VG Göttingen, Urteil vom 28.01.2015 - 2 A 1006/13
Fundstelle
openJur 2015, 6087
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die am xxx 2000 geborene Klägerin begehrt vom Beklagten Leistungen für eine Dyskalkulietherapie.

In der Zeit von Juni 2008 bis September 2009 erhielt die Klägerin, finanziert aus Jugendhilfemitteln des Beklagten, eine Dyskalkulietherapie bei der Therapeutin Frau G. - H.. Diese Therapie erbrachte offenbar nicht den gewünschten Erfolg. Mit Bescheid vom 22. Juli 2010 lehnte der Beklagte eine Fortsetzung der Dyskalkulietherapie ab. Zur Begründung führte er an, die Dyskalkulietherapie sei zur Beseitigung der Beeinträchtigungen der Klägerin nicht die richtige Maßnahme; er empfahl eine Psychotherapie zur Stärkung des Selbstbewusstseins der Klägerin.

Am 5. Dezember 2012 formlos, wiederholt mit Formblatt am 18. Februar 2013 beantragten die Eltern der Klägerin für diese beim Beklagten weitere Leistungen für eine Dyskalkulietherapie. Eine solche unternahm die Klägerin auf eigene Kosten in der Zeit von Januar 2013 bis Juni 2014 bei der sachverständigen Zeugin I. vom Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche - ZTR -. Unter dem 25. Oktober 2012 hatte diese eine Diagnose zum Vorliegen einer Rechenschwäche bei der Klägerin erstellt. Sie kommt darin zu dem Ergebnis, insgesamt sei das Rechnen der Klägerin ohne jedes kardinale, relationale und operative Verständnis. Daher gebe sie das Urteil einer gravierenden Rechenschwäche, F81.2 gemäß ICD-10 (WHO) ab.  Die Diagnose beruhte auf einer Untersuchung der mathematischen Kompetenzen der Klägerin. Eine Diagnose anhand der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings- Kindes- und Jugendalter erfolgte nicht. Zur Diagnosemethodik äußerte sich die sachverständige Zeugin in dieser Diagnose so, dass die üblichen Rechentests wie Zareki oder HAWIK den Mangel hätten, rein ergebnisorientiert zu sein. Sie grenzten damit die Fehleranalyse in hohem Maße ein, indem sie lediglich richtige von falschen Ergebnissen selektierten, anschließend quantifizierten und die so gewonnene Quote einem feststehenden Auswertungsschlüssel unterwürfen. Derartige Diagnosen seien im Kern wie Klassenarbeiten und genügten insbesondere den Anforderungen einer lerntherapeutischen Intervention nicht. Überwinden ließe sich der genannte Mangel durch eine in der Wissenschaft so bezeichnete qualitative Fehleranalyse. Sie könne begrenzt im Rahmen einer Dokumentenanalyse erfolgen, sei jedoch im Wesentlichen auf die Methode des lauten Denkens angewiesen. Der Proband gebe Auskunft über seine Rechenwege, so dass sich subjektive (falsche oder umständliche) Algorithmen ermitteln ließen. Aus diesen Algorithmen - verglichen mit den mathematisch sachlogischen - ließen sich Rückschlüsse auf das Verständnis mathematischer Inhalte und Operationen erzielen. Dadurch würden Lerndefizite sichtbar und die Systematik der Rechenfehler ließe sich aufschlüsseln und erklären.

Im Juli 2013 überreichte die Klägerin eine stichpunktartige Zusammenfassung des bisherigen Therapieverlaufs durch ihre Therapeutin, die sachverständige Zeugin  I.. Die sachverständige Zeugin bescheinigt der Klägerin darin, oft mit der aktuellen Schulsituation überfordert zu sein. Sie habe in der Therapie Hilfe, Verständnis, Erklärung und Wissensvermittlung gesucht und gefunden, so dass sie erleichtert und gestärkt erst einmal wieder in die nächsten Unterrichtsstunden habe gehen können. Das Ganze sei ein Prozess, der mit zunehmendem Verstehen mathematischer Inhalte zur Festigung der Persönlichkeit und damit zum Schwinden dieser psychischen Belastung führe. Die gemeinsame Verarbeitung der aktuellen Situation und der parallele Wissensaufbau führten erst zu mehr Sicherheit und damit zum schrittweisen Wiederfinden von Selbstbewusstsein.

Im Halbjahreszeugnis des Schuljahres 2012/2013 der Klasse 7 der kooperativen Gesamtschule J. erhielt die Klägerin im Fach Mathematik die Note 4. Das Zeugnis enthält die Bemerkung, die Leistungen im Fach Mathematik seien nur schwach ausreichend.

Im Zuge der Antragsbearbeitung holte der Beklagte sowohl einen Schulbericht als auch einen von den Eltern der Klägerin ausgefüllten Fragebogen ein.

