VG Berlin, Beschluss vom 09.02.2015 - 11 L 590.14
Fundstelle
openJur 2015, 5402
  • Rkr:

Auch nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem kommt den Maßnahmen der ersten und zweiten Stufe eine Warnfunktion zu, so dass der Punktestand zum Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach dem Tattagsprinzip zu ermitteln ist. Der gegenteilige Wille des Gesetzgebers hat im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden.

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 3. November 2014 gegen den Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 23. Oktober 2014 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der wörtliche Antrag des Antragstellers,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Oktober 2014 hinsichtlich der angeordneten Entziehung der Fahrerlaubnis wiederherzustellen und hinsichtlich der Anordnung der Festsetzung eines Zwangsgeldes anzuordnen,

ist nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet.

Der Antrag ist nach § 80 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft, weil gemäß § 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die hier streitgegenständliche Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG keine aufschiebende Wirkung haben.

Der Antrag ist begründet, weil das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides überwiegt. In Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigenständige Ermessensentscheidung auf der Grundlage einer summarischen Sachprüfung. Die gerichtliche Entscheidung hat sich im Wesentlichen an den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren zu orientieren. Hat er – wie hier – mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg, ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.

Nach der – im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen – summarischen Prüfung wird der Widerspruch des Antragstellers Erfolg haben, weil die Entziehung seiner Fahrerlaubnis rechtswidrig ist und ihn in seinen Rechten verletzt. Gleiches gilt für die Aufforderung, seinen Führerschein binnen fünf Tagen nach Zustellung des Bescheides vorzulegen.

Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG ist zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Wann eine fehlende Eignung aufgrund wiederholter Verstöße gegen die die Sicherheit des Straßenverkehrs betreffenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften vorliegt, wird im Grundsatz durch das Fahreignungs-Bewertungssystem in § 4 StVG (sog. „Punktsystem“) geregelt. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ist ein Fahrerlaubnisinhaber zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet, wenn er wegen verkehrsrechtlicher Auffälligkeiten unter Anwendung des Fahreignungs-Bewertungssystems in der Summe acht oder mehr Punkte angesammelt hat. Dies ist hier bei einer reinen Addition der Verkehrsverstöße unter Anwendung des Punktsystems der Fall, da er mit dem am 6. Mai 2014 begangenen Verkehrsverstoß insgesamt sechs Punkte und durch den bereits am 1. August 2013 begangenen, aber erst am 10. September 2014 im Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstoß insgesamt acht Punkte im Rahmen des Punktsystems angesammelt hatte.

Der Maßnahmekatalog des § 4 Abs. 5 StVG ist jedoch nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden. Das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten hat den Antragsteller mit Bescheid vom 25. Juli 2012 zwar ordnungsgemäß gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a.F. verwarnt, nachdem er nach dem bis zum 1. Mai 2014 gültigen Punktsystem neun Punkte im Verkehrsregister angesammelt hatte. Damit hatte er nach der Übergangsregelung in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG mit Inkrafttreten des StVG n. F. am 1. Mai 2014 bereits die erste Stufe des Maßnahmekatalogs nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG (Ermahnung) erreicht, die gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zugrunde zu legen ist. Der Antragsgegner hat jedoch verkannt, dass im vorliegenden Fall eine Rückstufung der Punktezahl von acht auf sieben Punkte gemäß § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG geboten gewesen wäre, weil die zweite Stufe des Maßnahmekatalogs (Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) noch nicht ordnungsgemäß ergriffen worden ist. Nach dieser Vorschrift verringert sich der Punktestand auf sieben Punkte, wenn ein Fahrerlaubnisinhaber acht Punkte nach dem Punktsystem erreicht oder überschreitet, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde (zuvor) eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG ergriffen hat. So liegt der Fall hier, denn der Antragsteller hat eine Verwarnung wegen des Erreichens des Punktestandes von fünf bis sieben Punkten gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG erst mit Bescheid des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten vom 26. August 2014 erhalten. Den zuletzt im Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstoß hat er jedoch nach dem hier anzuwendenden Tattagsprinzip, nach dem auf das Datum der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit abzustellen ist (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG), bereits am 1. August 2013 und damit zu einem Zeitpunkt begangen, bevor ihn die Verwarnung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG erreicht hat.

