SG Köln, Beschluss vom 27.01.2015 - S 16 SB 1593/13
Fundstelle
openJur 2015, 5276
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte hat die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin voll zu tragen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Verteilung der außergerichtlichen Kosten im Rahmen einer Schwerbehindertenstreitigkeit.

Anerkannt war zu Gunsten der Klägerin mit Bescheid vom 13.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.08.2013 ein GdB von 40.

Im Rahmen ihrer am 27.09.2013 erhobenen Klage beantragte die Klägerin, zu ihren Gunsten "einen Grad der Behinderung von mindestens 50 %" anzuerkennen.

Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweiserhebung durch Gutachten lag bei der Klägerin ein GdB von 50 vor. Im Ergebnis haben die Beteiligten sich auf Vorschlag des Gerichts auf einen GdB von 50 geeinigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Akten Bezug genommen.

II.

Die Beklagte hat die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerseite voll zu tragen.

Vorliegend hat der Rechtsstreit erst auf Grundlage des Regelungsvorschlags des Gerichts vom 12.11.2014, dem beide Beteiligte zugestimmt haben, seine Erledigung gefunden. Den ursprünglichen Regelungsvorschlag der Beklagten vom 30.10.2014 hatte die Klägerin mit Schriftsatz vom 10.11.2014 zunächst abgelehnt. Die erst danach mit Klägerschriftsatz vom 12.11.2014 erfolgte Annahme des Beklagtenvorschlags ging damit ins Leere, ebenso wie die darin enthaltene Anerkennung der von der Beklagten zunächst vorgeschlagenen Kostenquote.

Maßgeblich ist im Ergebnis mithin nur der von beiden Beteiligten letztendlich angenommene gerichtliche Vorschlag, der unter Ziffer 2) eine Kostengrundentscheidung durch gesonderten Beschluss des Gerichts vorsieht. Bei dieser durch das Gericht zu treffenden Entscheidung ist die Kammer nicht an die Kostenvorstellungen der Beteiligten gebunden.

Es entspricht zur Überzeugung der Kammer der Billigkeit, der Beklagten die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in vollem Umfang aufzuerlegen.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 Abs. 1 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach entscheidet das Gericht durch Beschluss, wenn das Verfahren wie hier anders als durch Urteil beendet wird, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben.

Die Kostenentscheidung des Gerichts ist nach sachgemäßem Ermessen zu treffen. Zu berücksichtigen sind dabei alle Umstände des Einzelfalls. Neben dem Ausmaß des tatsächlichen oder mutmaßlichen Obsiegens kann auch von Bedeutung sein, ob einer oder mehrere Beteiligte anderen durch ihr prozessuales oder vorprozessuales Verhalten Veranlassung zur Klageerhebung gegeben haben (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 17.02.2004, Az.: L 16 B 103/03 KR).

Die erkennende Kammer teilt die von der Beklagten vertretene Auffassung zur kostenrechtlichen Beurteilung von Klageanträgen, die auf die Gewährung eines "Mindest-GdB" oder eines GdB "höher als" gerichtet sind, ausdrücklich nicht.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist ein behinderter Mensch nach Anhebung des GdB auf den von ihm genannten Mindestwert nicht mehr beschwert (BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 7/94 -). Die Konstellation liege nicht anders als im Zivilrecht bei einem auf eine Mindestsumme gerichteten Antrag auf Schmerzensgeld. Dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung schließt sich die erkennende Kammer an. Ist der Kläger in dieser Sachverhaltskonstellation aber "nicht mehr beschwert", so kann dies nur bedeuten, dass er mit seinem Klagebegehren voll durchgedrungen ist. Somit fehlt es an einem auch nur teilweisen Unterliegen des Klägers. Zumindest unter dem Gesichtpunkt des Ausmaßes des tatsächlichen Obsiegens bzw. Unterliegens kann dem Kläger nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der hier streitigen Konstellation kein Kostenanteil auferlegt werden.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass auch im Zivilrecht eine bei Schmerzensgeldansprüchen ausnahmsweise zulässige unbezifferte Klage nicht dazu führen dürfe, dem Kläger das Kostenrisiko grundsätzlich abzunehmen (vgl. OLG München, Urteil vom 13.03.1984 - 5 U 3797/83 -). Der Kläger müsse - so das OLG München (a.a.O.) - wenigstens die ungefähre Größenordnung des geltend gemachten Anspruchs darlegen. Diese Voraussetzung ist vorliegend aber gegeben. Die Formulierung des hier in Rede stehenden Klageantrags bringt zweifelsfrei zum Ausdruck, worauf die Klageforderung als Minimum gerichtet ist.