Im Schulbericht vom 6. Februar 2013 heißt es auszugsweise, die Schülerinnen und Schüler arbeiteten kooperativ und hülfen einander. Da die Klägerin mit einer ausgeprägten Dyskalkulie belastet sei, seien lerntherapeutische Maßnahmen dringend erforderlich, um sie an den Leistungsstand der Klasse heranzuführen. Diese schwerwiegende Beeinträchtigung zeige sich besonders im arithmetischen Denken (Grundrechenarten, Kopfrechnen, Zehnerübergang, Sachrechnen, Dezimalsystem). Durch unterrichtsbegleitende Maßnahmen würden letztendlich Fortschritte in ihrer subjektiven Logik erzielt werden. Daher sehe der Fachlehrer aus methodischer, psychologischer und pädagogischer Sicht eine tiefgreifende Förderung auch zum Wohle der Klägerin als unbedingt erforderlich an. Zum Lern-, Leistungs- und Sozialverhalten der Klägerin heißt es, sie arbeite motiviert und konzentriert mit, brauche allerdings sehr viel Bestätigung, Ermutigung und Hilfestellung. Ihr gelänge es noch immer nicht, ihre Ergebnisse richtig einzuschätzen. Sie zeige bei Erfolgen Freude, Misserfolge nehme sie äußerlich relativ unbeteiligt auf. Die Klägerin sei innerhalb der Klasse akzeptiert und integriert.

Sie habe Kontakt zu vielen Mitschülerinnen und lache gerne in den Pausen und außerhalb des Unterrichts. Insgesamt wirke sie sehr fröhlich und aufgeschlossen. Im Unterricht zeige sie sich eher introvertiert und arbeite eher gerne in Einzel- oder Partnerarbeit. Gegenüber Erwachsenen verhalte sie sich zurückhaltend, äußere sich aber bei Ansprache klar und durchaus selbstbewusst. Sie habe zu Beginn des Schuljahres anfänglich Probleme gehabt, sich an die neue Lerngruppe zu gewöhnen, sei aber jetzt voll akzeptiert und integriert. Sie pflege soziale Kontakte mit einigen Mitschülerinnen und zeige ein sozial angemessenes Verhalten. Sie sei sehr kooperativ, hilfsbereit und kommunikativ.

Im Elternfragebogen vom 18. Februar 2013 gaben die Eltern der Klägerin u.a. folgendes an: Die Klägerin sei nach einem Schulwechsel noch nicht richtig in der Klasse angekommen. Sie reagiere auf schlechte Schulleistungen teilweise resignierend, verbittert und traurig sowie deprimiert. Freundinnen habe sie in ihrem Reitverein, den sie einmal wöchentlich besuche. Ihre Tochter sei häufig unbeherrscht und impulsiv, leide unter starker Nervosität und Anspannung, habe schnell wechselnde  sowie bedrückte und depressive Stimmungen und große Angst vor schlechten Mathenoten. Dabei sei sie freundlich und hilfsbereit.

Im Oktober 2013 stellte sich die Klägerin in der Fachstelle Diagnostik der Jugendhilfe Süd-Niedersachsen e.V. vor. Es wurden dort mit ihr ein Wechslerintelligenzskeal (WISC-IV, ein Test der Rechtenfertigkeiten- und Zahlenverarbeitungs- Diagnostikum für die zweite bis sechste Klasse durchgeführt und Gespräche mit ihr und ihren Eltern geführt.

In dem Intelligenztest erreichte die Klägerin einen Teilwert von 38, was einem Intelligenzquotienten von 82 entspricht. Im Rechtentest erreichte sie einen Teilwert von 40. In der Bemerkung einer am 1. Oktober 2013 durchgeführten Testung heißt es, dass Rechnen mit Geld gehe gar nicht. Die Klägerin kenne sich in Mengen nicht aus und rate. Dementsprechend habe die Klägerin Schwierigkeiten mit Gemeinschaftsaktivitäten, in denen der Umgang mit Geld verlangt werde.

In der zusammenfassenden Stellungnahme der Fachstelle Diagnostik vom 24. Oktober 2013 heißt u.a., in der Zusammenschau der aktuellen und der Vorbefunde werde zu dem Schluss gekommen, dass bei der Klägerin weiterhin eine Rechenschwäche vorliege, die jedoch nicht mehr den Kriterien des ICD-10 entspreche. In der rein quantitativen Analyse werde die Diskrepanz zum IQ Wert nicht erreicht. Es werde davon ausgegangen, dass die Klägerin Rechenleistungen erbringe, die ihren intellektuellen Voraussetzungen entsprächen. Bei der Überprüfung des Umgangs mit Geld zeige sich, dass die Klägerin dazu nicht in der Lage gewesen sei. Es sei ihr nicht gelungen zwischen Euro und Cent zu unterscheiden oder Teilbeträge zu benennen oder zu berechnen. Während der Überprüfung der mathematischen Fähigkeiten sei bei guter Kooperation und Anstrengungsbereitschaft eine deutliche Scham und Verunsicherung der Klägerin zu erkennen. Die qualitative Analyse zeige einen Mangel an mathematischem Grundverständnis, der die Klägerin daran hindere, den Stoff einer 8. Jahrgangstufe einer Realschule zu verstehen als auch den Umgang mit Geld zu beherrschen. In der Gesamtschau bestehe auch eine Gefährdung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht. Die Klägerin sei in ihre Klasse integriert, die Hausaufgabensituation verlaufe unauffällig, das Freizeitverhalten scheine altersentsprechend; Schwierigkeiten habe die Klägerin mit Gemeinschaftsaktivitäten, in denen der Umgang mit Geld verlangt werde.