Nach der Rechtsprechung zur bis zum 1. Mai 2014 gültigen Fassung des Straßenverkehrsgesetzes konnte damit der Sinn und Zweck des Mehrfachtäterpunktsystems nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StVG, der sicherstellen soll, dass ein Fahrerlaubnisinhaber alle Maßnahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems stufenweise durchlaufen muss, mit den Maßnahmen stufenweise gewarnt wird und die Möglichkeit der Verhaltensänderung erhält, bevor ihm die Fahrerlaubnis entzogen werden kann, nicht greifen. Daher war zur Ermittlung des Punktestandes auf das Tattagsprinzip, nach dem auf das Datum der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit abzustellen ist (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG), zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – BVerwG 3 C 3.07 – juris, Rdnr. 33; Janker in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, Rdnr. 35 zu § 4 StVG). Dieser Grundsatz ist auch auf die ab 1. Mai 2014 gültige Fassung des Straßenverkehrsgesetzes anzuwenden (VG Berlin, Beschluss vom 2. Dezember 2014 – VG 11 L 463.14 – juris; VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 16. Dezember 2014 – 2 L 703/14 – juris).

Daran ändert auch nichts der Umstand, dass in der ab 5. Dezember 2014 gültigen Fassung des Straßenverkehrsgesetzes § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG eingefügt wurde. Danach erhöhen Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung des Punktestandes wegen einer verspätet ergriffenen Maßnahme begangen worden sind und von denen die Fahrerlaubnisbehörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach der Verringerung ergebenden Punktestand. Damit ist der Gesetzgeber zwar in dem – hier nicht einschlägigen – Sonderfall der Punktereduktion vom Tattagsprinzip abgewichen und lässt danach eine Entziehung der Fahrerlaubnis auch dann zu, wenn sämtliche Verkehrsverstöße vor Zugang der Verwarnung begangen wurden. In der explizit geregelten Konstellation misst demnach der Gesetzgeber den Maßnahmen der ersten und zweiten Stufe keine Warnfunktion zu. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers soll jedenfalls mit der ab 5. Dezember 2014 gültigen Änderung eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zur Punkteberechnung und Warnfunktion der ersten und zweiten Stufe erreicht werden. Denn Fahrzeugführern, die aufgrund einer Anhäufung von Verkehrsverstößen sich als ungeeignet erwiesen haben, soll aus Gründen der Verkehrssicherheit das weitere Führen eines Kraftfahrzeuges zu untersagen sein (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 9). Bei der neu eingefügten Regelung des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG handelt es sich aber um einen nicht verallgemeinerungsfähigen Sonderfall. Einer Auslegung der Regelungen in § 4 Abs. 5 und 6 StVG zum Maßnahmekatalog im Sinne des Willens des Gesetzgebers steht entgegen, dass dieser in der gesetzlichen Regelung keinen Niederschlag gefunden hat. Vielmehr ist in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG explizit das Tattagsprinzip geregelt. Zudem ergibt die in § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG vorgeschriebene Punktereduktion bei verspäteter Ermahnung oder Verwarnung nur dann Sinn, wenn diesen Maßnahmen erzieherische Wirkung gegenüber dem betreffenden Fahrerlaubnisinhaber zukommen soll und ihm damit vor einer Entziehung nochmals die Chance eingeräumt werden soll, durch eine grundlegende Änderung des Fahrverhaltens die Entziehung seiner Fahrerlaubnis abzuwenden. Wenn demgegenüber – wie die Gesetzesbegründung ausführt – diese Maßnahmen in erster Linie Informationszwecken für den Betroffenen dienen würden, bliebe ungeklärt, weshalb Punktetäter allein aufgrund des verspäteten Ergreifens einer Maßnahme eine Punktereduktion erhalten sollten.

Die sonstigen in dem angefochtenen Bescheid getroffenen Nebenentscheidungen sind ebenfalls rechtswidrig. Insbesondere hat der Antragsgegner den Antragsteller zu Unrecht verpflichtet, seinen Führerschein abzuliefern. Diese Verpflichtung bestünde gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV nur dann, wenn die Entziehungsentscheidung rechtmäßig wäre, was hier nicht der Fall ist. Die darauf gerichtete Zwangsmittelandrohung begegnet aus denselben Gründen ebenfalls rechtlichen Bedenken.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf §§ 39 ff., 52 f. GKG, wobei im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Hälfte des Streitwerts für ein Klageverfahren anzusetzen ist, der 10.000,- Euro betragen würde (für die Fahrerlaubnis der Klassen A und C1E).