefahr des Auftretens von Komplikationen – Infektionen, Entzündungsreaktionen und Prozesse der Transplantationsabstoßung –bei Re-Keratoplastiken höher sei als bei Ersttransplantationen, da bei Zweitoperationen ein größeres Transplantat zu wählen sei und durch das Ersttransplantat bereits ein derartiger Reaktionsweg vorgebahnt sei. Der Sachverständige B hat hierzu mündlich näher ausgeführt, dass er das Abstoßungsrisiko bei dieser Zweittransplantation auf weit über 20 % geschätzt habe aufgrund der Tatsachen, dass es sich um eine zweite Transplantation gehandelt habe und bereits bezüglich der ersten Hornhaut wechselhafte Reaktionsverhältnisse eingetreten waren. Aufgrund dieses erhöhten Abstoßungsrisikos sei die Gabe eines Immunsuppresivums mit Wirkungen wie „Cell Cept“ erforderlich gewesen.

Subjektiv war dies für den Kläger jedoch nicht voraussehbar. Das Gericht ist davon überzeugt, dass er weder seitens des Zeugen Dr. L noch seitens des Universitätsklinikums D. vor dem Vertragsschluss hierüber aufgeklärt worden ist – von selbst musste er aufgrund der Erfahrung aus dem Jahr 2006, wie bereits ausgeführt, ohnehin nicht darauf kommen.

Der Zeuge Dr. L hat in seiner Vernehmung zwar bekundet, dass bei einer zweiten Hornhauttransplantation statistisch gesehen die Gefahr des Abstoßungsrisikos erhöht sei. Zum einen hat er aber nicht erklärt, hierüber den Kläger aufgeklärt zu haben. Zum anderen sprechen seine weiteren Ausführungen auch gegen eine solche Aufklärung. Er hat angeben, dass das Uniklinikum D. entschieden habe, das Immunsuppressivum „Cell Cept“ zu verabreichen, das zu einer deutlichen Reduzierung der gesamten Immunabwehrlage des Patienten führe. Warum anstelle der üblichen Cortisonpräparate das Immunsuppressivum hier verabreicht worden sei, hat der Zeuge Dr. L nicht sagen können; es sei wohl das Baugefühl des Operateurs gewesen, hier das stärkere Medikament zu geben, um die Hornhaut zu sichern. Aufgrund dieser eigenen Erklärung des Zeugen steht fest, dass dem Zeugen Dr. L nicht klar gewesen ist, dass die Vergabe eines entsprechenden Immunsuppresivums bei einer Zweittransplantation stets erforderlich sei. Folgerichtig hat der Zeuge Dr. L in der ärztlichen Bescheinigung vom 14.09.2010 (Bl. 12 d. A.) auch angegeben, dass erst nach der Operation am 09.09.2010 nicht mehr sicher mit dem planmäßigen Reiseantritt gerechnet werden konnte.

In dem schriftlichen Sachverständigengutachten heißt es hierzu, dass in dem Universitätsklinikum D., als die Indikation zur Re-Keratoplastik 2 ½ Monate nach der Reisebuchung gegeben gewesen sei, über die beabsichtigte Medikation und die Verabreichung von „Cell Cept“ als besondere Therapie gesprochen und das Einverständnis des Klägers hierzu eingeholt worden sein müsse. Diese Situation sei für den Kläger neu gewesen, da im Gegensatz zur ersten Keratoplastik jetzt nicht nur lokal die Hornhaut, sondern der gesamte Organismus beeinträchtigt gewesen sei. In den Klinikunterlagen des Universitätsklinikums D. schließlich ist am 16.08.2010 vermerkt, dass an diesem Tag eine Re-Keratoplastik geplant worden sei unter Cellcept (Bl. 185 d. A.).

Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass eine schwere Erkrankung im Sinne der Versicherungsbedingungen vorlag, nämlich eine reduzierte Immunabwehrlage. Der Zeuge Dr. L hat hierzu bekundet, dass eine solche eingetreten sei. Weil aufgrund des geschwächten Immunsystems Bakterien, Viren und Keime leicht zu Infektionen führen könnten, hätte der Kläger im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme im Oktober/November 2010 Menschenansammlungen meiden müssen. Dies sei medizinisch notwendig gewesen, wie auch die Vermeidung von Reisen in Länder mit ungewissem Hygienestandard. Es hätten eine Gefährdung der allgemeinen Gesundheit bis hin zur gefährlich verlaufenden Lungenentzündung gedroht, eine Gefährdung des Ergebnisses der Hornhauttransplantation und einer solchen des Auges bis hin zu dessen Erblindung. Auch der Sachverständige B hat diesbezüglich mündlich ausgeführt, dass durch das Medikament „Cell Cept“ die Abwehrkräfte des gesamten Körpers unterdrückt würden, das Immunsystem werde hochgradig herabgesetzt. Dadurch könnten bereits leichte Infektionen zu schwerwiegenden bis lebensbedrohlichen Erkrankungen führen. Der Sachverständige würde einem Patienten empfehlen, dass er zwei bis drei Monate nach der Operation keine Auslandsreisen unternehme, auch nicht nach Südostasien; in dieser Region bestünden andere Ernährungsbedingungen und träten andere Bakterien und Keime als in Deutschland/Europa auf, auf die der europäische Körper nicht eingestellt sei – zur medizinischen Versorgung in Südostasien hat der Sachverständige keine Angaben machen können. Eine Meidung solcher Regionen wie Südostasien über diesen Zeitraum sei auch medizinisch notwendig; das Infektionsrisiko im Ausland sei insofern auch höher als dasjenige im Inland mit hiesigen aggressiven, aber selteneren Keimen oder Bakterien. Weiterhin würde in Menschenansammlungen wie z. B. im Rahmen einer Flug- oder Schiffsreise das Immunsystem stärker beansprucht als bei einem Aufenthalt zu Hause aufgrund der höheren Konzentration von Keimen in der Luft und eines erhöhten Risikos einer Tröpfcheninfektion. Ein Immunsuppressivum werde über eine längere Zeit hindurch gegeben, wobei Dosierung und Dauer vom Einzelfall abhängig seien; nach Absetzen des Medikaments sei das Immunsystem runter gefahren und brauche eine längere Zeit, um sich wieder aufzubauen.

Sämtliche Angaben des Zeugen Dr. L sind glaubhaft, er hat detailliert und sachlich den Krankheitsverlauf beim Kläger geschildert, genau differenziert zwischen seiner Behandlung und derjenigen im Universitätsklinikum D. und schließlich die (Neben-) Wirkungen des Medikaments „Cell Cept“ eindrücklich beschrieben. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen bestehen nicht.

Das Gericht folgt weiterhin der ausführlichen und in sich widerspruchsfreien Darstellung der Sachverständigen K und B, der auch die Parteien nicht widersprochen haben. Die von den Sachverständigen gefundenen Ergebnisse überzeugen durch ihre umfassende Auswertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Berücksichtigung ihrer eigenen medizinischen Erfahrung.

Der planmäßige Reiseantritt bzw. die Durchführung der Reise im Oktober/November 2010 war dem Kläger auch unzumutbar. Ein vernünftiger unversicherter Reisender hätte in der Situation und mit dem Kenntnistand des Versicherungsnehmers von dem Reiseantritt abgesehen. Zwar waren die wöchentlichen ambulanten Nachsorgemaßnahmen abgeschlossen, das Immunsystem des Klägers war aufgrund der fortwährenden reduzierten Abwehrlage jedoch noch extrem geschwächt (siehe oben).

Ein etwaiges Mitverschulden durch den Vortrag der Beklagten, der Kläger habe das Medikament aus freiem Willen zu sich genommen, liegt aus Sicht des Gerichts nicht vor. Ein Mitverschulden setzt begrifflich zunächst eine Sorgfaltspflichtverletzung voraus, d. h. der Kläger hätte jene Sorgfalt außer Acht lassen müssen, die ein verständiger Mensch in eigenem Interesse aufgewendet hätte. Im vorliegenden Fall wäre es jedoch völlig abwegig anzunehmen, der Kläger hätte die ärztliche Anweisung der Einnahme von „Cell Cept“ kritisch überdenken müssen. Als medizinischer Laie durfte der Kläger den Anweisungen seines behandelnden Arztes vertrauen; an eine Sorgfaltspflichtverletzung wäre höchstens zu denken, wenn der Kläger eine medizinische Anweisung missachtet und sich stattdessen selbst behandelt hätte. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.

Als Nebenforderung steht dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Verzugszinsen seit dem 18.11.2010 gemäß §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 2 Nr. 3, 288 BGB zu.

Eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gemäß §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 2 Nr. 3, 249 BGB scheidet hingegen aus, da der Kläger weder dargelegt noch bewiesen hat, dass er seinen Prozessbevollmächtigten erst nach Verzugseintritt mit der außergerichtlichen Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Klageabweisung betrifft nur eine nicht streitwerterhöhende Nebenforderung.

Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.

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