Mit Bescheid vom 20. November 2013 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Kosten einer Dyskalkulietherapie ab. Unter Berufung auf die Feststellungen der Fachstelle führte der Beklagte an, eine Rechenstörung könne bei der Klägerin nicht mehr festgestellt werden, da keine Diskrepanz zur allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit bestehe und Rechtenfertigkeiten vorhanden seien. In der Gesamtschau bestehe auch keine Teilhabegefährdung.

Hiergegen hat die Klägerin am 23. Dezember 2013 Klage erhoben.

Zu deren Begründung trägt sie vor, therapiegeschädigt zu sein; die von Frau G. -H. durchgeführte, 60 Stunden dauernde Therapie habe für sie nichts gebracht. Bei ihr liege auch eine Dyskalkulie mit Krankheitswert vor. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des ZTR vom 25. Oktober 2012. Das von der Fachstelle erstattete Gutachten leide daneben an einem fachlichen Mangel. Die Fachstelle habe einen Rechtentest für die Klassen 2 - 6 verwendet, obwohl die Klägerin im Zeitpunkt der Überprüfung bereits in der 8. Klasse gewesen sei.

Schließlich sei auch ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gefährdet. Der Umgang mit Geld sei ihr nicht möglich. Sie habe ständig Angst, sich dabei zu blamieren; sie entwickle Rückzugsstrategien in dem Sinne, dass sie keinerlei Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen unternehme. Dies sei lediglich beim einmal wöchentlichen Reiten anders.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 20. November 2013 zu verpflichten, der Klägerin die Übernahme von 40 Stunden Dyskalkulietherapie zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, die von der sachverständigen Zeugin I. am 25. Oktober 2012 erstattete gutachterliche Aussage sei nicht haltbar. Die sachverständige Zeugin habe ihre Diagnose einer Dyskalkulie nicht nach den ICD-10-Kriterien erstattet. Darüber hinaus sei die Klägerin gut in ihre Klasse und ihr soziales Umfeld integriert.

Das Gericht hat für die Schuljahre 2013/2014, Klassenstufe 8 und 2014/2015 Klassenstufe 9 weitere Schulberichte eingeholt. Diese Berichte bestätigen, dass die Klägerin im Klassenverband gut integriert ist und führen darüber hinaus aus, die Klägerin nehme schlechte Ergebnisse hin, denn sie kenne es nicht anders. Sie habe Freunde, die ihr auch in für sie schwierigen Unterrichtssituationen helfen wollten und sich für sie einsetzten. Ihre mathematischen Schwächen schienen im privaten Bereich weniger problematisch zu sein.

Das Gericht hat in mündlicher Verhandlung Beweis erhoben zur Frage des Vorliegens einer Dyskalkulie bei der Klägerin durch Vernehmung der Dipl. Mathematikerin K. I. als sachverständige Zeugin. Wegen der Einzelheiten ihrer Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagen und der Fachstelle Diagnostik Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Bewilligung von Leistungen für eine Dyskalkulietherapie nicht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kosten für weitere 40 Stunden Dyskalkulietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe besteht nicht, weil die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII nicht vorliegen.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in Fällen, in denen um die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gestritten wird, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier der 20. November 2013 (vgl. BVerwG, Urteil vom 8.6.1995 -5 C 30.93-, FEVS Bd. 46 S. 94). Das Gericht hat nicht die Aufgabe, einen Hilfefall selbst erstmalig zu prüfen, sondern kann nur darüber befinden, ob einem Hilfesuchenden die begehrte Hilfe in dem streitbefangenen Zeitraum von Rechts wegen zustand oder nicht. Anders ist es nach der zitierten, von der Kammer geteilten Rechtsprechung, wenn die letzte Verwaltungsentscheidung selbst eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Regelung enthält. Davon kann bei leistungsversagenden Jugendhilfebescheiden indes nicht ausgegangen werden. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20. November 2013 lehnte der Beklagte nicht etwa für unbestimmte Zeit künftige Jugendhilfeleistungen ab. Er konnte als Jugendhilfeträger vielmehr nur eine Entscheidung nach Maßgabe der im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannten leistungsrelevanten Umstände treffen. Ändern sich diese tatsächlichen Verhältnisse nachträglich, muss er über die Leistungsgewährung neu entscheiden. Es kommt daher im Ergebnis nicht darauf an, ob das Leistungsbegehren längerfristig ausgelegt ist, sondern darauf, ob dies die Entscheidung des Jugendhilfeträgers ist (möglicherweise a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.10.2006 -12 PA 273/06-, BA Seite 3 unten).