Im Übrigen sind die von den Beteiligten gestellten Anträge grundsätzlich auszulegen, und das von den Beteiligten tatsächlich Gewollte ist in diesem Rahmen zu ermitteln.

Die von Beklagtenseite vertretene Rechtsauffassung, wonach auf die Gewährung eines höheren GdB oder eines Mindest-GdB gerichtete Klageanträge grundsätzlich auf die Gewährung eines Gesamt-GdB von 100 gerichtet seien, wird der Praxis und Lebenswirklichkeit des Schwerbehindertenrechts in aller Regel nicht gerecht. Von praktischer Bedeutung für die Antragsteller und Kläger im Bereich des Schwerbehindertenrechts sind zumeist nur bestimmte GdB-Stufen. So kann ab einem GdB von 30 durch die gleichzeitige Feststellung, dass die Behinderung zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hat, ein relevanter Einkommenssteuervorteil erreicht werden. Ebenso kann ab einem GdB von 30 die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz begründen. Als weiterer wichtiger GdB-Schritt dürfte unzweifelhaft ein Gesamt-GdB von 50 anzusehen sein, mit dem die Schwerbehinderteneigenschaft und mit dieser viele Vorteile im privaten und beruflichen Bereich verknüpft sind (vgl. zum Ganzen LSG Berlin, Urteil vom 29.10.2002 - L 13 SB 59/01 -).

Demgegenüber dürfte es für die meisten Antragsteller bzw. Kläger unerheblich sein, ob etwa über die Anerkennung der Schwerbehinderung hinaus ein tatsächlich vorhandener GdB von 60 oder 70 zugesprochen wird. Damit verbunden sind in der Regel allenfalls potentielle Steuervorteile, die sich aber bei vielen Klägern (z.B. Rentnern, Arbeitslosen, etc.) nicht auswirken und auch sonst nur marginal sind.

Im Rahmen der Auslegung des Klagebegehrens bei Anträgen, die auf einen "Mindest-GdB" oder einen GdB "höher als" gerichtet sind, werden die vorstehenden Aspekte nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich zu berücksichtigen sein.

Unerheblich ist zur Überzeugung des Gerichts in diesem Zusammenhang, dass es schon aus verfahrens- bzw. prozessökonomischen Gründen geboten sein dürfte, bei entsprechend überzeugenden Beweisergebnissen auch einen höheren als den ausdrücklich beantragten Mindest-GdB anzuerkennen.

Ob die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung ihre Rechtsauffassung überhaupt stützt, erscheint dem Gericht fraglich. Auch nach der Entscheidung des Bayerischen LSG vom 20.07.2011 (nicht 20.08.2011) - L 16 SB 141/08 - sind die jeweiligen Anträge der Beteiligten auszulegen. Im Rahmen des zitierten Beschlusses des SG Chemnitz vom 01.05.2013 - S 16 SB 151/13 RG - hat das dortige Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen, der dortige Kläger habe "im Übrigen wiederholt und sehr deutlich gemacht, dass er sehr wohl einen weit über 50 hinausgehenden GdB begehrt". Der Fall liegt also offensichtlich deutlich anders als die in der täglichen Praxis regelmäßig anzutreffende Standardkonstellation bei der entweder ein "Mindest-GdB" oder ein GdB "mehr/höher als" beantragt wird, es den Klägern tatsächlich aber um nichts anderes als um die Erlangung der Schwerbehinderteneigenschaft geht.

Der erkennenden Kammer ist bekannt, dass zumindest einzelne Kammern auch dieses Gerichts die hier streitige Kostenkonstellation anders beurteilen. Dies ist hinzunehmen. Abweichende Auslegungen derselben Norm durch verschiedene Gerichte - auch in Kostensachen - verletzen das Gleichbehandlungsgebot nicht. Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen selbst einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es wäre sogar dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte - auch die im Rechtszug übergeordneten - den gegenteiligen Standpunkt einnähmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich (BVerfG, Beschluss vom 03. November 1992 ? 1 BvR 1243/88 ?, BVerfGE 87, 273-282 sowie BVerfGE 78, 123 (126)).