Die Kammer ist weiter der Ansicht, dass die Anspruchsvoraussetzungen des § 35 a SGB VIII im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vom 20 November 2013 zu prüfen sind, ohne dass es darauf ankommt, dass die Bewilligungsvoraussetzungen, wie hier, in der Vergangenheit vorgelegen und zu einer Bewilligung von Jugendhilfeleistungen für die Durchführung einer Legasthenietherapie im Umfang von insgesamt 60 Stunden geführt haben. Dies gilt auch für den Fall, dass die begonnene und ursprünglich durch Jugendhilfeleistungen unterstützte Legasthenietherapie aus fachlicher Sicht nach Ablauf dieses Stundenkontingents noch nicht abgeschlossen ist. Das Gericht hält an seiner in den Urteilen vom 26. 01. 2006 -2 A 161/05- und vom 22.07.2007 - 2 A 351/05- , bestätigt durch das Urteil des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 04.02.2009 -4 LC 514/07- (abgedruckt in der Internetentscheidungssammlung des Nds. Oberverwaltungsgerichts) vertretenen Rechtsauffassung fest. Dort ist ausgeführt:

„Die Kammer verkennt nicht, dass eine Legasthenietherapie unter therapeutischen Gesichtspunkten im Zeitpunkt des Weiterbewilligungsantrages noch nicht vollständig abgeschlossen sein kann. So ist es nach Ansicht seines Therapeuten auch im Fall des Klägers. Offenbar handelt es sich um ein in der therapeutischen Praxis nicht selten vorkommendes Phänomen, wie die Ausführungen von Reuter-Liehr in ihrem Vortrag vom 15. November 2002 zeigen, in denen es heißt:

„In der Praxis erfahren wir, dass notwendige Weiterbewilligungsanträge einer zwar erfolgreich aber noch nicht ausreichend behandelten Legasthenie vom Jugendamt gelegentlich mit der Begründung abgewiesen werden, dass infolge des erreichten Prozentranges keine Legasthenie mehr vorliege. Dies verkürzte Verständnis von „Teilleistungsstörung“ führt dann zu vorzeitigen Abbrüchen, die keine Langzeiterfolge möglich machen“

Nach Ansicht der Kammer handelt es sich indes nicht um ein verkürztes Verständnis von „Teilleistungsstörungen“, sondern um ein solches, das vom Gesetz vorgegeben ist. Selbstverständlich kann es nicht im Interesse des Kindes oder Jugendlichen liegen, eine Legasthenietherapie vorzeitig abzubrechen. Etwas anderes ist es jedoch, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII vorliegen. Ob das der Fall ist, muss vom Träger der Jugendhilfe in dem Zeitpunkt beurteilt werden, in dem der jugendhilferechtliche Bedarf entsteht. Hierbei kommt der in der Vergangenheit erfolgten Bewilligung von Leistungen für eine Legasthenie- oder Dyskalkulietherapie keine präjudizielle Bedeutung zu. Der damit abgedeckte Bedarf besteht jugendhilferechtlich nicht mehr und wird gegebenenfalls durch einen neuen, weitergehenden Bedarf abgelöst. Für diesen Therapiebedarf sind gesetzlich Leistungen nur im Fall einer (drohenden) seelischen Behinderung vorgesehen. Aus dem oben Gesagten folgt, dass beim Kläger ein jugendhilferechtlich relevanter Bedarf für eine weitere Legasthenietherapie wegen der bis dahin erzielten Therapieerfolge nicht - mehr - vorliegt.

Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, der Jugendhilfeträger habe von Anfang an Leistungen im Umfang der jeweils therapeutisch erforderlichen Stundenzahl, hier angenommen im Umfang von 80 Stunden, bewilligen müssen. Abgesehen davon, dass dem Kläger dieser Einwand schon deshalb abgeschnitten ist, weil der Bewilligungsbescheid vom 14. Februar 2003, mit dem ihm 40 Stunden Legasthenietherapie bewilligt worden waren, bestandskräftig und damit für ihn bindend geworden ist, kann die Kammer diesem Ansatz auch inhaltlich nicht folgen. Hinsichtlich der Art der zu gewährenden Jugendhilfeleistungen steht dem Jugendhilfeträger eine fachpädagogische Einschätzungsprärogative zu, die nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein und eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation sein muss (BVerwG, Urteil vom 24.6.1999 -5 C 24.98-, BVerwGE 109, 155; OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.8.2005 -4 ME 45/03-). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich insoweit darauf, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind und ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Gemessen daran wird es in den seltensten Fällen zu beanstanden sein, wenn der Jugendhilfeträger seine Leistungen zunächst auf einen Zeitraum beschränkt, der prognostisch nicht der vollen Therapiedauer entspricht. Denn es ist aus fachlicher Sicht sowohl möglich, dass die tatsächlich erzielten Therapiefortschritte größer als zunächst angenommen sind, was zu einer vollständigen Behebung der Teilleistungsstörung führen kann als auch, dass die ursprünglich gegebenen Bewilligungsvoraussetzungen nach § 35 a SGB VIII im Laufe der Therapie entfallen. Hierfür ist der vorliegende Fall ein Beispiel. Da der Jugendhilfeträger zu einem sparsamen Umgang mit öffentlichen Finanzmitteln verpflichtet ist, stellt diese Überlegung ein sachgerechtes Kriterium für die zeitliche Begrenzung einer Teilleistungsstörungstherapie dar.“

Diese gesetzliche Prüfungskompetenz und -pflicht lässt sich zur Überzeugung der Kammer auch nicht auf ein einzelnes Tatbestandsmerkmal des § 35 a Abs. 1 SGB VIII begrenzen; etwa dergestalt, dass eine einmal leistungsbegründende seelische Behinderung als fortbestehend anzunehmen und nur zu würdigen ist, ob nach wie vor eine Teilhabegefährdung vorliegt. Vielmehr ist die gesetzliche Pflicht, nur tatbestandsmäßige Jugendhilfeleistungen zu gewähren, nicht teilbar. Das Gericht ist sich der Konsequenz, dass dies bei finanziell leistungsschwachen Familien dazu führen kann, dass eine durchaus sinnvolle Therapie vor ihrem fachlich gebotenen Ende mangels Unterstützung aus öffentlichen Mitteln abgebrochen werden muss, bewusst.

Dies vorausgeschickt bestand am 20. November 2013 ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen für eine Dyskalkulietherapie nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII nicht.

Gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII i.d.F. des Gesetzes vom 30.07.2004 (BGBl I S. 2014) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und

2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne des SGB VIII sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Die seelische Gesundheit der Klägerin weicht nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand ab, so dass die Tatbestandsvoraussetzung des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII nicht vorliegt.

Gemäß § 35 a Abs. 1 a Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Abs. 1 Nr. 1 die Stellungnahme

1.  eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,

2.  eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder

3.  eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt,

einzuholen. Nach Satz 2 dieser Bestimmung ist die Stellungnahme auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (Anm. d. Gerichts: ICD-10 (WHO)), in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen( so auch schon die st. Rspr. der Kammer vor Einfügung des § 35 a Abs. 1 a SGB VIII durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz -KICK- vom 8. September 2005, BGBl. S. 2729). Dabei ist gem. Satz 3 auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Schließlich regelt Satz 4, dass die Hilfe nicht von einer Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden Es verbleibt auch nach der gesetzlichen Neuregelung des § 35 Abs. 1 a SGB durch das KICK das Problem der fachlichen Kriterien für die Diagnose einer Teilleistungsstörung wie der Dyskalkulie oder Legasthenie.

Hier gilt weiter, was die Kammer seit ihrer den Beteiligten bekannten Grundsatzentscheidung vom 26. Januar 2006 -2 A 161/05- und im Urteil vom 29. August 2006 -2 A 124/05- (jeweils veröffentlicht in der Internetentscheidungssammlung des Nds. Oberverwaltungsgerichts) seitdem in ständiger Rechtsprechung ausgeführt hat:

„In Abschnitt V F 81 der ICD-10 werden umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten definiert. Danach handelt es sich bei allen diesen Störungen, seien es Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0), isolierte Rechtschreibstörung (F 81.1), Rechenstörung (F 81.2), kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (F 81.3), sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F 81.8) oder Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, die nicht näher bezeichnet werden (F 81.9) um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen. Bei der hier im Streit befindlichen isolierten Rechtschreibstörung (F 81.1) handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeit besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass es im Fall des Klägers trotz der Tatsache, dass er in der Vergangenheit auch eine Lesestörung hatte, nur um die Frage geht, ob bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung vorliegt. Die Lesestörung ist ausweislich der vorliegenden Stellungnahmen weitestgehend behoben. Damit es sich um eine isolierte Rechtschreibstörung im Sinne der ICD-10 handelt, darf die Entwicklungsbeeinträchtigung nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar sein.

Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese- Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online Anm. des Gerichts: derzeit noch aktuell in der 3. überarbeiteten und erweiterten Auflage von 2007). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).

Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z. B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z. B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.

Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht Reuter-Liehr (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck (NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.

Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im Wesentlichen drei Faktoren.

Zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang. Zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird (insoweit Urteil vom 26. Januar 2006).

Hieran hält der Einzelrichter auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung erhobenen Einwände fest. Es sieht sich in seiner Annahme, für die Diagnose einer Teilleistungsstörung auf die internationale Klassifikation der Krankheiten abzustellen durch die mit Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe - KICK - vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) eingeführte Regelung in § 35 a Abs. 1 a Satz 2 SGB VIII bestätigt.. Insbesondere bleibt es bei der Auffassung, dass bei einem von dem Kind oder Jugendlichen in einem anerkannten Schreibtest erzielten Prozentrang der Rechtschreibleistung von deutlich über 10 von einer Rechtsschreibstörung mit Krankheitswert im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII auch dann nicht ausgegangen werden kann, wenn die sog. T-Wertdifferenz, d.h. die Differenz der durch anerkannte Tests ermittelten Werte für die Rechtschreibleistung einerseits und die allgemeine Intelligenzleistung andererseits, mehr als 12 Punkte (hier: 22) beträgt. Diese Annahme wird, wie dargelegt, durch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zusammenfasst bestätigt. Danach ist es ausgeschlossen allein wegen einer T-Wertdifferenz von 22 eine Rechtschreibstörung anzunehmen, wenn und soweit die isoliert betrachtete Rechtschreibleistung, wie hier, im durchschnittlichen Bereich vergleichbarer Kinder liegt. Diese Leitlinien sind am 25. Juni 2004 erstellt worden und ihre Überprüfung ist erst im Jahre 2008 geplant. Sie geben den aktuellen Erkenntnisstand wider, so dass die von der Klägerin beantragte Beweiserhebung abzulehnen war. Sie würde ins Blaue hinein erfolgen, da für andere wissenschaftliche Erkenntnisse weder etwas ersichtlich ist noch von der Klägerin vorgetragen wurde. Soweit sie in der mündlichen Verhandlung eingewandt hat, in der Behandlungspraxis der Kinder- und Jugendlichenpsychiater und -psychotherapeuten würden andere Kriterien gelten, dringt sie hiermit nicht durch. Dem kann schon im Interesse einer fachlich anerkannten, einheitlichen Handhabung der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten nicht gefolgt werden. Zum anderen setzen selbst die für die Praxis erstellten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Anm. des Gerichts: Die vom Gericht herangezogenen Leitlinien gelten für die klinisch-wissenschaftliche Arbeit) nach dem Stand: Januar 1999, zuletzt im Mai 2003 überarbeitet, für die Annahme einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung voraus, dass der Prozentrang im Rechtschreib- bzw. Lesetest nicht signifikant größer als 10 sein sollte. An anderer Stelle heißt es ein Prozentrang kleiner 10 sei diagnostisch richtungsweisend (vgl. im Übrigen auch die oben zitierte Äußerung der in der Fachpraxis angesehenen Lerntherapeutin Dipl. Päd. Carola Reuter-Liehr)” (insoweit Urteil vom 29. August 2006).

Diese Rechtsprechung wird vom Nds. Oberverwaltungsgericht geteilt (vgl. nur Beschlüsse vom 21.2.2007 -4 LA 134/07-; vom 04.02.2009 -4 LC 514/07- und vom 02.02.2010 -4 LA 796/07).

Gemessen an diesen diagnostischen Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII seelisch behindert war oder ihr eine derartige seelische Behinderung droht.

Nach dem von der Fachstelle gefundenen Ergebnis, beträgt die Differenz zwischen den intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin einerseits und ihren Fähigkeiten im Teilbereich Rechnen andererseits nicht mehr als 12. Vielmehr sind ihre Rechenleistungen besser als nach ihren intellektuellen Möglichkeiten zu erwarten. Da das Diskrepanzkriterium für die Diagnose einer Rechenstörung mit Krankheitswert nicht erfüllt wird, liegt einer seelischen Behinderung im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII bei der Klägerin nicht vor.

Der Klägerin ist es nicht gelungen, die Feststellungen der Fachstelle Diagnostik, wie sie in der Zusammenfassung vom 23. Oktober 2013 niedergeschrieben sind, zu erschüttern. Die Aussage in der fachlichen Stellungnahme des Dr. L. M. vom ZTR, die diagnostischen Feststellungen der Fachstelle seien in sich widersprüchlich und fehlerhaft, wird nicht weiter begründet; eine Auseinandersetzung mit den Leitlinien für die Diagnostik erfolgt nicht. Insoweit erübrigen sich Aussagen des Gerichts zu diesem Einwand. Der einzig konkrete Einwand gegen die von der Fachstelle Diagnostik angewandte Methode liegt nach der fachlichen Anmerkung zum Ablehnungsbescheid an die Klägerin durch Herrn Dr. M. vom ZTR darin, dass er die Anwendung des Rechentestes RCD 2 - 9 (richtigerweise 2 - 6) für eine Schülerin der 8. Klassenstufe für unzulässig hält. Indes verfängt dieser Einwand nicht.

Es ist zwar richtig, dass von der deutschen Testzentrale dieser Test ausdrücklich auf die Klassenstufen 2 - 6 beschränkt wird, die Mitarbeiterin der Fachstelle Diagnostik, Frau Dipl. Psych. Dr. N. vermochte jedoch in der mündlichen Verhandlung darzulegen, warum sie diesen Test auch für die Klägerin, die im Zeitpunkt der Testung in der Tat die 8. Klasse besucht hat, für sachgerecht und aussagekräftig gehalten hat und hält. Sie hat hierzu unter Bezugnahme auf die Klassifikation der Krankheiten nach ICD-10 (WHO) abgestellt und ausgeführt, es gehe um die Frage, ob die mathematischen Grundfertigkeiten beherrscht werden, was durch den RCD 2-6- Test abgeprüft werde. Diese Auffassung entspricht der geltenden Rechtslage. Wie dargelegt verweist § 35 a Abs. 1 a Satz 2 SGB VIII auf die ICD-10 (WHO); in Abschnitt 1.1. für die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) wird die Rechenstörung (F81.2) wie folgt definiert: „Die umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten umfasst Schwächen in den Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Weniger relevant sind die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie sowie Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ Es ist in Anbetracht dessen rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Klägerin einem Rechentest unterzogen wurde, der zwar nicht ihrer Klassenstufe entsprach, wohl aber die für die Diagnose einer Rechenstörung erheblichen Fertigkeiten abgeprüft hat

Neben dieser konkreten Kritik, geht der Kern des klägerischen Vortrags jedoch auch dahin, dass sie die von der Fachstelle zugrunde gelegte Diagnosemethode für nicht aussagekräftig und falsch hält; sie setz dieser Methode eine eigene, vom ZTR entwickelte Methode, entgegen. Dies ist für die Klage nicht zielführend.

Dass die Anwendung des der Testung durch die Fachstelle Diagnostik zugrundeliegenden Diskrepanzkriteriums fachlich umstritten ist, wurde eben dargestellt. Dennoch handelt es sich um die Methode, die der in § 35 Abs. 1 a Satz 1 SGB VIII mit der Begutachtung betraute Personenkreis für sich als verbindlich ansieht. Denn die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter werden von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, der Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und dem Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie herausgegeben. Es mag andere Diagnosemethoden, etwa die vom ZTR angewandte, geben; es mag auch sein, dass sie fachlich durchaus vertretbar sind. Indes gibt die Regelung in § 35 Abs. 1 a Satz 1 SGB VIII klar vor, auf wessen Einschätzung es bei der Beurteilung, ob eine seelische Erkrankung im Sinne der Vorschrift vorliegt, ankommen soll. Dies sind nicht Mathematiker wie Dr. M. und die sachverständige Zeugin I., sondern Mediziner, die sich, wie dargelegt, die genannten Leitlinien zur Diagnose gegeben haben. Das schließt es nicht aus, fachliche Kritik von Vertretern einer abweichenden “Diagnoseschule“ dann für erheblich zu halten, wenn konkrete Mängel der auf den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen beruhenden Diagnose einer Rechenstörung dargelegt werden. In diesem Fall wäre eine kritische Würdigung der der behördlichen Entscheidung zugrunde liegenden Diagnose angezeigt. Eine derartige Kritik hat weder Herr Dr. M. vorgenommen noch ist die von der sachverständigen Zeugin I. verfasste Diagnose einer gravierenden Rechenschwäche geeignet, die Feststellungen der Fachstelle Diagnostik, die auch dem angegriffenen Bescheid des Beklagten vom 20. November 2013 zugrunde liegen, in Zweifel zu ziehen. Frau I. hat nicht aufzeigen können, wie sie zu ihrer Diagnose gelangt ist. Sie hat lediglich allgemein von einem am Lösungsweg orientierten qualitativen Testverfahren gesprochen; die Leitlinien Diagnostik waren ihr nicht bekannt, so dass sie diese weder angewendet hat noch Aussagen zur Anwendung durch die Fachstelle hat machen können.

Selbst wenn es sich bei der von Dr. M. und der sachverständigen Zeugin I. vom ZTR angewandten Diagnostik zur Feststellung einer Dyskalkulie um eine anerkannte wissenschaftliche Methode zur Diagnostik dieser Teilleistungsstörung im Sinne der ICD-10 F 81 handeln sollte, wären mit der gutachterlichen Aussage die von der Fachstelle gefundenen Ergebnisse nicht erschüttert. Auf die zum Beweis gestellte Frage, ob es sich bei der vom ZTR angewandten Diagnostik um eine anerkannte wissenschaftliche Methode handelt oder nicht kommt es daher nicht an. Der beantragte Beweis war daher nicht zu erheben. Dagegen, dass es sich um eine wissenschaftlich anerkannte Methode handelt, spricht jedoch, dass sie offenbar nicht von dem zur Begutachtung kraft Gesetzes vorgesehenen Personenkreis von Medizinern entwickelt wurde, jedenfalls von diesem Personenkreis augenscheinlich nicht für verbindlich gehalten wird.

Unabhängig davon und selbständig die Entscheidung tragend kann bei der Klägerin auch nicht von einer Teilhabegefährdung im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ausgegangen werden.

Selbst wenn bei der Klägerin von einer Rechenstörung mit Krankheitswert auszugehen wäre, läge darin noch nicht für sich betrachtet eine für die Bewilligung von Eingliederungshilfe erforderliche seelische Behinderung. Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII setzt erst ein, wenn infolge einer (bereits vorhandenen oder drohenden) seelischen Störung die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Die Voraussetzungen beider Tatbestandsmerkmale lassen sich nicht streng voneinander trennen. Ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII besteht jedenfalls erst dann, wenn die seelische Störung so intensiv ist, dass sie über bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder teilen, in behinderungsrelevanter Weise hinausgeht. Dies kann z.B. bei einer auf Versagensängsten beruhenden oder drohenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule der Fall sein. Es verbietet sich demnach, jede Beeinträchtigung in der Schule, die aufgrund einer Dyskalkulie eintritt, schon als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu definieren. Nur eine solche Sichtweise ist auch interessengerecht, da es primär die Aufgabe der Schule ist, eine Lese- oder Rechtschreibschwäche durch geeignete Maßnahmen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern (ständige Rechtsprechung der erkennenden Kammer im Anschluss an das Urteil des BVerwG vom 26. November 1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487; ebenso aus jüngerer Zeit OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juni 2008 - 4 ME 184/08 -, FEVS 60, 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der von dem Beklagten erlassene Bescheid auch nicht hinsichtlich der Aussage zu beanstanden, dass eine Teilhabegefährdung bei der Klägerin nicht vorliegt.

Durchgängig wird ihr in den Schulberichten sowohl für die Zeit der Bescheidung im November 2013 wie auch aktuell bescheinigt, dass sie gut in die Klassengemeinschaft integriert sei. Sie habe dort Freunde gefunden, die sie auch bei ihren Problemen in der Mathematik unterstützten; sie habe Kontakt zu vielen Mitschülerinnen und lache gerne in den Pausen und außerhalb des Unterrichts. Insgesamt wirke sie sehr fröhlich und aufgeschlossen. Im Unterricht zeige sie sich eher introvertiert und arbeite eher gerne in Einzel- oder Partnerarbeit. Gegenüber Erwachsenen verhalte sie sich zurückhaltend, äußere sich aber bei Ansprach klar und durchaus selbstbewusst. Sie habe zu Beginn des Schuljahres anfänglich Probleme gehabt, sich an die neue Lerngruppe zu gewöhnen, sei aber jetzt voll akzeptiert und integriert. Sie pflege soziale Kontakte mit einigen Mitschülerinnen und zeige ein sozial angemessenes Verhalten. Sie sei sehr kooperativ, hilfsbereit und kommunikativ. Die Klägerin wird als offen und freundlich beschrieben. Von einer Schulphobie oder auch nur Rückzugstendenzen in Bezug auf den Schulbesuch kann nicht gesprochen werden. Wenn und soweit die Klägerin offenbar unter der Woche keine Sozialkontakte mit gleichaltrigen außerhalb des Schulbesuchs pflegt - die sachverständige Zeugin I. berichtete hier allerdings anderes -, so kann dennoch nicht von einem vollständigen Rückzug aus allen Sozialkontakten gesprochen werden. Die Klägerin geht allwöchentlich regelmäßig reiten und trifft dort mit Gleichaltrigen zusammen. Den Umstand, dass sie tagsüber unter der Woche zuhause bleibt dürfte sie mit einem Großteil jugendlicher Schüler gemein haben.

Zu verkennen ist indes nicht, dass die Klägerin jedenfalls in jüngerer Zeit offenbar immer größere Probleme damit hat, infolge ihrer Rechenschwäche nicht mit Geld umgehen zu können. Die Eltern der Klägerin berichteten in der mündlichen Verhandlung insoweit davon, dass die Klägerin überlege aus diesem Grund nicht an einer Klassenfahrt teilzunehmen. Unabhängig von der Frage, ob dieses Verhalten auch durch die Pubertät der Klägerin erklärt werden könnte, liegt darin nicht eine gravierende Beeinträchtigung im vom Gesetz geforderten Sinne. Eine Teilhabegefährdung vermag das Gericht hierin für den Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung jedoch nicht zu erkennen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.